Ungeregelte Rechtsräume
Saudi-Arabien: Vom Leben der Frauen im Land der Männer
Wie separiert man eigentlich Männer und Frauen, wenn es in der Gesellschaft, in jeder Familie doch beide Geschlechter gibt? Wenn alle, die eine Straße benutzen, im gleichen Geschäft einkaufen oder auf dieselbe Party eingeladen sind? Ich lerne von Sophia.
Sophia ist 36, Mutter, Ehefrau, Akademikerin. Jetzt steht sie vor mir, verhüllt in schwarzer Abaya und Niqab, ein schmaler Schlitz zwischen Brauen und Nasenbein ermöglicht den Augenkontakt. Sie lächelt, immerhin so viel ist zu sehen.
Wir sind im Neubau des so genannten Girls-Campus der King Saud University in Riad, und Sophia
erklärt, wie die Trennung der Geschlechterwelten hier gerade perfektioniert wird.
Oben sind die Wohnheime für Studentinnen: elegante Apartments, zwei Zimmer, Küche, Bad, keine kleinen Boxen wie in Europa oder den USA, wir sind in Saudi-Arabien. Gegenüber das Health-Center, mit Spa, Whirlpools und so weiter. Eingangshallen aus Marmor, die Medizinische Fakultät ist ausgestattet wie eine Schweizer Privatklinik, das Auditorium sieht aus wie die Festhalle für die Oscar-Verleihung. Wenn in diesen Tagen der Minister für Höhere Bildung, Prinz Faisal, zur Eröffnung das rote Band durchschneidet, werden kurz darauf die schwarzen Hüllen fallen.
Wie Raupen, die sich zu Schmetterlingen wandeln, schlüpfen die Mädchen dann aus den Abayas und schütteln ihr Haar zurecht, mit kunstvoll lackierten Fingernägeln. Unter dem Krähenkostüm tragen sie haut-enge Jeans, Absätze und, natürlich, jede Menge Make-up. Heißt: Die Luft ist rein, kein Mann in der Nähe.
„Die Männer befinden sich in der Unterwelt“, sagt Sophia. Wie eine Lehrerin zeigt sie an der Schautafel das ausgeklügelte System, das Moderne mit Fundamentalismus vereint. Das Areal der Frauen-Uni ist so großzügig angelegt, als sollte sich hier die gesamte saudi-arabische Regierung niederlassen können.
Und darunter befindet sich ebenso weitläufig ein Tunnelsystem mit Versorgungsschächten, Liefereingängen und Fahrbahnen für Golfcarts: das Männerreich.
Kochen, waschen, Bücher holen und bringen, die Klimaanlage bedienen, die Technologie des Hochschulkomplexes warten, das alles machen die Männer. Die meisten von ihnen sind gar keine Saudis, sondern kommen aus Bangladesch, Pakistan, den Philippinen und Indien; es sind Arbeiter aus aller Welt, die normalerweise gewöhnt sind, mit Frauen zu leben und zu arbeiten. Aber hier werden sie von ihnen abgeschottet.
Ich gebe den Damen rund um den Tisch die Hand, auch Sophia. Sie kichert, ich habe sie ohne Abaya nicht erkannt. Das schwarze Ganzkörperkleid macht die Frauen zu Neutren, verwechselbar.
Sophia ist eine herzliche Frau mit dunklen Locken und rot geschminktem Mund. Sie trägt eine gepunktete Bluse zum knielangen Rock. Wir wollen über das Leben der Frauen im Land der Männer sprechen.
Der alles verhüllende Gesichtsschleier gilt im Ausland als ultimatives Symbol für die Ungerechtigkeit der Weltenteilung: die Männer oben, die Frauen unten. Das ist richtig, oft. Aber nicht immer.
Manche Frauen sagen, die Abaya schütze sie sogar, etwa wenn sie sich inkognito als Oppositionelle in Gerichtsverhandlungen gegen Menschenrechtler schmuggeln.
Die Trennlinie der Ungerechtigkeit verläuft in Wahrheit unsichtbar, wie fast überall. Es sind nicht immer die Verbote, sondern ungeregelte Rechtsräume, die von Vätern (und Müttern), von religiösen Führern und Regenten willkürlich interpretiert werden, die eine freie Entfaltung hemmen.
„Wir wollen endlich Gesetze, die auch Frauen und Kinder besser schützen“, sagt eine stellvertretende Fakultätsleiterin. „Wir möchten das Recht auf eine gute Erziehung, auch für Mädchen.“ Eine promovierte Soziologin hebt die Hand und sagt: „Wir kämpfen um unseren Teil an der Macht!“
Schweigen. Andere sehen sie an. Nicht freundlich. Auch Frauen sind sich nicht immer einig, wie die Gesellschaft in Saudi-Arabien künftig -aussehen, wer über welche Räume herrschen soll. „Wir lassen unsere Männer glauben, dass sie die Chefs sind, dann können wir tun und lassen, was wir wollen“, kichert Sophia und durchbricht damit das Schweigen.
Es gibt Tausende alter Traditionen in Saudi-Arabien, Einschränkungen, Ungerechtigkeiten, aber fast ebenso viele Hintertüren: Eine promovierte Juristin beispielsweise, deren Anwaltslizenz im Königreich nicht anerkannt ist, beschäftigt in Riad inzwischen ein paar Dutzend Anwälte, erfolgreich operiert sie weltweit, trotz allem.
Unglückliche Frauen lassen sich scheiden, heiraten erneut, fast so häufig wie im Westen; Männer halten sich Mätressen. Man hört auch von Tanzpartys im konservativen Riad, von ausschweifenden Vergnügungen, bei denen jede Menge Alkohol fließt. Natürlich hinter Mauern.
Susanne Koelbl ist Auslandskorrespondentin des Spiegel. Mit Olaf Ihlau schrieb sie das Buch „Krieg am Hindukusch – Menschen und Mächte in Afghanistan“.
Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 128-129