Und sie bewegen sich doch
Deutschland ist zu mehr Veränderungen in der Außenpolitik bereit als oft gedacht
Deutschland hat gewählt. Das „Was“ hat dabei kaum eine Rolle gespielt; eine große Mehrheit der Deutschen hat schlicht auf Angela Merkel gesetzt. Wofür aber steht diese Kanzlerin, außer für sich selbst? Das fragt man sich auch anderswo in Europa – und dürfte von Berlins neuem Handlungsspielraum noch überrascht werden.
Diese Kanzlerin ist nach innen vor allem dann stark, wenn sie sich vom Bauchgefühl leiten lässt. Vertrauensmobilisierung in der Fläche war ihr Erfolgsrezept. Von außen betrachtet löst das eine Mischung aus Be- und Verwunderung aus: Bewunderung dafür, dass diese Kanzlerin ordentlich an Stimmen gewonnen hat, während Regierungen anderswo im Zuge der Krise gleich reihenweise abgewählt wurden. Verwunderung darüber, dass im Wahlkampf so wenig gestritten wurde über Rezepte zur Überwindung der offensichtlichen Probleme in der Euro-Zone und zum Krieg in Syrien. Zugegeben, „offensichtlich“ ist relativ. Für viele Deutsche sind die Euro-Krise und die Umbrüche in Europas arabischer Nachbarschaft bis jetzt abstrakte Themen, die so gar nicht zur Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation passen wollen. Anders formuliert ist der deutsche Durchschnittsbürger vermutlich ziemlich ahnungslos, welche Entscheidungen ihn – mal abgesehen von der Zukunft Griechenlands – in den nächsten Monaten in der Europapolitik erwarten. Bankenunion, Schuldenmechanismus, Haushaltsüberwachung, fiskalische Koordinierung, Investitionsprogramme – was heißt das eigentlich, so eine „echte Wirtschafts- und Währungsunion“? Ähnlich sieht es mit deutscher Außen- und Sicherheitspolitik aus: Welchen Beitrag soll Deutschland in Syrien leisten? Tendenziell sind das alles Themen, auf die der Deutsche im Grunde gut verzichten kann – weshalb Angela Merkel im Wahlkampf taktisch richtig entschieden und ihre potenziellen Wähler nicht in die Niederungen der Europa- und Außenpolitik geführt hat.
Was aber ist jetzt dazu von Berlin zu erwarten? Macht es einen Unterschied, ob der schwarzen Übermacht hier und da ein wenig Rot oder Grün beigemischt wird?
Grundsätzlich stehen für die künftige Bundesregierung zunächst zwei Fragen im Raum: die erste ist die Wahrnehmung vielerorts in Europa, dass Deutschland in der Euro-Krise vor allem deutsche Interessenpolitik betreibt. Krisenmanagement made in Germany diene dem deutschen Exportmodell und habe zu wenig die Bedürfnisse der anderen im Blick. Diese Frage ist nicht neu, aber sie ist bisher in Berlin nonchalant als absurd zurückgewiesen worden. Es bestünden doch nicht ernsthaft Zweifel am deutschen Bekenntnis zu Europa. Naja, offensichtlich aber schon – und wenn es nur daran liegt, dass Angela Merkel auch anderswo nicht erklärt, was sie in Deutschland bestenfalls oberflächlich behandelt. Wo will sie hin mit der Euro-Zone? Dass sich Deutschland hierzu sehr viel weniger als in der Vergangenheit erklärt, löst vielerorts Verwirrung aus. Will Berlin seine wahren Motive verschleiern? Dass eine deutsche Bundeskanzlerin eben keine Vision für Europa hat, die in das Schema vergangener Kanzler passt, macht es für Deutschlands Partner weiterhin schwierig, Berlin zu verstehen. In der angloamerikanischen Debatte wird inzwischen sogar darüber spekuliert, ob Deutschland nicht letztlich aus der Euro-Zone herausgewachsen sei. Ein deutscher Alleingang, die aufstrebenden Wirtschaftsmächte fest im Blick? Auf einmal erscheint auch dies als Option – ist nicht das Gestaltungsmächtekonzept der alten Bundesregierung die Blaupause für „Deutschland global“? Und wo bleibt dann im deutschen Denken noch Europa?
In Berlin mag man diese Zuspitzung absurd finden – aber eine Sensibilität für diese Debatte ist dringend angeraten. Denn in den vergangenen Jahren hat sich eine zweite Ratlosigkeit entwickelt, die sich langsam mit der Frage nach Deutschlands Verhältnis zu Europa überlappt. Diese Frage wird nicht nur in Europa-Kreisen, sondern auch in der sicherheitspolitischen Community diskutiert: Ist Berlin noch bereit, Sicherheit herzustellen, oder hat es sich zum schlichten Konsumenten von Sicherheit entwickelt, die andere mit ihren Ressourcen bereitstellen? Libyen, Mali, Syrien – die deutsche Zurückhaltung, sich auf militärische Optionen einzulassen, wird als Indiz dafür gewertet, dass Berlin sich weiter zurückziehe und so zum unberechenbaren Partner werde. Bei allem Verständnis für die deutsche Geschichte und die Befindlichkeiten vieler Deutschen – hätte nicht die schwarz-gelbe Regierung etwa die Reform der Bundeswehr als Anknüpfungspunkt für eine breitere öffentliche Debatte über die deutsche Rolle in der europäischen und internationalen Sicherheitspolitik nutzen müssen? Hätte sie nicht so den Weg bereiten können für einen notwendigen Einstellungswandel in der deutschen Bevölkerung?
Warum sollte sich die künftige Bundesregierung um diese beiden Grundsatzfragen kümmern, wenn sie doch selbst diese Wahrnehmung nicht teilt? Deutungsmuster wie diese sind machtvoll. Wenn sich diese beiden Deutungsmuster weiter überlappen und verfestigen, kann es für die künftige Bundesregierung – unabhängig von der eigenen Wahrnehmung ihrer Ziele und ihres Handelns – schnell ungemütlich werden. In Zukunft sind deutlich kritischere Nachfragen zu erwarten, vor allem wenn Deutschland wirtschaftlich weiter prosperiert und damit dauerhaft heraussticht aus der Riege der Eurozonenländer. Es kommt nicht gut an, wenn einer auf Dauer die anderen überrundet.
Diese Debattenstränge aufzufangen und Erklärungsangebote zu liefern, ist dabei nur der erste Schritt – letztlich muss die deutsche Antwort auf diese Fragen eine überzeugende Politik sein, die Zweifel an den deutschen Interessen ausräumt. Hier stehen in den kommenden Monaten Gelegenheiten zuhauf an. In Brüssel wird es um die Beschlüsse zu einer Bankenunion gehen, die diese Bezeichnung auch verdient. In den Krisenländern wartet man dringend auf Maßnahmen für Wachstumsimpulse, die eine andere Politik erfordern als die deutsche Regelpeitsche. Im Dezember steht der EU-Gipfel zur Bilanz der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik an. Syrien steht ohnehin auf der Agenda. Wird Berlin sich mit Initiativen zu Wort melden, die eine tatsächliche Bereitschaft erkennen lassen, sich in Zukunft wenn nötig auch militärisch stärker einzubringen?
Die Deutschen wollen den Wandel nicht und haben sich deshalb für das Altbewährte entschieden, so heißt es in diesen Tagen immer wieder. Stimmt das eigentlich? Vielleicht ist es doch komplizierter. In Deutschland hat man durchaus ein Gespür dafür, dass man in einer Welt im Wandel lebt – mit all ihren Chancen und Risiken. Weil die Deutschen spüren, dass um sie herum vieles im Fluss ist – die Krisenländer der Euro-Zone, die arabische Nachbarschaft und die Welt im Umbruch – haben sie auf Angela Merkel gesetzt. Ihr trauen sie zu, dass sie den Wandel schon managen wird, wenn er dann schließlich auch bei ihnen ankommt. Sollte dies tatsächlich die Grundstimmung in der deutschen Bevölkerung sein, dann wäre dies keine schlechte Ausgangslage für die neue Bundesregierung: Sie hätte deutlich mehr Handlungsspielraum, als das Wählersignal vom vergangenen Sonntag auf den ersten Blick vermittelt. Und damit könnte Berlin in den kommenden Monaten in der Euro- und Sicherheitspolitik neue Akzente setzen.
Almut Möller ist Leiterin des Alfred von Oppenheim-Zentrums für Europäische Zukunftsfragen im Forschungsinstitut der DGAP.