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01. Mai 2012

Anwalt der Globalisierung

Wenn Deutschland führen will, muss es Werte stärker vertreten

Die Forderung, Berlin solle „Leadership“ zeigen, war zuletzt allgegenwärtig. Um aus seiner prekären internationalen Lage herauszukommen, sollte Deutschland einen Führungsstil entwickeln, der seiner politischen Kultur entspricht: skeptisch gegenüber Militäreinsätzen, wohlwollend gegenüber dem Freihandel, zur Stabilität mahnend, ohne zu bevormunden.

Die Katastrophe der Nazi-Ära hat dazu geführt, dass Deutschland seinen Instinkt abgelegt hat, international eine Führungsrolle zu spielen. Stattdessen hat das Land nach 1945 seinen Ruf als „guter Mitbürger“ wiederhergestellt, indem es stets im Konzert mit anderen Staaten gehandelt und dabei nie eine dominante Rolle gesucht hat. Selbst innerhalb der Europäischen Union hat es Deutschland stets vorgezogen, in Form von gemeinsamen Initiativen vorzugehen – meist als Teil der deutsch-französischen Partnerschaft. Innerhalb der NATO hat Deutschland gern die strategische Führung durch die Vereinigten Staaten akzeptiert.

Doch heute sieht sich Deutschland immer öfter Forderungen ausgesetzt, dass es stärker als „Leader“ agieren solle, sowohl innerhalb Europas als auch auf globaler Ebene. Diese Forderung ist einem Land, dem allein schon die Vorstellung von „internationaler Führung“ zutiefst suspekt ist, äußerst unangenehm. Deutsche Bürger und Wähler scheinen zudem psychologisch auf eine neue internationale Rolle ihres Landes schlecht vorbereitet; vielleicht nicht ohne Grund hegen sie den Verdacht, dass „Führung“ bedeute, einen Preis zu bezahlen, entweder in Form von Geld oder von Soldatenleben.

Deutschland als „power house“ Europas

Die derzeitige Forderung nach deutscher Führung ist Konsequenz einer ­Mischung aus politischen und wirtschaftlichen Veränderungen. Die Stärke der deutschen Wirtschaft und die finanzielle Handlungsfähigkeit der Bundesregierung sorgen natürlich dafür, dass der Rest der Welt Deutschland als europäisches Kraftzentrum sieht. Unter normalen Umständen mag sich daraus noch nicht einmal eine besonders anspruchsvolle Rolle ableiten – doch angesichts einer Europäischen Union, die in einer tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise steckt, scheinen die Forderungen nach deutscher Führung auf einmal dringend.

Gleichzeitig wird immer öfter, insbesondere in Washington, nach deutscher Führung auf globaler Ebene verlangt. Darin spiegelt sich der Wandel im strategischen und weltwirtschaftlichen Umfeld seit dem Ende des Kalten Krieges wider. Als der Westen dem Sowjetblock gegenüberstand, war Deutschland umkämpftes Gebiet – und die Verteidigung Westdeutschlands zentrale Aufgabe der NATO und der Vereinigten Staaten, die versprochen hatten, bei der Verteidigung der Freiheit „jede Bürde“ zu tragen. Doch heutzutage liegen die zentralen Herausforderungen in Sachen Sicherheit – zumindest aus Washingtoner Sicht – jenseits von Europa. Die USA, die zu Hause unter immer stärkeren Haushaltszwängen stehen, erwarten von ihren europäischen Verbündeten Hilfe in der Rolle als Weltpolizist.

Zuweilen war das eher eine Forderung nach Gefolgschaft denn nach Führung: Den Europäern wurde eine Nebenrolle in den strategischen Konzepten und Kampagnen zugewiesen, die in Washington entworfen wurden. Aber in dem Maße, in dem amerikanische Ressourcen immer mehr strapaziert werden, sind die Amerikaner empfänglicher dafür, europäische Nationen in echten Führungsrollen zu sehen, wenn es um die globale Sicherheit geht – von Bosnien bis Libyen. Ob in der Rolle als Führer oder Gefolgschaft: Die Forderungen an Deutschland, mehr zur internationalen Sicherheit beizutragen, nehmen zu.

Bislang sind die Amerikaner enttäuscht von dem, was die EU im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen bisher geleistet haben. Die Einsatz-„Vorbehalte“ oder „caveats“, die festlegen, was deutsche Soldaten in Afghanistan tun dürfen und was nicht, wurden zum berüchtigten Symbol deutscher Zögerlichkeit, sich den neuen und schwierigen Sicherheitsherausforderungen zu stellen. Im Pentagon erzählte mir kürzlich jemand aus der politischen Führungsebene von einem Gespräch mit einem deutschen Amtskollegen: „Ich sagte: ‚Die Welt steht in Flammen: Wo werdet ihr helfen?‘ Und die Antwort war ein schlichtes Schulterzucken.“ In Berlin erklärte mir ein Mitglied der Führungsspitze des Auswärtigen Amtes, dass Deutschland stets viel zurückhaltender sein werde als seine NATO-Verbündeten, wenn es um den Einsatz militärischer Mittel gehe: „Wir ticken heute einfach anders.“

Im Ergebnis findet sich Deutschland oft international in einer unangenehmen Situation. Die Euro-Krise und Forderungen nach diversen Rettungsschirmen für die südeuropäischen Länder haben zu einer deutlichen Verschlechterung der Beziehungen zwischen Deutschland und Ländern wie Griechenland, Italien, Spanien und Irland geführt. Deutschland wird einerseits vorgeworfen, zu langsam zu handeln, um der Krise zu begegnen, und andererseits, zu arrogant und aggressiv vorzugehen, insbesondere bei der Forderung nach Wirtschaftsreformen in Südeuropa. Das daraus resultierende Anwachsen antideutscher Stimmungen, zumindest was die jeweiligen öffentlichen Meinungen angeht, ist kaum zu übersehen. Zeitungen in Italien haben in ihrer Kritik an Deutschland an Auschwitz erinnert, griechische Blätter haben Bundeskanzlerin Angela Merkel in Nazi-Uniform gezeigt. Es liegt eine schmerzliche Ironie darin, dass es gerade solche schrecklichen Erinnerungen waren, die das europäische Einigungsprojekt überwinden sollte.

Auf globaler Ebene hat der Druck auf Deutschland zwar weniger schonungslose oder eindringliche Formen angenommen, ist aber gleichwohl deutlich spürbar. Als Deutschland seine Zustimmung zu der UN-Resolution verweigerte, die eine militärische Intervention in Libyen erlaubte – eine Intervention, die von Deutschlands engsten Verbündeten angeführt wurde, darunter die USA, Großbritannien und Frankreich –, wurde die deutsche Haltung von den entscheidenden NATO-Partnern schlecht aufgenommen, die sie als weiteres Zeichen für Deutschlands Zögern interpretierten, seiner globaler Verantwortung gerecht zu werden.

Ein Führungstil, der Deutschlands politischer Kultur entspricht

Wie also sollte Deutschland auf diesen neuen Druck reagieren? Der Standardratschlag, der dazu aus Washington und London kommt, lautet, dass Deutschland „Verantwortung übernehmen“ solle. Unterm Strich soll das wohl bedeuten, dass Deutschland bei seiner finanziellen Stützung der Euro-Zone großzügiger sein und mehr tun solle, um die europäische Volkswirtschaft anzukurbeln, und gleichzeitig mehr zu globaler Sicherheit beitragen solle.

Stattdessen sollte Deutschland lieber versuchen, einen internationalen Führungsstil zu finden, der seiner nationalen politischen Kultur entspricht. Dieser sollte widerspiegeln, dass es quer durch die politischen Parteien Präferenzen gibt, die auch in der öffentlichen Meinung tief ­verwurzelt sind – und diese sollten in der Außenpolitik ihren Ausdruck finden. Was die internationale Wirtschaftspolitik angeht, bleibt Deutschland seiner „Stabilitätskultur“ verpflichtet; Inflation und exzessive Verschuldung werden kritisch gesehen. Wie Wähler überall auf der Welt haben auch die deutschen Wähler etwas dagegen, zu viele Steuergelder für die Unterstützung der Lebensstandards anderer Völker auszugeben. Was die internationale Sicherheit angeht, wird Deutschland weiterhin „anders ­ticken“. Allerdings sollte die Skepsis des Landes gegenüber dem Einsatz militärischer Mittel es nicht davon abhalten, auf der Weltbühne eine konstruktive Rolle zu spielen.

Sowohl in Europa als auch global sollte der Schlüssel zum neuen Stil deutscher Führung in der Unterscheidung zwischen Prinzip und Egoismus liegen; zwischen dem legitimen Ausdruck einer abweichenden Haltung und dem illegitimen Wunsch, auf Kosten der Bemühungen anderer Profite zu schlagen. Außerdem sollte Deutschland versuchen, bessere Wege zu finden, um Nationalcharakter und nationalen Stärken auf internationaler Ebene Ausdruck zu verleihen. Ein offensichtlicher Weg bestünde darin, mit klarer Stimme die Globalisierung zu verteidigen, zu einer Zeit, in der diese unter Dauerbeschuss aus anderen Teilen der entwickelten Welt steht.

Die Unterscheidung zwischen Prinzip und Egoismus ist ein nützlicher Denkansatz, wie Deutschland auf die Krise der EU reagieren sollte. Es ist vollkommen akzeptabel, dass Deutschland die Interessen seiner Steuerzahler verteidigt – tatsächlich ist jede demokratisch gewählte Regierung mehr oder weniger gezwungen, das zu tun, um nicht an der Wahlurne abgestraft zu werden. Es ist auch nützlich, Überzeugungen hochzuhalten, die Deutschlands Geschichte und Stabilitätskultur entspringen. Deutschlands Insistieren darauf, dass strukturelle und Arbeitsmarktreformen der Schlüssel zur Wiederherstellung des wirtschaftlichen Wohles Südeuropas sind, ist ein wichtiger Beitrag zur Debatte – und entspricht zudem den Ansichten vieler Wirtschaftsliberaler in Südeuropa.

Die auf Prinzipien gründenden Antworten sind nur dann inakzeptabel, wenn sie mit dem arroganten Wegwischen der Sorgen anderer und der Stereotypisierung des „faulen Südländers“ einhergehen oder wenn sie bewusst verkennen, dass Deutschland als mächtigste Volkswirtschaft der Euro-Zone Verantwortlichkeiten hat, die weit über die nationalen Grenzen hinausgehen.

Eine behutsame Politik, die einen Aufstand deutscher Wähler vermeidet

An diesen Maßstäben gemessen hat Kanzlerin Merkel alles in allem wohl richtig gehandelt – auch in ihrem vorsichtigen, schrittweisen Ansatz, der ihr aus Washington und aus Teilen Europas einige Kritik eingebracht hat. Tatsächlich hat die Regierung Merkel über 200 Milliarden Euro für Europas diverse Rettungsschirme bereitgestellt – und der Europäischen Zentralbank Raum gegeben, um Geld in das europäische Bankensystem zu pumpen. Aber Frau Merkel hat diese Politik so behutsam verfolgt, dass sie bislang einen Aufstand der deutschen Wähler oder einen Rückschlag vor dem Bundesverfassungsgericht vermieden hat. In dieser Hinsicht ist sie politisch weitaus erfolgreicher gewesen als die Regierungen anderer Geberländer wie beispielsweise die Niederlande oder Finnland, wo als Antwort auf die Euro-Krise starke antieuropäische Parteien aufgekommen sind.

Was die Kritiker der Kanzlerin oft übersehen, ist, dass ihre erste Verantwortung, sowohl gegenüber Deutschland als auch Europa, im Erhalt wirtschaftlicher und politischer Stabilität in Deutschland selbst liegt. Ein Deutschland, dessen eigene Staatsfinanzen zu Fragen Anlass gäben, könnte nicht länger Anker der europäischen Volkswirtschaft sein. Und der Aufstieg einer nationalistischen, rechtsgerichteten Partei in Deutschland – ähnlich wie der der „freiheitlichen Parteien“ in den Niederlanden oder Österreich – würde Schockwellen rund um die Welt senden.

Die Gefahren eines Führungsstils à la Kohl

Deutsche Politiker müssen im Kontext der demokratischen Institutionen ihres Landes und der heimischen öffentlichen Meinung handeln. Deshalb können sie nicht immer „Leadership“ in der Art und Weise ausüben, die ihren westlichen Verbündeten angemessen erscheint. Diejenigen, die sich nach den Zeiten von Bundeskanzler Helmut Kohl zurücksehnen – mit dem Hinweis, dass Kohl fähig war, außenpolitische Entscheidungen zu treffen, die daheim höchst unpopulär waren –, sollten bedenken, welche Gefahren in diesem Führungsstil liegen. Viele Probleme, die den Euro heute plagen, sind genau darauf zurückzuführen, dass Kohl bereit war, mit der Schaffung der europäischen Gemeinschaftswährung vorzupreschen – ungeachtet deutlicher Bedenken innerhalb der deutschen Bevölkerung, die D-Mark aufzugeben. Das führte dazu, dass der Euro ohne die Legitimität begründet wurde, die eine klare demokratische Entscheidung für die Einführung der Gemeinschaftswährung mit sich gebracht hätte. Die Bundeskanzlerin und ihre Regierungsmitglieder müssen heute mit den Konsequenzen solch „mutiger“ Führung zurechtkommen – in Form eines schlecht funktionierenden Euros und einer deutschen Öffentlichkeit, die gegenüber weiteren Akten wirtschaftlicher Selbstopferungen im Namen „Europas“ zutiefst skeptisch eingestellt ist.

Es ist möglich, dass die deutsche Regierung und ihre europäischen Partner selbst unter diesen Zwängen einen Weg finden werden, den Euro zu stabilisieren – und zugleich einen vorwärts gewandten politischen Weg für Europa. Es ist aber ebenso möglich, dass die Kombination aus gewaltigen Schulden, langsamem Wachstum und den politischen Schwierigkeiten, eine europaweite Einigung auf strengere Fiskalregeln herbeizuführen, Europa erneut in die Krise stürzen. Sollte der Euro auseinanderbrechen, wäre deutsche Führung mehr denn je gefragt. Dann bestünde Deutschlands Aufgabe im „Wiederaufbau Europas“: in die Wahrung der alten Prinzipien friedlicher Zusammenarbeit und wirtschaftlicher Offenheit in einer neuen, gefährlicheren Umgebung. Diese Herausforderung, falls sie sich überhaupt stellt, liegt allerdings in einer unvorhersehbaren Zukunft. Aber auch dann bestünde die Aufgabe darin, die deutsche Außenpolitik auf einem schlüssigen Bündel liberaler Prinzipien aufzubauen, angewandt auf neue Umstände.

Die Größe der Anforderungen, die an Deutschland im europäischen Kontext gestellt werden, werden es umso schwerer machen, allzu viel Energie darauf zu verwenden,  eine globale Rolle zu spielen. Wenn Deutschland Glück hat, wird das Ende des Krieges in Afghanistan der Periode ein Ende setzen, in der Deutschlands „Verantwortung“ am Willen des Landes gemessen wurde, Streitkräfte für Friedenseinsätze bereitzustellen.

Prinzipien statt Indifferenz

Trotzdem wird Deutschland danach gefragt werden, inwieweit es bereit ist, „westliche Werte“ und die weiter gefassten westlichen Interessen auf der Weltbühne zu verteidigen. Es ist wahrscheinlich, dass Deutschland weiterhin weniger als andere gewillt sein wird, militärische Lösungen für eine Reihe globaler Probleme zu erwägen. Diese deutsche Haltung kann Akzeptanz finden, ja sogar knurrigen Respekt. Aber das gilt nur, wenn Deutschland deutlich machen kann, dass seine nationalen Präferenzen auf Prinzipien beruhen – und nicht etwa einer Gleichgültigkeit gegenüber Menschenrechtsverletzungen geschuldet ist oder dem zynischen Wunsch, seine eigenen Handelsinteressen auf Kosten anderer Mitglieder der westlichen Allianz zu fördern.

Wenn Deutschland sich entschließt, eine Haltung einzunehmen, die von derjenigen seiner wichtigsten westlichen Verbündeten abweicht, wird es von zentraler Bedeutung sein, dass es diese Entscheidung unter Verweis auf die gemeinsamen liberalen Werte begründet – und diesen Worten dann auch Taten folgen lässt. Zu oft ist dies in der Vergangenheit nicht der Fall gewesen. Die Entscheidung, sich bei der Libyen-Resolution der UN zu enthalten, wirkte fatal – auch weil Deutschland keinen Alternativvorschlag hatte, wie man ein Massaker in Bengasi verhindern könnte. Die Tatsache, dass sich Deutschland auf der gleichen Seite wie Russland und China wiederfand, tat ihr Übriges. Im Ergebnis sah die Haltung, die in der Skepsis gegenüber den Konsequenzen einer ausländischen militärischen Intervention gründete, für manche Außenseiter wie Gleichgültigkeit gegenüber Menschenrechtsverletzungen aus. Die deutsche Russland-Politik, insbesondere unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, war und ist ebenfalls vor Vorwürfen nicht gefeit, dass sie Menschenrechtsbedenken und die Ängste der baltischen Nachbarn kommerziellen Interessen unterordnet. Um solche Probleme zukünftig zu vermeiden, ist es wichtig für Deutschland, bei Fragen von Menschenrechten und Demokratie mit klarer Stimme zu sprechen – selbst in Ländern, wo wichtige Wirtschaftsinteressen auf dem Spiel stehen, wie beispielsweise in Russland und China. Dies nicht zu tun, könnte das Misstrauen verstärken, dass Deutschland sich auf Kosten seiner westlichen Verbündeten wie ein „Trittbrettfahrer“ verhält, und dass seine Außenpolitik amoralisch ist.

Deutschland kann zudem seiner Identität als große Handels- und Wirtschaftsnation in positiver und konstruktiver Weise Ausdruck verleihen. Infolge der globalen Finanzkrise 2008 sind protektionistische Ansichten in wichtigen westlichen Nationen auf dem Vormarsch, beispielsweise in Frankreich und in den USA. Die Meinung, Globalisierung sei ein Nullsummenspiel, gewinnt immer mehr an Bedeutung.1 Insbesondere der Aufstieg Chinas wird immer stärker als politisch und wirtschaftlich schädlich für den Westen gesehen. Doch ein Rückzug in den Protektionismus würde dem globalen Handelssystem und der fragilen Weltwirtschaft einen schweren Schlag versetzen.

Eine klare Positionierung gegen Protektionismus

Als fortschrittliche Industrienation, die in einer globalisierten Welt weiterhin prosperiert – und die ein großer Exporteur in die Märkte der Schwellenländer ist –, ist Deutschland in einer idealen Lage, erster Anwalt der Globalisierung in der westlichen Welt zu werden. Tatsächlich hat Deutschland bereits eine lobenswerte Bereitschaft zu einer abweichenden Haltung in internationalen Handelsfragen an den Tag gelegt, selbst gegenüber seinem engsten Verbündeten Frankreich. So hat sich Deutschland gegen neue EU-Vorschriften bei der Vergabe öffentlicher Aufträge gewandt, die europäische Bewerber bevorzugt hätten und auf eine „Kaufen Sie europäisch“-Politik hinausgelaufen wären, wie sie Frankreichs Präsident ­Nicolas Sarkozy vorgeschlagen hat.

Mit ihrer klaren Positionierung gegen Protektionismus hat die Regierung Merkel gezeigt, dass ein Deutschland, das „Verantwortung übernimmt“, nicht das Gleiche sein muss wie ein Land, das sich immer den Meinungen seiner Verbündeten anschließt. Tatsachlich beinhaltet „Führung“ qua definitionem von Zeit zu Zeit eine eigene Linie. Obwohl Deutschland diesen Prozess als unangenehm empfunden hat, kann es einen speziellen und nützlichen Stil deutscher Außenpolitik entwickeln – vorausgesetzt, die Politik Berlins basiert auf einem klaren und nachvollziehbaren Kern an liberalen Prinzipien. Ein Deutschland, das sich einfach nach innen wendet und es ablehnt, sich mit den großen globalen Themen zu befassen, würde zu Recht Kritik und Unverständnis seiner Verbündeten ernten. Ein Deutschland aber, das im Gegensatz dazu die wirtschaftlichen Interessen und Ansichten seiner Bürger verteidigt – wie es alle demokratischen Nationen müssen – und dabei den liberalen internationalen Prinzipien verpflichtet bleibt, wird an Ansehen gewinnen.

GIDEON RACHMAN ist außenpolitischer Chefkommentator der Financial Times.

  • 1Vgl. dazu Gideon Rachman: Nullsummenwelt. Das Ende des Optimismus und die neue globale Ordnung, London/Berlin 2012
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2012, S. 14-20

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