UN-engagiertes Amerika?
Washington denkt unverblümt über Alternativen zu den Vereinten Nationen nach
Zwei zentrale Fragen beschäftigen politische Beobachter
in Europa: Führen das außen-politische Debakel im Irak und die zunehmende
innenpolitische Kritik in den USA zu einer grundlegenden Neubewertung des
internationalen Engagements der Weltmacht? In welcher Form wird Amerika künftig global agieren? Spielen die
Vereinten Nationen eine Rolle in der zu erwartenden amerikanischen
Außenpolitik?
Die außenpolitischen Einstellungen in den USA haben sich in zweifacher Hinsicht verändert: Der Anteil der Amerikaner, die meinen, dass sich die USA international insgesamt weniger engagieren und sich mehr um die Probleme im eigenen Land kümmern sollten, hatte im Oktober 2005 mit 42 Prozent bereits die bisherige Post-Vietnam-Höchstmarke (1976: 41 Prozent) überschritten1 und scheint sich auf diesem Niveau zu stabilisieren (43 Prozent im April 2006).2 Dieser „isolationistische Reflex“, wie ihn die Herausgeber der „Pew/Council on Foreign Relations“-Studie nennen, ist vor allem in den Reihen der Demokraten ausgeprägt.
Zudem haben im schrumpfenden Lager der „Internationalisten“ die multilaterale Kooperationsbereitschaft und die Wertschätzung der Vereinten Nationen abgenommen – sowohl in der Bevölkerung als auch bei der politischen Elite. Analysen verschiedener Umfrageergebnisse (Pew, Gallup, PIPA und Chicago Council on Foreign Relations) verdeutlichen, dass es zwar „in den letzten Jahrzehnten einen beständig guten öffentlichen Rückhalt“ für die Vereinten Nationen gab. Doch die kontroverse Debatte über die Haltung der UN zum Irak-Krieg sowie der Öl-für-Lebensmittel-Skandal ließen die öffentliche Zustimmung in den USA „auf den seit 40 Jahren tiefsten Punkt“ sinken.3
Das Leitbild amerikanischer Außenpolitik bewegte sich im Laufe ihrer Geschichte auf einem Kontinuum zwischen Absonderung von der Welt und missionarischer Weltverbesserung. Der amerikanische „Exzeptionalismus“ manifestierte sich demnach in unterschiedlicher Weise: entweder, indem die beinahe auserwählte („almost chosen“, Abraham Lincoln) Nation, die „citty upon a hill“ (so der Puritanische Pionier John Winthrop) selbstgenügsam der Welt als leuchtendes Vorbild diente oder indem sie die Welt aktiv verändern wollte, sei es mit diplomatischen oder militärischen Mitteln, durch multilaterales oder unilaterales Vorgehen. Das relative Kräfteverhältnis der außenpolitischen Grundorientierungen in den USA verändert sich im Laufe der Zeit. Mit Hilfe von zwei Variablen (mit jeweils zwei Ausprägungen) kann man eine Typologie erstellen, um die Bandbreite der Positionen im außenpolitischen Diskurs zu skizzieren (vgl. S. 41).
Demnach gibt es zwei idealtypische Grundhaltungen: eine internationalistisch orientierte und eine nach innen gerichtete. Diese beiden Grundeinstellungen treten jeweils in zwei Varianten auf: einer konservativen und einer liberalen. Das „nationale Interesse“ ist eine zentrale Kategorie der verschiedenen Grundhaltungen; es wird jedoch aus den verschiedenen Perspektiven jeweils unterschiedlich interpretiert. In der politischen Debatte versuchen die wettstreitenden Denkschulen die Deutungshoheit über diesen unspezifischen Begriff zu gewinnen, um damit auch ihre spezifischen Interessen durchzusetzen.
So genannte „nationale Interessen“ sind in einer Demokratie nicht a priori gegeben oder evident, sondern das jeweilige Ergebnis eines fortlaufenden politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses. „Es ist die Meinung nach öffentlicher Diskussion und eingehender Beratung.“5 Meinungen und Ideen von Experten in Think-Tanks, Universitäten und den Medien tragen in den USA wesentlich zur diskursiven Herausbildung „nationaler Interessen“ bei: Experten und Meinungsführer können mitbestimmen, welche Themen von nationalem Interesse sein sollen (agenda setting). Sie liefern aber auch Begriffe, Konzepte, Ideen, also Vorstellungsinhalte, und geben damit den Rahmen des politisch Vorstellbaren und Möglichen vor (agenda framing).
Die Vereinten Nationen und ihre Reform sind zum politisch relevanten, ja akuten „nationalen Sicherheitsthema“ der USA geworden. Washington will eine „nachhaltige Reformrevolution“ der UN in Gang setzen. Die Finanzierung soll künftig stärker auf freiwilliger Basis erfolgen. Die UN sollen so dazu gebracht werden, ihre Transparenz zu erhöhen und ihrer Rechenschaftspflicht verstärkt nachzukommen. Durch regelmäßige Programmevaluierungen könnten Einsparungen erzielt und die insgesamt knapperen Ressourcen den von den USA als nützlich angesehenen Aufgaben zugewendet werden.
Sollten sich die UN nicht zur Reform bewegen lassen und künftig dem Interesse der USA zuwiderhandeln, können diese ihre Ziele auch über andere multilaterale Mechanismen oder notfalls auch unilateral verfolgen. Gemäß ihres Kosten-Nutzen-Kalküls könnte die US-Regierung auf dem Markt multilateraler Dienstleistungen bei anderen Anbietern wie der Welthandelsorganisa-tion (WTO) oder der NATO nachfragen, aber auch neue Ad-hoc-Koalitionen schmieden. Diese vormals neokonservativen Vordenkern zugeschriebene Position wird zusehends zur Hauptdenkrichtung in Washington.
Alternativen zu den Vereinten Nationen
Experten und politische Akteure quer durch die ideologischen und politischen Lager erwägen bereits Alternativkonzepte, sollten sich die UN als reformunfähig erweisen. Ob diese Ideen realistisch sind, sei dahingestellt. Immerhin sind sie aber Indizien dafür, dass die amtierende Regierung im eigenen Land nur mit verhaltener Kritik und mit wenig Widerspruch im eigenen politischen Lager zu rechnen hat, sollte sie damit drohen, die Nichteinlösung amerikanischer Reformforderungen negativ zu sanktionieren – zumal sie auch um die legislative Unterstützung der Abgeordneten und Senatoren im Kongress weiß. Folgendes wird in der US-Debatte für den Fall vorgeschlagen, dass die UN nicht in einer Weise reformiert werden, die amerikanischen Forderungen entspricht:
1. Präferenz für andere internationale Organisationen und Marginalisierung der UN. Selbst internationalistisch und durchaus multilateral gesinnte Strategen wie der Präsident des renommierten Council on Foreign Relations Richard Haass hegen große Skepsis gegenüber den Vereinten Nationen. Nach Auffassung des ehemaligen Planungschefs im State Department unter Außenminister Powell ist das Grundproblem der Vereinten Nationen weniger ein organisatorisches als vielmehr ein politisches: Unter den Einzelstaaten gibt es keinen Konsens über die Frage des grundlegenden Ordnungsprinzips internationaler Beziehungen. Dementsprechend erwartet Haass auch keine wesentlichen Reformen der Weltorganisation und plädiert dafür, anderen Institutionen wie der WTO mehr Aufmerksamkeit zu schenken.6 Auch der republikanische Vordenker Newt Gingrich befürwortet einen neuen „konservativen Internationalismus“, der jedoch auf der Prämisse beruht, dass das kulturelle und intellektuelle Bezugssystem der USA einzigartig und nicht zuletzt grundverschieden vom System der EU ist. Amerikaner sollten deshalb „nicht jene [liberalen] Vorschläge akzeptieren, die auf sehr unterschiedlichen Grundannahmen darüber basieren, wie die Welt funktioniert“.7 Aufgrund ihrer Analysen der internationalen Rahmenbedingungen bzw. der unterschiedlichen inneren Verfasstheit der Staaten (insbesondere der Einzigartigkeit der USA) sprechen konservative strategische Denker wie Haass und Gingrich den Vereinten Nationen die Fähigkeit ab, eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der außenpolitischen Herausforderungen im 21. Jahrhundert zu spielen.
Auch Repräsentanten der christlichen Rechten, die zu einer tragenden innenpolitischen Stütze des internationalen Engagements der USA geworden sind, befürworten, wenn schon nicht unilaterales Vorgehen, so doch Alternativen zu den Vereinten Nationen. Senator Sam Brownback, der als Koordinator des so genannten Value Action Team seine Hausmacht Gleichgesinnter im Kongress sowie zahlreiche christlich rechte Graswurzelorganisationen in der amerikanischen Zivilgesellschaft hinter sich weiß, legt zwar besonderen Wert darauf, dass die USA „eine Art multilaterales Forum“ entwickeln, „um andere Länder auf grundlegende und universelle Werte der Freiheit und Menschenwürde zu verpflichten“. Doch ist er auch davon überzeugt, „dass die Vereinten Nationen in dieser Hinsicht keine Führungsrolle übernehmen“. Nach seinem Dafürhalten sei es deshalb nötig, Demokratie und Menschenrechte außerhalb des UN-Rahmens zu fördern.8
2. Konkurrenz-Multilateralismus zur Belebung der UN. Auf der liberalen bzw. progressiven Seite des internationalistisch gesinnten politischen und akademischen Spektrums, von der man traditionell noch am ehesten Unterstützung für die Weltorganisation erwarten könnte, gabelt sich der Weg – mit wenigen, aber nennenswerten Ausnahmepositionen, wie sie Senator Joseph Biden vertritt – in zwei Richtungen: Entweder wenden sich die Experten einem Zweckrationalismus9 zu oder sie entwickeln Gegenentwürfe zu den UN: Lee Feinstein vom Council on Foreign Relations, prominenter Vordenker der Congressional Task Force on the United Nations, hofft zwar noch, dass die Vereinten Nationen reformiert werden können. Jedoch fordert auch er in seinem nüchternen Kommentar zum Ergebnis des UN-Reformgipfels, dass demokratische Staaten Alternativen schaffen sollten, wenn sie sich ernsthaft um Reformen bemühen. Feinstein empfiehlt, eine Art Konkurrenz-Forum oder eine Ländergruppe zu etablieren, deren Mitglieder sich auf bestimmte Prinzipien und Werte einigen und damit entweder die Vereinten Nationen auf ihre Linie bringen oder aber unabhängig von den UN handeln können.10
Das entsprechende Schlagwort lautet „Konkurrenz-Multilateralismus“. Die Verfechter dieses Konzepts11 sind der Meinung, dass Konkurrenz das Geschäft beleben und dazu beitragen könnte, dass sich die Vereinten Nationen auf ihre neue strategische Kernkompetenz des Post-conflict-peacebuilding (die Konsolidierung von Friedensprozessen nach der militärischen Beilegung von Konflikten) konzentrieren und in diesem Aufgabengebiet handlungsfähiger werden. Dadurch könnten die UN besser auf die sicherheitspolitischen und sozialen Herausforderungen reagieren: Die Welt des 21. Jahrhunderts sei eine „multi-multilaterale Welt“,12 in der sich internationale Organisationen, die sich überlappen und zuweilen auch konkurrieren, nach regionalen oder funktionalen Aufgabenkriterien ausdifferenzieren, neu organisieren und somit im „genuin liberalen Sinne“13 einen pluralistischeren Multilateralismus ausprägen.
3. „Allianz der Demokratien“. Zuweilen wird auch eine bereits von der Clinton-Administration inspirierte Idee wiederbelebt. Ivo Daalder von der Brookings Institution und James Lindsay vom Council on Foreign Relations schlagen vor, eine „Allianz der Demokratien“ zu gründen.14 (Eine akademischere, von John Ikenberry und Anne-Marie Slaughter propagierte Version dieser Idee firmiert unter der Bezeichnung „Concert of Democracies“15). Dieses Bündnis genuin demokratischer Staaten würde von der amerikanischen Bevölkerung unterstützt und böte auch den Europäern größere Mitwirkungschancen. Für die liberalen Vordenker Daalder und Lindsay sind alle Versuche, die Vereinten Nationen grundlegend zu reformieren, zum Scheitern verurteilt, weil sie ignorieren, dass nicht nur die Organisationsstruktur, sondern auch die Grundprinzipien der Weltorganisation überholt sind.
„Voice“ oder „Exit“
Sollten die Vereinten Nationen sich aus amerikanischer Sicht als reformresistent erweisen – das heißt in erster Linie, sich der Finanzierungs- und Management-reform verschließen –, hätte die Bush-Regierung breiten innenpolitischen Handlungsspielraum. Kaum ein Experte oder politischer Meinungsführer würde die Regierung kritisieren, wenn sie den UN finanzielle Mittel vorenthielte, um Reformforderungen Nachdruck zu verleihen. Die Vereinten Nationen könnten vor die Wahl gestellt werden: Entweder schenken sie der amerikanischen Stimme (voice) Gehör oder ihr droht die „Exit“-Option der USA.16 Wenngleich die USA nicht ernsthaft erwägen, aus einer Organisation auszutreten, deren Handeln sie nicht zuletzt dank ihres Vetorechts im Sicherheitsrat mitbestimmen können, stellen Desinteresse und Loyalitätsentzug durchaus eine Handlungsoption dar: Die USA könnten ihre politische Aufmerksamkeit und Loyalität anderen Organisationen zuwenden, die Weltorganisation für bedeutungslos erklären und ihr finanzielle Mittel vorenthalten. Angesichts bestehender Liquiditätsengpässe sind die Vereinten Nationen finanziell von ihrem stärksten Beitragszahler besonders abhängig.
Erfahrungen aus den neunziger Jahren haben gezeigt, dass die jeweilige Zuwendungsbereitschaft der USA gegenüber den Vereinten Nationen „in höchstem Maße Umfang und Nachhaltigkeit von UN-Handeln beeinflusst“.17 Insofern ergibt sich auch Handlungsbedarf für deutsche Entscheidungsträger, zumal sich deutsche Außenpolitik – gemäß der öffentlichen Einstellungen und der politischen Debatte hierzulande – in ihrem Handeln stärker dem multilateralen UN-Rahmen verpflichtet fühlt.
Was tun?
„Die Wiederannäherung zwischen den USA und den Vereinten Nationen ist die Schicksalsfrage für ein effektives System kollektiver Sicherheit“, schreibt ein deutscher Diplomat.18 Dan Hamilton, Direktor des Center for Transatlantic Relations und vormals Unterstaatssekretär für Europäische Angelegenheiten im US-Außenministerium während der Clinton-Regierung, betont ebenfalls, dass die Annäherung unterschiedlicher Weltordnungsvorstellungen eine entscheidende „Hauptprüfung“ für die transatlantischen Beziehungen der nächsten Jahre sein wird. Für Hamilton kommt es darauf an, einen Konsens über internationale Ordnungsprinzipien und vor allem eine Antwort auf die grundlegende Frage zu finden, wie das Spannungsverhältnis zwischen Legitimität und Effektivität nicht zuletzt im Hinblick auf militärische Interventionen einvernehmlich austariert werden soll.19
Vergleicht man die amerikanische mit der deutschen UN-Reformagenda, wird deutlich, dass es zwar eine Reihe thematischer Überschneidungen gibt, bei den Reformforderungen aber unterschiedliche Prioritäten gesetzt werden: Während für die US-Regierung primär Effektivitäts- und Effizienzgesichtspunkte im Vordergrund stehen, bemüht sich deutsche Politik, die Legitimität der UN zu stärken.
Auch wenn in Fragen der grundlegenden Strukturreform der Vereinten Nationen (etwa bei der Frage der Erweiterung des UN-Sicherheitsrats) kaum transatlantische Einigkeit erzielt werden kann, sollte es deutscher Politik doch möglich sein, pragmatisch jene US-Initiativen zu unterstützen, die von gemeinsamem Interesse sind. Dazu gehört etwa die Bemühung um eine Stabilisierung so genannter Failing States.
Im Rahmen von Peacebuilding bzw. Peacekeeping könnte das schwierige Verhältnis zwischen Vereinten Nationen und NATO verbessert werden, zumal UN-Friedenssicherungseinsätze auf Militärschutz angewiesen sind und sich jenseits des Atlantiks – auch in der amerikanischen Regierung – Bestrebungen durchzusetzen beginnen, die NATO als traditionelles Forum transatlantischer Verständigung stärker zu nutzen.
Es ist im Interesse Europas wie auch Amerikas, dass die UN-Friedenskon-solidierungskommission fest im UN-System etabliert bleibt. Die Vereinten Nationen auf die Kernaufgabe zu fokussieren, schwachen und vom Zerfall bedrohten Staaten Stabilität zu geben, findet in den USA parteiübergreifende Zustimmung: In diesem Punkt sind sich neokonservative UN-Kritiker wie Joshua Muravchik vom American Enterprise Institute20 einig mit liberalen Befürwortern wie dem demokratischen Senator und künftigen Vorsitzenden im Auswärtigen Ausschuss Joseph Biden.21 Hier könnte die Bundesrepublik ansetzen und im Sinne des Lead-nation-Konzepts durch ihre aktive Beteiligung an UN-mandatierten und -geführten Friedensmissionen ihre Leistungs- und Führungs-fähigkeit demonstrieren.
Ob sich die UN als effektives Problemlösungsinstrument bewähren, ist in den USA die entscheidende Frage. Aktuelleren und differenzierten Umfrageergebnissen zufolge erwarten Amerikaner nach wie vor, dass die UN eine wichtige Rolle bei der Lösung internationaler Probleme spielen. Jedoch zeigt sich zusehends parteiübergreifende Skepsis, ob die Vereinten Nationen ihren Aufgaben gerecht werden.22 Die UN müssen – unter anderem durch deutsche und europäische Unterstützung – Problemlösungskompetenz demonstrieren. Gelingt ihnen dies, könnten die UN in den USA so genannte Output-, d.h. Erfolgslegitimation, erwirken. Mit anderen Worten: Es muss auch für Amerikaner deutlich werden, dass die Weltorganisation Unterstützenswertes leistet. Gegebenenfalls sollte durch gezielte öffentlichkeitswirksame Diplomatie die Kenntnis von Leistungen der UN im politischen Willensbildungsprozess der USA gefördert werden, um mittelfristig das Image und das Verständnis für die Aufgaben der Weltorganisation zu verbessern. Denn in einer längerfristigen Perspektive bleiben im Interesse einer erforderlichen Lastenteilung auch für die Vereinigten Staaten die (internationale) Legitimation und Beteiligung der Völkergemeinschaft nach wie vor bedeutsam, wie Richard Lugar seinen Kollegen im Senat verdeutlichte.
Auch wenn die von Senator Lugar vertretene multilateral-internationalistische Position in den USA merklich Befürworter verloren hat, wären deutsche und europäische Entscheidungsträger schlecht beraten, sich auf ein überzeichnetes Szenario eines nachhaltigen amerikanischen Isolationismus23 vorzubereiten. Die Mehrzahl der Amerikaner erwartet weiterhin, dass sich ihre Regierung – nicht zuletzt auch in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen – internationaler Probleme annimmt. Sicherlich gilt es weiterhin aufmerksam zu beobachten, inwieweit der Irak-Krieg das Meinungsbild verzerrt hat, zumal die Interventionsentscheidung des amtierenden Präsidenten auch die US-Bevölkerung polarisiert hat. Die je nach Parteizugehörigkeit durchaus unterschiedlichen Einstellungen können sich langfristig wieder zugunsten multilateraler Präferenzen verändern. Dabei dürfte auch die Hilfe der internationalen Gemeinschaft beim Wiederaufbau im Irak eine Rolle spielen.
Sollte sich jedoch die Lage im Irak weiter verschlechtern und Amerika sich bei der Bewältigung des Problems zusehends allein gelassen fühlen, könnte sich diese Wahrnehmung negativ auf die Einstellung der USA gegenüber der Völkergemeinschaft auswirken und generell die Bereitschaft zu internationalem Engagement (vor allem im Rahmen von Friedenskonsolidierungsmaßnahmen) schmälern. Mit der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie vom März 2006 reagierte Präsident Bush bereits auf die zunehmend unsichere Stimmung seiner Landsleute. Nach seiner Überzeugung sind Rückzug und Passivität für Amerika keine Optionen. Vielmehr gelte es, mittels internationaler Zusammenarbeit die gemeinsamen Herausforderungen aktiv zu bewältigen.24
1 Datenquelle: 1976 Gallup; Oktober 2005: Pew Research Center. Vgl. Pew Research Center/Council on Foreign Relations: America’s Place in the World 2005: Opinion Leaders Turn Cautious, Public Looks Homeward, Washington, D.C. 2005, S. 106.
2 Laut USA Today/Gallup-Umfrage vom 7.–9.4.2006; vgl. Jeffrey Jones: Little Change in Isolationist Sentiment among Americans, Washington, D.C.: Gallup News Service, 21.4.2006.
3 Alynna J. Lyon: Through a Glass Darkly? Public Opinion and the Relationship between the United States and the United Nations, Paper präsentiert bei der Jahreskonferenz der International Studies Association in San Diego, Cal., 22.–25.3.2006.
4 Innerhalb dieser Denkrichtung gibt es weitere Abstufungen: Während „Nationalisten“ wie Senator Jon Kyl auch internationalem Handel zunehmend kritisch gegenüberstehen, hegen so genannte „Palaeo-Konservative“ wie Pat Buchanan darüber hinaus ein protektionistisches Gedankengut, das nicht frei von xenophoben Attitüden ist.
5 Vgl. Joseph Nye: The Paradox of American Power. Why the World’s Only Superpower Can’t Go It Alone, Oxford/New York 2002, S. 139.
6 Richard Haass im Rahmen einer Konferenz des Ameri-can Enter-prise Institute am 12.9.2005 in Washington, D.C., http://www.aei.org/events/eventID.1140,filter.all/summary.asp.
7 Newt Gingrich im Rahmen derselben Konferenz, ebd. 8 Sam Brownback: Preventing a Nuclear-Armed Iran: Will China and Russia Help?, Washington, D.C.: Heritage Foun-dation, 7.4.2006 (Heritage Lectures Nr. 934).
9 Für den Demokraten und designierten Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Abgeordnetenhaus Tom Lantos ist die „Zeit des naiven Idealismus“ vorbei. Er plädiert für einen nachhaltigen Wandel amerikanischer UN-Politik hin zu einer „Quid-pro-quo-Diplomatie“.
10 So im Interview mit Bernard Gwertzman: Feinstein: UN Summit Document „A Missed Opportunity“, 15.9.2005, http://www.cfr.org/publication/8860/feinstein.html.
11 Ruth Wedgwood: A Run for the Money, National Interest, Winter 2005, 22.12.2005, S. 76–81.
12 Francis Fukuyama: America at the Crossroads, New Haven/London 2006, S. 157–158.
13 Ebd., S. 162.
14 Ivo Daalder und James Lindsay: An Alliance of Democracies: Our Way or the Highway, Financial Times, 6.11.2004.
15 G. John Ikenberry und Anne-Marie Slaughter: Forging a World of Liberty Under Law, Princeton University (The Princeton Project Papers), September 2006, S. 23–26, 61.
16 Im Sinne des Wirtschafts- und Organisationstheoretikers Albert O. Hirschman: Exit, Voice, and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge, Mass. 1970.
17 Rosemary Foot, S. Neil MacFarlane und Michael Mastanduno: Conclusion: Instrumental Multilateralism in US Foreign Policy, in: dies. (Hrsg.): US Hegemony and International Organizations: The United States and Multilateral Institutions, Oxford 2003, S. 265–272 (271).
18 Peter Wittig: Ein neues System kollektiver Sicher-heit? Die UN zwischen Stillstand und Re-form, Inter-natio-nale Politik, März 2006, S. 76–83 (82 f).
19 Daniel Hamilton: Merkel, Bush, and German-American Relations, in: Foreign Policy in Dialogue 6 (2006) 18, S. 42–48 (47 f).
20 Siehe Joshua Muravchik: The Future of the United Nations: Understanding the Past to Chart a Way Forward, Washington, D.C. 2005, S. 73–75; 116.
21 Siehe Joseph Biden: America’s Purpose: Leadership for a New Security Consensus, Rede vom 6.9.2005, Washington, D.C., http://biden.senate.gov/newsroom/details.cfm?id=245275&&.
22 Jeffrey M. Jones: Americans’ Ratings of United Nations among Worst Ever, Washington, D.C.: Gallup News Service, 13.3.2006.
23 So zum Beispiel John Judis: The Return of Isolationism, National Republic, 23.11.2005.
24 „We choose leadership over isolationism“, so Präsident Bush im Vorwort der Nationalen Sicherheitsstrategie vom 16.3.2006; White House: The National Security Strategy of the United -States of America, Washington, D.C., März 2006.
Internationale Politik 12, Dezember 2006, S. 40‑47