„Tunesien war ein Vorreiter“
Gespräch mit den Ennahda-Abgeordneten Sayida Ounissi und Nafouel Ejammali
Die islamische Partei Ennahda stellt 69 Abgeordnete im tunesischen Parlament, zu denen Sayida Ounissi und Nafouel Ejammali gehören. Sie erläutern, wie ihre Partei nach Jahrzehnten im Untergrund zu einer politischen Kraft wurde, die den demokratischen Übergang mitgestaltet – jedoch nicht unter Bezugnahme auf den Koran, sondern durch Kompromissfähigkeit.
IP: Schlechte Regierungsführung gehört zu den größten Hindernissen für Fortschritte, auch in der arabischen Welt. Was wird in Tunesien richtig gemacht, da das Land doch relativ gut dasteht?
Sayida Ounissi: Wir haben in den vergangenen Jahren gelernt, dass vor allem demokratische Stabilität erforderlich ist, wenn man einen Staat effizient organisieren will. Wenn die politische Landschaft fragil und zersplittert ist, wenn es keine klaren Ziele, Programme und Koalitionen gibt, ist es sehr schwer, staatliche Aufgaben zu erfüllen. Da unsere Partei der gegenwärtigen Regierung angehört, wissen wir genau, wovon wir reden. Good Governance ist besonders wichtig für unser Land, in dem der öffentliche Sektor sehr groß ist. Tunesien hat rund zehn Millionen Einwohner, davon arbeiten 450 000 als Angestellte des Staates. Schon allein daran kann man absehen, wie wichtig gute Regierungsführung für die Entwicklung unseres Landes ist. Aber sie ist auch wichtig für unser internationales Ansehen, denn mit unseren Partnern in der EU sowie mit Weltbank und Internationalem Währungsfonds verhandeln wir über wirtschaftliche Reformprogramme.
IP: Welche Erkenntnisse zieht die Ennahda-Partei aus der Regierungserfahrung der Muslimbruderschaft in Ägypten?
Ounissi: Man kann die Verhältnisse in Ägypten und Tunesien nicht wirklich miteinander vergleichen. Einer der größten Fehler der Mursi-Regierung bestand darin, keine anderen Akteure und Parteien einzubeziehen und damit in die Verantwortung zu nehmen. Die Muslimbrüder haben nicht erkannt, dass auch andere das Recht haben, am politischen Prozess mitzuwirken. Diesen Fehler haben wir nicht gemacht. Die Ennahda hat es von Anfang an nicht darauf angelegt, allein zu regieren. Vielleicht resultiert unsere Haltung aus früheren Erfahrungen, als wir gegen die Regierung in Tunis kämpften und auch mit linken und säkularen Oppositionsparteien zusammengearbeitet haben. Diese Erfahrungen erleichterten auch die Bildung einer Koalitionsregierung, als wir 2011 die Wahlen gewannen. Wir sind davon überzeugt, dass man durch gemeinsames politisches Ringen Kompromisse finden muss. Und wir haben gelernt, dass ein echter Übergangsprozess nur dann möglich ist, wenn mehr als ein oder zwei Akteure daran beteiligt sind.
Nafouel Ejammali: Lassen Sie mich zu den Beziehungen zwischen Ägypten und Tunesien noch etwas klarstellen. Es gibt große Rivalitäten zwischen den arabischen Ländern; oftmals wird davon ausgegangen, dass alles Gute – in der Politik wie auch in Kunst und Literatur – aus dem Osten kommt. Aber in diesem Fall ist es anders, da war Tunesien Vorreiter. Ennahda und andere islamische Bewegungen unterscheiden sich deutlich von der Muslimbruderschaft. Wir haben an der Ausarbeitung der Verfassung mitgewirkt und wir beweisen, dass Demokratie und Islam miteinander vereinbar sind.
IP: Warum sollte eine Koalitionsregierung denn von Vorteil für die Ennahda sein?
Ounissi: Die Koalitionsregierung ist eine große Herausforderung für uns. Ich glaube, dass wir in den anderthalb Jahren ihres Bestehens bislang sehr stark davon profitiert haben. Denn unsere Partei wird gestärkt und verbessert ihr Image als große nationale politische Kraft. Das hilft uns, noch professioneller zu werden. Wir arbeiten mit mehreren Partnern zusammen. Nida Tunis ist ein Zusammenschluss von ganz unterschiedlichen Vertretern aus der Vorgängerregierung, Gewerkschaftern, linken Vertretern der Zivilgesellschaft und alteingesessenen Familien. Anfangs verband ihre Mitglieder vor allem die Gegnerschaft zur Ennahda, nicht ein gemeinsames Programm. Afek Tunis spielt auch eine wichtige Rolle in der Koalition. Seine Mitglieder erwecken den Anschein von Kompetenz, Liberalismus und Modernität; die meisten von ihnen lebten im Ausland, bis sie zurückkehrten, um am Aufbau Tunesiens mitzuwirken. Die UPL von Slim Riahi ist eine populistische Partei, die von vielen jungen Leuten und denjenigen gewählt wurde, die sich eigentlich nicht für Politik interessieren.
Und nun zu uns: Die Ennahda ist eine ziemlich alte politische Partei mit langer Tradition, wir sind sehr gut organisiert, diszipliniert und streng hierarchisch gegliedert. Wir haben gelernt, dass man mit ganz unterschiedlichen Menschen zusammenarbeiten kann, solange man sich auf gemeinsame Ziele und Programme verständigt. Ennahda hat durch die Regierungsarbeit die Möglichkeit, sich als legale politische Partei zu etablieren, die zum Staatswesen gehört. Denn seit unseren Anfängen waren wir eine politische Bewegung, die verfolgt wurde und im Untergrund operierte. Der Staat verbot jede religiöse Handlung, selbst wenn man zum Beten in die Moschee ging, riskierte man, verhaftet zu werden. Die gegen Ennahda-Mitglieder gerichtete Repression verstärkte das Gefühl, nicht Teil der tunesischen Gesellschaft zu sein. Deshalb kann der demokratische Übergangsprozess nur dann funktionieren, wenn wir zu einem echten Bestandteil der politischen Landschaft werden.
IP: Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Ihren Koalitionspartnern?
Ounissi: Wir sind bereit, mit allen zusammenzuarbeiten. Und wir haben ja auch schon bewiesen, dass wir die demokratischen Spielregeln akzeptieren. Wir respektieren die Verfassung und die neuen Gesetze, die auch die Parteienfinanzierung regeln. Probleme gibt es eher bei wirtschaftlichen und sozialen Fragen, für die wir eine klare Vision haben. Doch es ist schwer, diese Vorstellungen umzusetzen, wenn die anderen Parteien ihre eigene Agenda verfolgen.
Ejammali: Wir sind nicht wirklich in der Position, Lektionen zum Koalitionsverhalten zu erteilen, denn das ist ein relativ neues Phänomen in Tunesien. Aber wir sind sehr kompromissbereit, so hat Ennahda mit 69 Abgeordneten zwar die zweigrößte Gruppe im Parlament, stellt aber nur einen Minister. Das war unser Zugeständnis, um die Regierung handlungsfähig zu machen.
IP: Kompromissfähigkeit ist wichtig, aber ein eigenes Profil genauso. Was ist für Sie nicht verhandelbar?
Ejammali: Am wichtigsten ist für uns erstens die Unverletzbarkeit der Verfassung. Sie ist der wichtigste Pfeiler der zweiten Republik und der Garant einer demokratischen Entwicklung. Und zweitens eine verantwortungsvolle Aufarbeitung der Vergangenheit.
IP: Würden Sie anderen fragilen Staaten auch empfehlen, so schnell wie möglich eine Verfassung zu erarbeiten?
Ounissi: So schnell waren wir nun auch nicht, immerhin haben wir ja drei Jahre gebraucht. Aber es war ein guter Prozess, an dem sich jeder, der wollte, beteiligen konnte. Deshalb können sich nun alle mit dem Text identifizieren. Für uns war die Aufarbeitung der gewaltsamen Vergangenheit ein wichtiges Thema; andere Parteien haben das eher als „Luxusproblem“ gesehen, sie behaupteten, es ginge den Islamisten vor allem um finanzielle Entschädigung. Wir sind der Überzeugung, dass Dinge aufgearbeitet werden müssen, damit keine Frustrationen entstehen, die den ganzen Übergangsprozess gefährden. Aber da gibt es noch viel Diskussionsbedarf. Da wir zum Beispiel gegen ein Verfassungsgericht waren, warf man uns vor, die Unabhängigkeit von Richtern unterminieren zu wollen. Verfassungsrechtliche Fragen werden uns noch lange beschäftigen, denn dabei geht es auch um die Identität des Staates an sich.
IP: Ennahda ist eine religiöse Partei. Was ist so besonders an ihr, worin unterscheidet sie sich von anderen Parteien?
Ejammali: Wir haben viele Diskussionen über die Identität unserer Partei. Ich glaube, das ist nach einer Revolution ganz normal. Wir müssen unseren Weg gehen, die Menschen von uns überzeugen und beweisen, dass die islamische Bewegung in Tunesien sich von anderen unterscheidet. Wir müssen zeigen, dass Demokratie in arabischen Ländern möglich ist.
IP: Was schlägt Ihre Partei vor? Unter Berufung auf die Aufklärung und säkulare Demokratie behaupten wir im Westen, wir hätten Religion aus dem öffentlichen Leben verbannt. Aber dem ist nicht so. Wir haben, und das ist viel wichtiger, die absolute Wahrheit aus dem politischen System verbannt. Kann sich Ennahda damit arrangieren?
Ejammali: Für uns ist Religion eine Frage der Perspektive. So wie linke und sozialistische Parteien sich auf die Schriften von Marx berufen, haben wir den Koran. Aber nicht mit Bezug auf das Heilige Buch lösen wir politische Probleme wie öffentliche Verwaltung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherung, sondern durch politische Verhandlungen. In der Vergangenheit gab es große Probleme zwischen Staat und Religion, weil der Staat nicht akzeptierte, wie die Tunesier ihre Religion ausüben. Deshalb versuchte unsere Partei damals, sich in Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen und Verbänden der staatlichen Gewalt entgegenzustellen. Heute haben wir eine ganz andere Situation, eine offene, demokratische Gesellschaft, und jeder Tunesier kann seine Religion ausüben, wie er will.
IP: Das heißt, es gibt einen offenen, pluralistischen Dialog über Identität, und alle Beteiligten speisen ihre Ideen ein …
Ejammali: … aber es geht nicht um eine Vermischung von Politik und Religion oder um die Behauptung, man spräche im Namen aller Muslime, des Korans oder der absoluten Wahrheit. Ennahda ist eine politische Partei und wir arbeiten mit unseren Überzeugungen daran, Probleme zu lösen.
Ounissi: Der Islam ist eine pluralistische Religion, die nicht nur die eine richtige Antwort auf eine Frage kennt. Aber es gibt Staaten, die mit viel Geld versuchen, Menschen davon zu überzeugen, dass ihre Sicht des Islams die einzig richtige sei. Das ist aber ein relativ neues Phänomen. Islamische Universitäten legen den Koran so aus, wie es zu ihren jeweiligen Gesellschaften passt. Die Universität Ez-Zitouna in Tunis – übrigens die älteste in der arabischen Welt, an der auch unser Parteivorsitzender Rashid al-Ghannouchi studiert hat – ist heute bekannt dafür, dass sie in ihren Schriften für die Vereinbarkeit von Islam und moderner Welt plädiert. Es gibt also eine lange Tradition der Beziehungen zwischen Islam, modernem Staatswesen und Demokratie.
Wir sind der Überzeugung, dass nur Menschen, die frei sind, ihre Religion so ausüben können, wie sie es für richtig erachten – der Staat es ihnen also nicht vorschreibt. Und nur dann können sie von Gott zur Rechenschaft gezogen werden. Tunesien war nie ein säkularer Staat, sondern hatte immer eine offizielle Religion, auch unter Bourguiba, der, obwohl selbst nicht religiös, den Islam kontrollierte. Unter seiner Herrschaft wurde die Ez-Zitouna-Universität ein Instrument in den Händen der autoritären Herrscher, wie es heute die Al-Azhar-Universität in Ägypten ist. Aber Tunesien hat heute eine Verfassung mit dem in der arabischen Welt wohl einmaligen Artikel 6, der besagt, dass der Staat sowohl Sicherheit als auch freie Religionsausübung gewährleisten muss.
IP: Sie haben von einer strengen Hierarchie in Ihrer Partei gesprochen. Welche Positionen bekleiden denn Frauen und junge Mitglieder?
Ounissi: Frauen haben es in der Politik generell nicht leicht, das ist nichts Neues, und das gilt auch für Tunesien. Es gibt in der Ennahda Ausschüsse für Frauen und für junge Mitglieder, die sich mit diesbezüglichen Fragen beschäftigen. Aber das ist ein zweischneidiges Schwert, denn so können diese Mitglieder nicht in anderen wichtigen Bereichen mitwirken. Als ich mein Parlamentsmandat antrat, habe ich mich ganz bewusst dafür entschieden, in den Finanzausschuss zu gehen. Natürlich sind die Rechte von Frauen und jungen Menschen wichtig, aber ich setze mich für deren Rechte lieber dort ein, wo über die Finanzen entschieden wird.
IP: Will man was bewegen, geht man dorthin, wo das Geld ist …
Ounissi: Richtig! Gegenwärtig sind von den 22 Mitgliedern des Finanzausschusses nur drei Frauen. Wir arbeiten daran, dass der Frauenanteil in wichtigen Ausschüssen steigt. Frauen müssen ihre Qualifikationen ausbauen, um mehr Entscheidungsbefugnisse zu bekommen. Ich habe leider manchmal den Eindruck, dass einige Posten nur mit Frauen besetzt werden, um dem konservativen Image der Partei etwas entgegenzusetzen. Das ist nicht das, was wir wollen – auch wenn es natürlich die Anzahl der Frauen erhöht. Gegenwärtig arbeiten wir an einer Strategie, um den Frauenanteil im neuen Exekutivausschuss der Partei zu erhöhen.
IP: Was sind Ihre Erwartungen an Deutschland und die Europäische Union?
Ejammali: Wir möchten die Idee verankern, dass Tunesien genauso weit entfernt von Deutschland liegt wie die Ukraine. Und dass die Probleme südlich des Mittelmeers auch die Sicherheit in Deutschland und Europa gefährden. Wir alle kennen die Folgen der Flüchtlingskrise. Wir können Terrorismus und Probleme der Sicherheit aber nur dann bekämpfen, wenn wir unser Sicherheitssystem ausbauen. Und das ist zunächst eine wirtschaftliche Herausforderung. Derzeit laufen die Verhandlungen zwischen Tunesien und der Europäischen Union über ein neues Handelsabkommen. Solche Abkommen verhandelt die EU mit jedem Partner in der Region einzeln. Deshalb sind es für uns schwierige Verhandlungen, die einem Ringen zwischen David und Goliath gleichen. Ein für uns schlechter Vertrag mit der EU würde zu mehr Armut führen und damit Terroristen in die Hände spielen, die noch mehr junge Leute rekrutieren könnten. Die Sicherheitsprobleme haben also nicht nur mit Polizeikräften und Armee zu tun, sondern auch mit der wirtschaftlichen Entwicklung. Deshalb benötigen wir die Unterstützung von Deutschland, um unsere Position zu stärken, vor allem bei Agrarprodukten und Dienstleistungen. Wir müssen die Europäer zu mehr Zugeständnissen bewegen, um die wirtschaftliche Lage in Tunesien zu verbessern – und damit auch den Terrorismus zu bekämpfen.
IP: Die EU sollte also endlich ihre für die Länder des Südens verhängnisvolle Agrarpolitik beenden …
Ejammali: Ganz genau, das wollte ich sagen.
IP: Tunesien ist das einzige Land, das nach dem Arabischen Frühling einen demokratischen Weg eingeschlagen hat. Warum gibt es dennoch so viele junge Menschen, die sich dem IS anschließen?
Ejammali: Meiner Ansicht nach gibt es dafür zwei Gründe. Diese jungen Leute, die heute um die 18 Jahre alt sind, wurden zur Zeit des Ben-Ali-Regimes geboren. Sie sind also aufgewachsen mit Korruption, schlechten Bildungschancen und haben erlebt, wie der Staat den Islam unterdrückt. Der zweite und für mich wichtigere Grund ist die Hoffnungslosigkeit. Die jungen Menschen haben auf den Staat vertraut, der aber nichts gegen Arbeitslosigkeit und Armut unternommen hat. Es sind vor allem wirtschaftliche Gründe, die junge Leute dazu bringen, nach Syrien zu gehen. Das hat meiner Ansicht nach nichts mit Religion zu tun.
Ounissi: Es ist wirklich ein Problem fehlenden Vertrauens. Die jungen Menschen haben darauf vertraut, dass der Staat ihre Rechte vertritt, aber sie wurden enttäuscht. Ihre Beziehung zum Staat ist nicht existent. Deswegen müssen wir den Menschen – und insbesondere den jungen – Vertrauen in den Staat geben und ihnen beweisen, dass der Staat da ist, um ihre Rechte zu verteidigen. Eine der größten Herausforderungen der kommenden Jahre wird es deshalb sein, diesen jungen Leuten wieder Chancen und einen Platz in der Gesellschaft zu bieten – damit sie nicht den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer nehmen müssen.
Ejammali: Uns läuft die Zeit davon! Wir müssen vor allem das Problem der Jugendarbeitslosigkeit in den Griff bekommen. Deshalb sind die Verhandlungen mit der EU so wichtig, mit einem guten Vertrag könnten wir die Lage deutlich verbessern. Hier hoffen wir auf die Unterstützung unserer Freunde.
Das Gespräch führten Uta Kuhlmann-Awad, Joachim Staron und Sylke Tempel.
Sayida Ounissi sitzt seit 2014 für die islamische Ennahda-Partei in der tunesischen Nationalversammlung und ist u.a. Mitglied im Finanz-ausschuss und in der Sonderkommission für die Aufarbeitung der Vergangenheit.
Dr. Naoufel Ejammali sitzt seit den Wahlen 2014 für die Ennahda in der tunesischen Nationalversammlung. Zuvor war der Jurist zuständig für internationale Kooperation im Ministerium für Beschäftigung und berufliche Bildung.
Internationale Politik 4, Juli-August 2016, S. 22-27