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03. Jan. 2018

Türkische Kehrtwende

Ankara will um jeden Preis einen Kurdenstaat in Syrien verhindern

Lange hat die Türkei in Syrien auf den Sturz von Präsident Baschar al-Assad hingearbeitet. Dann hat Ankara begriffen, dass aus dem Zerfall des Nachbarlands ein eigener Kurdenstaat mit engen Verbindungen zur verbotenen PKK zu entstehen droht. Plötzlich erscheinen die Duldung Assads und eine Annäherung an Russland als die kleineren Übel.

In Syrien hat sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan dramatisch verkalkuliert. Schon mit Beginn des Bürgerkriegs 2011 hatte die Türkei alle Karten auf den Sturz des Regimes von Baschar al-Assad gesetzt. Zu diesem Zwecke unterstützte sie im Nachbarland verschiedenste Rebellengruppen. Inzwischen allerdings ist Ankara klargeworden, dass der Sturz Assads eine aus türkischer Sicht höchst unerwünschte Konsequenz haben würde: Die Aussichten der syrischen Kurden auf Unabhängigkeit würden deutlich verbessert. Ein eigener Kurdenstaat entlang der 900-Kilometer-langen Grenze zur Türkei würde aber aus Sicht Ankaras eine höchst gefährliche Sogwirkung auf die Kurden im eigenen Land ausüben, die die Türkei insgesamt destabilisieren könnte.

Einen solchen Kurdenstaat gilt es deswegen unbedingt zu verhindern, und zwar auch um den Preis einer radikalen außenpolitischen Kehrtwende. Neben der Allianz mit den USA strebt die türkische Regierung nun auch eine möglichst enge Partnerschaft mit Russland an und stärkt ihre Verbindungen zum Iran. Sie akzeptiert Assad als Gesprächspartner für eine Übergangsphase und hat mit „Schutzschild ­Euphrat“ eine militärische Offensive gegen den IS durchgeführt. So wollte Ankara zeigen, dass es durchaus eine aktive und pragmatische Politik in Syrien verfolgen kann. Doch dieser radikale Wandel, bei dem ehemalige Freunde zu Feinden und ehemalige Feinde zu Freunden werden sollen, birgt für Erdo­gan und seine AKP erhebliche Risiken und Nebenwirkungen.

Der Grund für Ankaras Kehrtwende ist der aufsteigende Stern der syrischen Kurden und ihre schleichende Legitimation auf internationaler Bühne. Die Türkei fürchtet, dass dies in die Errichtung eines eigenen Staates in „Rojava“ münden könnte – so nennen die Kurden ihr Gebiet im Norden Syriens. Dies macht ihr umso größere Sorgen, als die syrisch-kurdische Partei PYD eng mit der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK verbunden ist. Die Wahrung der territorialen Einheit Syriens hat für Ankara deswegen absoluten Vorrang. In den Syrien-Gesprächen in der kasachischen Hauptstadt Astana hat die Türkei es de facto akzeptiert, sich zu den von Russland definierten Konditionen mit dem Assad-Regime zu versöhnen. Mit dem Aufstieg der Kurden wurde die Duldung des Diktators zum kleineren Übel.

Wie konnte die AKP-Regierung so tief in die Sackgasse geraten? In den Anfängen ihrer Regierungszeit hatte sie noch versucht, mit der PKK Frieden zu schließen. Doch aus den Wahlen am 7. Juni 2015, bei denen sie zum ersten Mal die absolute Mehrheit verlor, schloss die AKP, dass sie aus diesem Friedensprozess keinen politischen Nutzen ziehen kann. Daraufhin verschärfte sie ihr Vorgehen gegenüber den Kurden. Ihre nun äußerst nationalistische Rhetorik soll dazu beitragen, die Stimmen des rechten und konservativen Lagers zurückzugewinnen und die absolute Mehrheit wiederzuerlangen.

Parallel zum härteren Kurs im eigenen Land sucht Ankara die guten Beziehungen zur kurdischen Regionalregierung um Massud Barzani im Irak zu intensivieren. Mit dieser Taktik will die AKP dem In- und Ausland signalisieren, dass sie nicht „kurdenfeindlich“ sei, sondern lediglich die Interessen der Türkei wahre.

Ankaras Umgang mit den Kurden wird jedoch nicht nur durch Wahltaktik bestimmt. In der Wahrnehmung der türkischen Regierung ist die PKK tatsächlich eine separatistische und terroristische Organisation, die den Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anstrebt. Schlimmer noch: Durch die Verbindung zu ihrer syrisch-kurdischen Schwesterpartei PYD hat sie Bedeutung über die Grenzen der Türkei hinaus gewonnen. Dies wirft für Ankara weitreichende strategische Probleme auf, weil die PKK mit den Widersachern der Türkei strategische Bündnisse eingeht.

Internationale Aufwertung

Die Türkei hat eine Reihe von Gruppierungen, die sie im Kampf gegen das syrische Regime mit aufgebaut hat, dazu gedrängt, ihre Aktivitäten gegen kurdische Milizen in Rojava zu richten. Die Milizen der PYD haben ihrerseits einen Verteidigungsblock gegen die Milizen des IS, von Al-Nusra oder Ahrar al-Scham gebildet. Bei diesem Kampf können sie sich nicht nur auf die Kurden, sondern auch die anderen Volksgruppen der Region stützen. Der seit 2014 anhaltende Kampf gegen den IS hat den Akteuren in Rojava auch eine über ihre Grenzen hinaus akzeptierte Legitimation verschafft. Denn die syrischen Kurden kämpfen mit ihren aus Frauen und Männern bestehenden Einheiten gegen eben jenen IS, der auch Europa bedroht und mit Anschlägen terrorisiert.

Letztendlich hat der Arabische Frühling dazu geführt, dass sich in Syrien in der Gegnerschaft zu Assad zwei gegensätzliche Gesellschaftsmodelle gebildet haben. Auf der einen Seite ist das auf Gewalt basierende, repressive System radikaler Gruppen wie dem IS und Al-Kaida; auf der anderen Seite steht das kurdische Modell der „demokratischen Autonomie“, das in einer von ethnischen, konfessionellen und religiösen Brüchen dominierten Region ein Miteinander verschiedener Sprachen und Kulturen verspricht. Allen historischen Feindschaften zum Trotz hat die PYD es geschafft, neben Kurden auch arabische Stämme sowie christliche Gruppen in Rojava einzubinden. Mit dieser Leistung und mit ihrem aktiven Widerstand gegen den IS haben die Kurden bewiesen, dass sie die Zukunft Syriens entscheidend mitprägen werden. Europa und die USA setzen in der Region deswegen immer stärker auf die PYD.

Russland liegt beim Thema Rojava nicht auf einer Linie mit den USA, sondern spielt eine vermittelnde und teilweise sogar distanzierte Rolle. Einerseits will Moskau die Türkei nicht verprellen; andererseits die Kurden nicht gänzlich verlieren. Doch nach den Syrien-Gesprächen in Astana ist klar, dass sich die Türkei mit einer stärker dezentralen Machtverteilung in Syrien wird abfinden müssen. Nach Ende des Bürgerkriegs wird es ein de facto autonomes kurdisches Gebiet im Norden des Landes geben. Doch weder regionale noch globale Akteure wollen, dass hier ein unabhängiger Staat entsteht.

Für türkische Sicherheitskreise wäre ein unabhängiges Rojava das Worst-case-Szenario. Über mehrere hundert Kilometer hat Ankara inzwischen eine Sicherheitsmauer entlang der türkisch-syrischen Grenze bauen lassen. Sie soll die Türkei vor neuen Migrationsströmen schützen, aber auch die Verbindungen zwischen den Kurden auf beiden Seiten der Grenze kappen. Welche Ironie – war es doch das erklärte Ziel der AKP-Regierung, das Assad-Regime zu stürzen und ihren sunnitischen Verbündeten zum Sieg zu verhelfen, um die Grenze zu Syrien dann für belanglos erklären zu können. Die nun errichtete Grenzmauer wird als Denkmal des Scheiterns der türkischen Syrien-Politik in die Geschichte eingehen.

Besonders bitter ist für die türkische Regierung, dass sie nun hart daran arbeiten muss, ihre Beziehungen zum Assad-Regime zu verbessern. Mit voller Absicht toleriert das Regime in Damaskus die Aktivitäten von „türkeifeindlichen“ Gruppierungen. Das ist Assads harte Antwort auf die Einmischung Ankaras. Um ihn versöhnlicher zu stimmen, braucht die Türkei Moskau als Vermittler. Dies erklärt auch, warum die Türkei schwieg, als Russland eine Präsenz des Assad-Regimes in der nordsyrischen Stadt Manbidsch erzwang.

Auf der Suche nach neuen Allianzen, um die türkischen Interessen in der kurdischen Region zu wahren und den Handlungsspielraum der PYD einzuschränken, lotet die Türkei auch die Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit mit dem Iran aus. Für Ankara geht es dabei vor allem um die Probleme mit der PYD in Syrien; für Teheran um einen härteren Umgang mit den irakischen Kurden. In Ankara ist man inzwischen der Meinung, sich mit Moskau und Teheran viel zu spät an einen Tisch gesetzt zu haben.

Schutzschild Euphrat

Zwischen August 2016 und März 2017 griff die Türkei mit Boden­truppen in den Bürgerkrieg in Syrien ein. Mit der Operation „Schutzschild Euphrat“ wollte Ankara den IS zurückdrängen und zugleich den Handlungsspielraum der Kurden eindämmen. Sowohl die USA als auch Russland hatten für den Einsatz grünes Licht gegeben, allerdings verlangt, dass die Türkei Kampfhandlungen gegenüber der Kurdenmiliz YPG vermeiden müsse. Die Türkei sollte ihre Soldaten auch nicht auf Dauer in ­Syrien belassen und so ihr Einflussgebiet vergrößern.

Mit Hilfe der Freien Syrischen Armee gelang es der türkischen Armee, wichtige nordsyrische Städte wie Asas, Dscharabulus und Al-Bab vom IS zu befreien und sie Rebellengruppen zu übergeben, die Ankara wohlgesonnen sind. Damit war ein „arabischer Korridor“ geschaffen, der eine Verbindung zwischen den kurdischen Kantonen verhindert. Doch schaffte es die Türkei nicht, ein Modell zu entwickeln, wie ihre syrischen Verbündeten die vom IS befreiten Gebiete eigenständig und ohne türkische Hilfe halten können. Deswegen hat Ankara aus den militärischen Erfolgen auch nicht viel politischen Profit ziehen können.

Aus Sicht der Türkei war der Kampf gegen den IS nachrangig. Er kam nur insofern auf die politische Agenda, als er den Kampf gegen die PKK/PYD legitimieren half. Denn die zentrale Absicht der Türkei, den Wirkungsraum der PYD einzuschränken, wird weder von Assads Verbündeten Russland und Iran noch von Assads Gegner USA gebilligt. Für weitere türkische Versuche, militärisch gegen die syrischen Kurden vorzugehen, dürfte es keine Rückendeckung seitens der USA und Russlands mehr geben. Es könnte beide Länder sogar gegen Ankara aufbringen.

Die türkisch-amerikanischen Beziehungen stecken ohnehin schon in der Krise. Die Regierung von US-Präsident Donald Trump hat der YPG, dem bewaffneten Arm der PYD, schwere Waffen geliefert, obwohl Erdogan Trump ausdrücklich darum gebeten hatte, dies nicht zu tun. Wa­shington möchte mit Ankara nicht über seinen einzigen Erfolg in Syrien, die aktuelle starke Position der Kurden, verhandeln und setzt darauf, dass die Türkei die Kantone der PYD mit der Zeit akzeptieren wird.

Traditionell hat die Türkei stets eine ausgleichende Position zwischen den Großmächten eingenommen. Angesichts der Spannungen gegenüber Washington haben sich die Entscheidungsträger in Ankara auf dieses kemalistische Erbe besonnen. Mit der Revision ihrer Syrien-Politik haben sie sich der russisch-iranischen Linie angenähert. Als Gegenleistung nimmt nun Moskau Rücksicht auf Ankaras Befindlichkeiten im Umgang mit den syrischen Kurden. Für beide Seiten sind es höchst pragmatische Beziehungen, die auch eine Reihe von Widersprüchen beherbergen. So haben sich die russischen Truppen in Afrin und Manbidsch wie ein Schutzschild vor kurdischen Milizen positioniert.

Mit großem Aufwand ist es dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gelungen, den Bürgerkrieg in Syrien zu wenden und seinen Protegé Assad zu stärken. Sein nächstes Ziel ist es, den Waffenstillstand zu konkretisieren und den Friedensprozess voranzubringen. Dafür braucht er neue Partner, die wenig Vorbehalte gegen das Assad-Regime haben und Moskaus Vision einer dezentralen Nachkriegsordnung für Syrien teilen. In Moskau wird daher die neue ­Syrien-Politik der Türkei sehr genau verfolgt. Durch partnerschaftliche Beziehungen zur PYD möchte Moskau verhindern, dass die Kurden gänzlich in die Arme Washingtons getrieben werden und somit für mehr ­eigenen Handlungsspielraum in Syrien sorgen.

Auch wenn Vertreter des Iran und der Türkei bei den Waffenstillstandsverhandlungen in Moskau und Astana mit am Tisch saßen, waren es primär russische Veranstaltungen. Gemeinsam haben Russland, die Türkei und Iran nun in Sotschi eine große Konferenz der syrischen Konfliktparteien einberufen, um die Suche nach einer politischen Lösung für den Bürgerkrieg zu beschleunigen. Doch die Annäherung Ankaras an Russland wird auch hier an Grenzen stoßen – immerhin ist und bleibt die Türkei Mitglied der NATO.

Keiner der Großmächte, weder den USA noch Russland, brennt die Kurdenfrage so unter den Nägeln wie der Türkei. Auf Dauer wird die AKP-Regierung nicht umhinkommen, einen neuen Anlauf zu Gesprächen mit den Kurden in ihrem eigenen Land zu unternehmen. Anschließend muss sie versuchen, mit den Kurden in Syrien ähnlich intensive wirtschaftliche und politische Beziehungen aufzubauen wie sie es mit den irakischen Kurden bereits getan hat. Als ein Land, das drei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen hat und 60 Prozent der weltweit lebenden Kurden zu seinen Staatsbürgern zählt, hat die Türkei keine andere Wahl, als jedes Projekt zu unterstützen, das die Spannungen im Nachbarland lindert.

Dr. Savas Genc ist Visiting Scholar (Ale­xander von Humboldt Stiftung, PSI) am Institut für Politische Wissenschaft, Heidelberg. Zuvor war er Professor für Internationale Beziehungen in Istanbul.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar-Februar 2018, S. 70 - 74

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