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29. Juni 2018

Trübe Aussichten

In Sachen Erdölförderung ist Russland Weltspitze, auch beim Erdgas spielt es ganz oben mit. Dennoch: Der Energiesektor ist in einem schlechten Zustand. Die vom Kreml geschaffenen Großkonzerne arbeiten ineffizient, für die Förderung schwer zugänglicher Vorkommen fehlt aufgrund der Sanktionen die Hochtechnologie. Besserung ist nicht in Sicht.

Russland verfügt über gewaltige Energieressourcen und produziert 5,1 Prozent der globalen Primärenergie. Als Erdölproduzent war man 2017 Weltspitze, und mehr Erdgas förderten nur die Vereinigten Staaten. Russland war außerdem der weltweit viertgrößte Erzeuger elektrischer Energie und landete beim Kohleabbau auf Rang sechs.

Die Bedeutung der Öl- und Gasindustrie zeigt sich auch in Russlands nationalem Energiemix: Erdgas macht 52 Prozent des Primärenergieverbrauchs aus; Erdöl folgt mit einem Anteil von 22 Prozent vor Kohle und anderen Festbrennstoffen (14,2 Prozent), Kernenergie (5,8 Prozent) und Wasserkraft (5,7 Prozent). Andere erneuerbare und alternative Quellen tragen dagegen nur 0,3 Prozent zum russischen Energiemix bei.

Rund 50 Prozent der russischen Exporteinnahmen stammen aus dem Erdöl- und Erdgasgeschäft. Das kann allerdings kaum darüber hinwegtäuschen, dass sich die russische Energieindustrie in einem schlechten Zustand befindet. Schuld daran sind nicht allein die westlichen Sanktionen oder niedrige Energiepreise. Vielmehr leidet die Industrie, die etwa die Hälfte der russischen Staatseinnahmen erwirtschaftet, unter tiefgreifenden strukturellen Problemen. Einige davon betreffen die gesamte russische Wirtschaft, andere speziell den Öl- und Gassektor.

Ineffizient und verschwenderisch

Ein grundlegendes, systemisches Problem ist die Dominanz der von der Regierung kontrollierten Konzerne wie Gazprom und Rosneft. Diese werden von Bürokraten ineffizient und verschwenderisch geführt. Die Konzernstrukturen sind ein perfekter Nährboden für Korruption, Vetternwirtschaft und die Veruntreuung von Geldern; gleichzeitig verhindern sie Eigeninitiative, Wettbewerb und Innovation. Obwohl der Kreml angekündigt hat, wichtige Unternehmen privatisieren zu wollen, kann das, was tatsächlich geschieht, am ehesten als „schleichende Deprivatisierung“ bezeichnet werden. 1995 förderten staatlich kontrollierte Firmen nur 7,5 Prozent des russischen Erdöls – 2017 lag ihr Anteil bei 63 Prozent.

Privat geführte Unternehmen verschwinden von der Bildfläche. Yukos, Basch­neft, TNK-BP, Udmurtneft, Sibneft, Itera und andere effizient geführte Firmen wurden von Gazprom und Rosneft übernommen, obwohl der finanzielle Effekt der „Konsolidierung“ der Staatsbetriebe unter dem Strich negativ ausfiel. Die Übernahmen haben vor allem die Macht der Bürokraten zementiert, anstatt die Ölindustrie qualitativ zu verbessern. Im Gegenteil: 2016 erzielten Russlands Energieriesen lediglich eine Produktionssteigerung von 1 Prozent, während die verbliebenen kleineren und unabhängigen Firmen ihre Produktionsmenge zusammen um 19 Prozent steigern konnten.

Zum Nachteil der Industrie sinkt die Zahl der kleinen, unabhängigen Produzenten jedoch weiter. Diese Entwicklung verheißt nichts Gutes, wenn man sich vor Augen führt, dass ein Großteil der verbleibenden russischen Ölreserven in teils winzigen Ölfeldern lagert. Deren Ausbeutung ist für die großen Konzerne in der Regel kaum rentabel.

Unter der Führung der Bürokraten entscheiden sich russische Großunternehmen oft für politisch gewollte, aber wirtschaftlich unsinnige Projekte, die hohe Kosten verursachen. Diese werden dann durch Subventionen des ­Kremls, Kredite von staatlich kontrollierten Banken, durch direkte Staatshilfen aus dem russischen Haushalt oder durch Staatsfonds gedeckt. „Befreundete“ Projektpartner melken die Staatskassen dann mit hemmungslos überteuerten Rechnungen.

In manchen Fällen können aber nicht einmal die finanziellen Eigeninteressen gieriger Auftragnehmer die komplett irrationalen und verschwenderischen Entscheidungen erklären, die im Management der Staatskonzerne getroffen werden. So ging Rosnefts Investitionen in Venezuela und der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak von Anfang an jede Geschäftslogik ab. Die Aktivitäten des Unternehmens in der völkerrechtlich umstrittenen Region des Südchinesischen Meeres sorgten gar für einen diplomatischen Affront, der kaum in Russlands außenpolitischem Interesse lag.

Ausländische Investoren nicht willkommen

Die schwierigen Bedingungen für ausländische Investoren ergänzen das traurige Bild der russischen Öl- und Gasindustrie. Eigentumsrechte werden kaum bis gar nicht geschützt, in einigen spektakulären Fällen mussten internationale Firmen unter Druck der Regierung gar ihr Eigentum an staatlich kontrollierte Firmen abtreten.

Offshore-Öl- und Gasförderprojekte und die großen Öl- und Gasvorräte im Inland sind nur für Gazprom und Rosneft zugänglich. Ausländische Investoren können bestenfalls auf eine Minderheitsbeteiligung an einem Joint Venture hoffen oder müssen ihre Beteiligung auf die Bereitstellung von Dienstleistungen und Ausrüstung begrenzen. Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Karl-Georg Wellmann beschrieb das vor einiger Zeit treffend auf einer Konferenz in Washington: „In Russland kannst du nur dann gute Geschäfte machen, wenn du so groß wie Volkswagen und mit Wladimir Putin befreundet bist.“

Laut offiziellen Angaben der russischen Regierung ist die Anzahl der Joint Ventures mit ausländischen Partnern rückläufig: Sie sank von 24 000 im Jahr 2013 auf 17 600 im Jahr 2015. Im Jahr 2016 haben ausländische Firmen in Russland 9700 hundertprozentige Tochtergesellschaften gegründet und haben sich an 3700 neuen Joint Ventures beteiligt. Allerdings wurden im selben Jahr auch 14 600 Tochtergesellschaften und 7000 Joint Ventures wieder aufgelöst.

Die USA und andere Staaten haben 2015 eine Reihe von Wirtschaftssanktionen in Kraft gesetzt, die sich gegen den Erdöl- und Erdgassektor richten. Sie verbieten unter anderem ausländische Beteiligungen an russischen Ölförderprojekten in der Tiefsee, der Arktis und im Schieferölsektor. Wegen des absackenden Ölpreises wurden diese Sanktionen schon bald im Grunde überflüssig: Unabhängig von den Sanktionen rechnet sich die Förderung von Schieferöl (das 70 Prozent der verbliebenen russischen Ölreserven ausmacht) für Russland erst ab einem Preis von mehr als 80 Dollar pro Barrel; und arktisches Off­shore-Öl kann ebenfalls nicht rentabel gewonnen werden, wenn der Barrel-Preis unter 150 Dollar liegt.

Angesichts der derzeit noch weit niedrigeren Weltmarktpreise verlegen sich die russischen Firmen darauf, den Output bestehender, bereits vor Jahren begonnener Projekte zu maximieren. Diese Unternehmungen haben oft schon ein Vielfaches des ursprünglich investierten Kapitals eingebracht. Vor neuen Projekten, die hohe Ölpreise erfordern und frühestens nach einem Jahrzehnt Renditen versprechen, schrecken die russischen Unternehmen derzeit zurück. Dies führt allerdings zu einer schnelleren Erschöpfung der leicht förderbaren Ölreserven und verzögert die Erschließung neuer Ölfelder.

Um die Fördermengen in die Jahre gekommener Projekte zu steigern, werden fortschrittliche Technologien benötigt. Hier wirken sich die Sanktionen stärker aus. So ist Russland abhängig von importierten Geräten für die hydraulische Frakturierung („Fracking“): Von den etwa 70 russischen Fracking-Anlagen wurden nur drei im Inland gefertigt – und „Fertigung“ bedeutet in diesem Fall das Zusammensetzen von im Ausland hergestellten Bauteilen und die Nutzung importierter Chemikalien.

Setzt sich die gegenwärtige Entwicklung fort, dürfte Russlands Ölproduktion 2019/20 ihren Höchststand erreichen und danach um fast zwei Prozentpunkte pro Jahr sinken. Dieser Trend könnte gestoppt und sogar umgekehrt werden, wenn die Regierung die Voraussetzungen für den Import fortschrittlicher Technologien aus dem Ausland schaffen würde – also eine dramatische Revision der russischen Außenpolitik vollziehen würde, damit die Sanktionen gelockert würden. Eine Förderung flexibler und innovativer privater Geschäftsmodelle würde ebenfalls helfen, doch stattdessen wird der Kreml wohl weiter an seinem Kurs festhalten, den Einfluss des Staates auf die großen und entsprechend schwerfälligen Konzerne auszubauen.

Ein Sonderfall ist China: Russland hat seine Rohölexporte in die Volksrepublik in den vergangenen Jahren stetig gesteigert mit dem Ziel, nach 2020 jährliche Liefermengen von etwa 75 Millionen Tonnen zu erreichen. Da die in Sibirien geförderten, eher leichten und schwefelarmen Ölsorten nun überwiegend in den Osten verkauft werden, sinkt die Qualität des Urals-Öls, das in den Westen exportiert wird. Bei diesem handelt es sich um eine Mischung aus schwerem, sehr schwefelhaltigen Rohöl aus dem Ural und leichteren Sorten. Da nun weniger leichtes Öl beigemischt wird, leidet die Qualität. Einige der traditionellen Abnehmer haben deswegen bereits ihre Importe aus Russland gedrosselt.

Riesige Reserven

Russlands Erdgassektor dagegen leidet nicht unter einem Mangel an modernen Technologien. Das Hauptproblem ist hier eine erhebliche Produktionsüberkapazität. Gazprom allein hat derart große Reserven angelegt, dass es seine jährlichen Lieferungen um weitere 200 Milliarden Kubikmeter steigern könnte (2017 betrugen die gesamten russischen Gasexporte 210 Milliarden Kubikmeter). Dass der russische Gassektor nicht weiterwachsen kann, liegt an den mangelnden Absatzmärkten.

Dieses Problem könnte sich noch verschärfen: Der russische Inlandsgasverbrauch dürfte in den kommenden zwei bis drei Jahrzehnten stabil bleiben oder sich nur leicht verringern. Gleichzeitig zögert der neue Großabnehmer China, mit mehr russischem Erdgas zu planen, als es die jährliche Maximalkapazität (38 Milliarden Kubikmeter pro Jahr) der in Bau befindlichen Pipeline „Kraft Sibiriens“ erlauben wird. Hinzu kommt, dass die neue Erdgas­pipeline ihre vorgesehene Kapazität nicht vor dem Jahr 2028 erreichen wird, da Russlands Gasmonopolist erst noch Reserven im Osten des Landes aufbauen und weitere Pipelines errichten muss, um das angestrebte Volumen an exportierbarem Erdgas überhaupt liefern zu können.

In Europa dürfte das russische Erdgas trotz der Konkurrenz durch alte und neue Flüssigerdgas-Produzenten seine dominante Stellung halten, wenn nicht gar ausbauen können. Dank seiner Überkapazitäten, der existierenden, längst nicht ausgeschöpften Infrastruktur, der Schwäche des Rubels, langfristiger Verträge mit Zahlungsgarantien („Take or Pay“-Verträge), Regierungshilfen und dem flexiblen Umgang mit Kunden kann Gazprom die Konkurrenz dort in Schach halten. Obwohl die Nachfrage nach Erdgas in der Europäischen Union bis 2040 nicht ­signifikant steigen wird, dürfte die rückläufige europäische Produktion ausländischen Anbietern Marktlücken öffnen. Analysten von BP sagen voraus, dass Russlands Anteil am von Europa importierten Erdgas von heute 33 Prozent bis zum Jahr 2040 auf 50 Prozent ansteigen wird.

Zudem könnte eine andere Entwicklung Russland in die Karten spielen: Wenn erst einmal alle EU-Mitgliedstaaten mit Import-Terminals für Flüssig­erdgas von anderen Anbietern (etwa aus den USA) ausgestat­tet sind und Zugang zu grenzüberschreitenden Pipelines haben, werden die Verbraucher wahrscheinlich die Sorgen vor einer Abhängigkeit von Russland vergessen und das billigere russische Gas dem Angebot anderer Anbieter vorziehen. Schließlich beschwert sich in Europa auch niemand über eine Abhängigkeit von russischem ­Erd­öl und russischer Kohle – denn hier gäbe es alternative Wege, um diese Rohstoffe zu beschaffen.

Flüssiggas als Zukunftsprojekt

Russlands steigender Anteil am europäischen Gasverbrauch würde aller­dings noch immer nicht ausreichen, um die vorhandenen Lieferkapazitäten auszuschöpfen. Der Kreml will daher auch Russlands Rolle auf dem Weltmarkt für Flüssigerdgas ausbauen.

Um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen, wird sich Moskau nicht auf Gazprom verlassen. Zwar hat der Energieriese einige Flüssigerdgasprojekte im Portfolio (u.a. Shtokman, Wladiwostok, Kharasavei, Ostsee), aber er zeigte sich bislang unfähig, auch nur eines davon tatsächlich umzusetzen. Stattdessen setzt der Kreml nun auf Nowatek, ein Privatunternehmen, dem es erlaubt ist, bei der Schaffung neuer Produktions- und Exportmöglichkeiten für Flüssigerdgas mit ausländischen Partnern und Investoren zusammenzuarbeiten. Das erste Projekt dieser Art ist das Unternehmen Yamal LNG, das von einem Konsortium aus Nowatek , dem französischen Mineralölunternehmen Total, dem chinesischen Ölkonzern CNPC und dem chinesischen Seidenstraßen-Fonds getragen wird. Die Kooperation ist ein Erfolg – allerdings nur, weil die russische Regierung das Projekt von sämtlichen Steuerlasten befreit hat.

Yamal LNG soll pro Jahr 16,5 Millionen Tonnen Flüssigerdgas produzieren. Schon jetzt plant Nowatek drei weitere Projekte im Osten des Landes, hinzu kommen ein geplantes Ausrüstungslager in Murmansk und ein Umschlag- und Handelsplatz für Erdgas auf der Halbinsel Kamtschatka, mit dem der asiatisch-pazifische Raum bedient werden soll.

Diese Aktivitäten sind Teil eines größeren Planes der politischen Führung in Moskau, eine Industrie- und Transportinfrastruktur entlang der Arktisküste zu schaffen. Mit dieser soll Russlands Kontrolle über die Nordostpassage zwischen Europa und Asien gesichert werden. Angesichts dieses Zieles scheut der Kreml weder Kosten noch Mühen, um die Nowatek-Projekte seinen ausländischen Partnern schmackhaft zu machen.

Mehr Marktwirtschaft?

Seit 2012 haben mehrere russische Expertengruppen an einem Plan gearbeitet, um Russlands heimischen Gassektor, der heute stark reguliert ist und in dem Gazprom ein absolutes Monopol hält, in einen echten Markt zu verwandeln. Die Experten kamen zu dem Schluss, dass eine Liberalisierung des russischen Gasmarkts unmöglich ist, solange nicht alle Gasproduzenten frei exportieren können und ein neues – Gazprom gänzlich unähnliches – staatliches Gasnetzunternehmen als Betreiber der nationalen Pipeline-Infrastruktur geschaffen wird. Der Kreml schreckt allerdings vor solch weitreichenden Reformen zurück. Es gibt Befürchtungen, dass die Gasversorgung innerhalb des Landes während der Übergabe der Betreiberverantwortlichkeiten von Gazprom an ein neues, unabhängiges Management gefährdet sein könnte. Die knappen Staatsfinanzen sind ein weiteres Reformhindernis. Das russische Finanzministerium erwartet, dass eine solche Reform zu Umsatzeinbußen führen würde.

All das bedeutet, dass der russische Gassektor bis auf Weiteres dazu verdammt ist, von Gazproms Transport- und Exportmonopol dominiert zu werden. Und leider handelt es sich bei Gazprom nicht einfach um ein profitorientiertes Unternehmen, dem darüber hinaus die Verwaltung des nationalen Gasnetzes und der Exportwege obliegt – Gazprom ist auch ein Instrument für nichtkommerzielle, das heißt politische Projekte. Die Kosten für Gaspipelines wie „Kraft Sibiriens“, Turkish Stream und die beiden Nord-Stream-Projekte bedeuten hohe finanzielle Belastungen für das Unternehmen und verschlingen einen Großteil seiner Gewinne.

Russlands Erdöl- und Erdgasindustrie ist in keinem guten Zustand. Beobachter erwarten, dass die russische Ölproduktion ihren Zenit erreicht hat und bald zurückgehen wird, wenn auch nur langsam. Die Entwicklung der Gasproduktion ist von neuen Flüssiggasprojekten abhängig, die enorme staatliche Subventionen benötigen, um rentabel zu sein. Angesichts dieser strukturellen Probleme und der außenpolitischen Selbstisolation Russlands – die zu den Sanktionen geführt hat –, erscheint es beinahe unmöglich, dass sich die Lage dieses wichtigen Industriezweigs in naher Zukunft entscheidend verbessern wird.

Mikhail Krutikhin ist Mitgründer und Analyst bei der privaten Moskauer Beratungsfirma RusEnergy.

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Bibliografische Angaben

IP Wirtschaft 2, Juli - Oktober 2018, S. 58 - 63

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