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01. Dez. 2005

Tief enttäuscht: der Souverän

Werkstatt Deutschland

Die Wähler von CDU/CSU und SPD wollten alles Mögliche – bloß nicht diese Regierung

Bei der Bundestagswahl am 18. September wurde die rot-grüne Bundesregierung abgewählt, weil bei der Mehrheit der Bürger der Eindruck überwog, Rot-Grün habe das Land sieben Jahre lang eher schlecht regiert. Dabei waren die Verluste des kleineren Koalitionspartners eher gering: Bislang können sich die Grünen immer noch der Unterstützung einer Wählergruppe sicher sein, die eine gemeinsame, eher an postmaterialistischen Werten orientierte politische Grundeinstellung verbindet. Die SPD aber erlitt deutliche Verluste, weil viele Bürger sie für unfähig hielten (und zum großen Teil noch halten), das Land zu regieren. Nach dem heftigen Widerstand weiter Teile der Partei gegen Schröders Reformkurs zweifelten viele auch daran, dass diese Partei überhaupt regieren wolle. Letztlich hielten nur zwei Gruppen von Wählern der SPD die Treue: diejenigen, die Gerhard Schröder als Kanzler behalten und Angela Merkel verhindern wollten, und jene, die in der SPD nach deren Linksschwenk im Wahlkampf ein Bollwerk gegen die von der Union vorgesehenen Grausamkeiten sahen.

Beide Gruppen sind nun nach Bildung der Großen Koalition enttäuscht: Weder bleibt Schröder Kanzler, noch konnten die von der SPD im Wahlkampf angeprangerten Grausamkeiten („Merkelsteuer, die wird teuer!“) verhindert werden. Dementsprechend findet nicht einmal ein Drittel der der SPD verbliebenen Wähler die schwarz-rote Koalitionsvereinbarung gut.

Aber nicht nur die SPD-Wähler sind mit dem Koalitionsvertrag eher unzufrieden – auch zwei Drittel der der Union noch verbliebenen Wähler murren. Beide Wählergruppen sehen ihre Erwartungen nicht erfüllt: Während die SPD-Wähler sich mit Steuer- und Abgabenerhöhungen sowie einer Kanzlerin Merkel abfinden müssen, sind die CDU/CSU-Wähler darüber enttäuscht, dass die von der Union im Wahlprogramm angekündigten Veränderungen in Staat und Gesellschaft nicht in dem erwarteten Maße umgesetzt werden. Weder SPD- noch Unionswähler finden ihre Erwartungen also im Koalitionsvertrag wieder.

Entsprechend gering sind die Hoffnungen, dass die neue Regierung es besser machen wird als die bisherige. Nur eine Minderheit der Bürger erwartet, dass mit der Großen Koalition das wirtschaftliche Wachstum beschleunigt, die Lage auf dem Arbeitsmarkt verbessert, die Steuergerechtigkeit größer, die Renten verlässlicher oder die Zukunftschancen der Kinder und Enkel rosiger würden. Dass die neue Regierung die Verschuldung der öffentlichen Haushalte reduzieren wird, glaubt ebenfalls nur eine kleine Minderheit; mehr Bürger rechnen damit, dass die Verschuldung eher noch ansteigt. Und außenpolitisch befürchten viele, dass das unter dem Führungsduo Schröder und Fischer gestiegene Ansehen Deutschlands in der Welt nunmehr wieder sinken werde.

Nur jeder zehnte Bundesbürger glaubt, dass sich seine persönliche ökonomische Lage durch die Politik der Großen Koalition verbessern wird. Die große Mehrheit rechnet damit, dass ihre Situation so bleibt wie unter Rot-Grün oder noch schlechter wird. So ist auch fraglich, ob die Hoffnung der neuen Koalitionäre aufgeht, dass 2006 ein Wachstums-impuls entsteht; denn nur jeder 20. Bürger will – trotz der für 2007 anstehenden Mehrwertsteuererhöhung – derzeit größere Anschaffungen vorziehen.

Insgesamt haben fast drei Viertel aller Bundesbürger den Eindruck, der ausgehandelte Koalitionsvertrag konzentriere sich zu sehr auf fiskalische Nickeligkeiten. Vermisst wird jedweder Hinweis darauf, wie diese neue Bundesregierung die von den Bürgern ja seit langem wahrgenommenen Probleme im Land langfristig angehen und lösen will. Manch forscher Auftritt neuer Kabinettsmitglieder steht insofern in krassem Gegensatz zu dieser eher pessimistischen Erwartungshaltung der Bürger.

Dabei wäre etwas mehr Demut bei den Repräsentanten von CDU/CSU und SPD allein schon aufgrund des Wahlergebnisses angebracht. Die jetzige Koalition ist schließlich nur deshalb zustande gekommen, weil unter den gegenwärtigen Konstellationen andere Alternativen politisch nicht durchsetzbar waren.

Diese Koalition der Wahlverlierer sollte sich deshalb immer darüber im Klaren sein, wie schmal die den beiden Parteien verbliebene Wählerbasis ist. Nur etwas mehr als die Hälfte aller Wahlberechtigten (53 Prozent) gaben am 18. September CDU, CSU oder SPD ihre Stimme. Geringer war die Legitimationsbasis für die beiden Volksparteien zuvor nur bei der ersten demokratischen Wahl im Nachkriegsdeutschland, der Bundestagswahl 1949. Und einige der „kleinen“ Koalitionen aus Union bzw. SPD mit der FDP hatten eine ähnlich große Wählerlegitimation wie die jetzige Große Koalition – so die zweite und vierte Regierung Adenauer 1953 und 1961 mit 54 bzw. 49 Prozent oder die zweite Regierung Brandt 1972 bzw. die erste durch Wahlen bestätigte Regierung Kohl 1983 mit ebenfalls jeweils 49 Prozent (Anteil der Koalitionsparteien zusammen, bezogen auf alle Wahlberechtigten).

Hinzu kommt, dass Angela Merkels Anspruch auf das Amt des Bundeskanzlers ebenfalls nicht ohne weiteres aus dem Wählerwillen abgeleitet werden kann. Ihr Anspruch kann allenfalls formal damit begründet werden, dass die Union einige Stimmen mehr als ihr Koalitionspartner SPD erhalten hat. Doch außer Adenauer bei seiner ersten Kanzlerschaft 1949 (als das politische System noch nicht voll etabliert war) hat noch nie eine den Kanzler stellende Partei eine so schwache Wählerbasis gehabt wie die Union 2005. Nur 27 von 100 Wahlberechtigten gaben am 18. September der Union ihre Stimme. Starke Kanzler konnten sich auf eine deutlich größere Wählerbasis ihrer Partei stützen. So erhielt z.B. 1957 die CDU/CSU unter Adenauer 42 oder 1983 unter Kohl 43 Prozent. Und 41 Prozent betrug Willy Brandts SPD-Basis im Jahr 1972 .

Außerdem lag und liegt Merkel vor und nach der Wahl bei der Kanzlerpräferenz (also der Frage, wen die Bürger direkt wählen würden) deutlich hinter Schröder: Kurz vor der Wahl hätten sich 50 Prozent für Schröder, aber nur 30 Prozent für Merkel entschieden. Beim Antritt der Großen Koalition liegt Schröder mit 45 Prozent immer noch 15 Prozentpunkte vor der neuen Kanzlerin. Bedacht werden sollte auch, dass die Union in nur vier Bundesländern (Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen) mehr Stimmen als die SPD erhielt. Ohne die katholischen Stimmen aus Bayern hätte die Protestantin Merkel keinerlei Anspruch auf das Kanzleramt geltend machen können.

Die Große Koalition kann sich zu Beginn ihrer Amtszeit nicht auf das Vertrauen der Mehrheit der Bürger stützen. Sie muss es erst zurückgewinnen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2005, S. 96 - 97.

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