Technologischer Imperialismus
Im geopolitischen Kontext wanken nicht nur Konzepte wie „digitale Souveränität“, sondern auch die Perspektive einer strategischen Autonomie Europas, die unabhängig von den Technopolen der USA und Chinas ist. Ein Plädoyer für mehr Realismus.
Die vergangenen 15 Jahre waren in Deutschland von einer wachsenden Nervosität hinsichtlich technologisch bestimmter Abhängigkeit geprägt. Dabei haben sich wirtschaftliche und politische Motive vermischt: Insbesondere der Aufstieg der amerikanischen und chinesischen Digitalindustrie wurde als ein ökonomisches wie auch ein sicherheitspolitisches Risiko erfasst.
Wie zukunftsfähig könne das deutsche Produktionsmodell mit seinen traditionellen Kernindustrien und seinen Hidden Champions des Weltmarkts in einer globalen Wirtschaft sein, die zunehmend von der Kontrolle von Daten, digitalen Netzwerken und radikal skalierbaren neuen Technologien geprägt ist? Wie konkurrenzfähig eine Wirtschaft, in der wenige außereuropäische Digitalkonzerne neu entstehende Märkte vollumfänglich besetzen? Welchen Punkt könne ein Land machen, das zu groß ist, um sich auf eine wirtschaftliche Nische zu konzentrieren, aber zu klein, um eigenständig in den entscheidenden Feldern zu konkurrieren?
Verschärft wurden diese Dilemmata durch politische Erwägungen: Gerade für Deutschland waren nicht nur die Exportmärkte Chinas und der USA zu wichtig, um offensive politische Entscheidungen gegen die Interessen außereuropäischer Digitalunternehmen zu treffen. Auch mit Blick auf nationale Sicherheitsinteressen war man lange bereit, problematische wirtschaftliche Praktiken prinzipiell zu akzeptieren: die aggressiven Strategien der Monopolbildung von Big Tech, die verbreitete Ignoranz gegenüber nationalen Gesetzen oder das Setzen auf besonders arbeitnehmerfeindliche Prozesse bei Unternehmen wie Amazon, Uber, Meta und anderen. Auch regelmäßige Skandale um den zersetzenden Einfluss sozialer Medien auf die politische Öffentlichkeit oder der grenzwertige Umgang mit Bürgerrechten in einer Ökonomie personenbezogener Daten wurden praktisch nie zu einer Quelle öffentlicher Konfrontation oder ernstgemeinter Versuche, von solchen Unternehmen unabhängig zu werden.
Stattdessen setzte man in Deutschland und Europa auf ein Agieren innerhalb einer regelbasierten Ordnung, in der Hoffnung, auch jene daran binden zu können, die sich ihr lediglich instrumentell näherten: etwa um, wie China, Technologietransfers zu erzwingen oder, wie die USA, wirtschaftliche und politische Vorteile innerhalb der EU zu erlangen.
Gegen die Marginalisierung europäischer Unternehmen in der Digitalwirtschaft entwarf man zum einen auf europäischer Ebene eine ganze Phalanx gesetzlicher Regularien. Deren wichtigste Aushängeschilder sind der Digital Services Act (DSA), der die Betreiber sozialer Medien auf ein stärkeres Housekeeping in der Online-Öffentlichkeit verpflichtet, und der Digital Markets Act (DMA), der monopolistische Praktiken führender Digitalunternehmen mit empfindlichen Strafen versehen sollte. Gegen den Innovationsrückstand wollte man zum anderen in verschiedenen Mitgliedstaaten im Rahmen von Forschungs- und Entwicklungsinitiativen vorgehen – in Deutschland unter anderem im Rahmen der 2018 (!) verabschiedeten KI-Strategie des Bundes.
Zudem nahm in den Folgejahren auch eine Dynamik an Fahrt auf, die in Deutschland als neue Industriepolitik thematisiert wurde. Hier ging es um Prozesse der Förderung von strategisch als relevant erachteten jungen Industrien und neokorporativer Maßnahmen zur Errichtung digitaler Infrastrukturen, wie das seinerzeit vom Wirtschaftsministerium massiv beworbene Projekt Gaia X, das eine von amerikanischen und chinesischen Leitunternehmen unabhängige Cloud-Architektur und -Infrastruktur ausgehend von einem europäischen Konsortium errichten wollte. All dies lief unter dem Schirm einer angestrebten digitalen Souveränität Europas und wirkte so lange halbwegs plausibel, wie man hoffte, das bestehende Globalisierungsmodell mit seinen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Elementen retten zu können. Rückblickend war diese Hoffnung bestürzend naiv.
Von Globalisierung zu Geopolitik
Heute ist es Common Sense, dass wir die Ära der regelbasierten Globalisierung zugunsten einer neuen Geopolitik verlassen haben, in der die „Technopole“ (Maximilian Mayer) der USA und Chinas um technologische Vorherrschaft ringen. Die Festtagsreden über europäische oder deutsche Digitalsouveränität klingen längst hohl. Die unter diesem Label errichteten Leuchtturmprojekte haben rapide an Strahlkraft verloren oder sind praktisch erloschen.
Wie es beispielsweise um die Eignung des DSA bestellt ist, eine regelbasierte Öffentlichkeit im Internet zu gewährleisten, konnte man im jüngsten Bundestagswahlkampf beobachten, als Elon Musk über seine Plattform X aktiv gegen die amtierende Bundesregierung agitierte und der AfD eine globale Bühne bot.
Der DMA dagegen, der die Marktmacht von US-Plattformen brechen oder einhegen sollte, schien im Sommer zur Verhandlungsmasse im transatlantischen Ringen um Trumps Importzölle geworden zu sein. So war offensichtlich ein US-Technologieunternehmen versammelnder Beirat zu jenem Gremium geplant, das zur Einschätzung und Sanktionierung des Missbrauchs der Marktmacht eben dieser Firmen im Rahmen des DMA gedacht war. In anderen Worten: Big Tech sollte womöglich über die Klassifizierung der eigenen Marktposition mitentscheiden können. Medienberichte legten nahe, dass dies ein Angebot an die Trump-Administration sein könnte: Man stellt in Aussicht, es mit der Marktregulierung nicht so ernst zu nehmen, und erwartet im Gegenzug einen privilegierten Zugang zum US-Markt, der vor allem für die deutsche Autoindustrie lebenswichtig ist.
Auch die KI-Strategie des Bundes scheint weitgehend im Sande verlaufen zu sein. Sie förderte neben dezentral organisierten Forschungsprojekten zu unterschiedlichen Themen zahlreiche kleinere Maßnahmen zur Kompetenzsteigerung, die man zu großen Teilen wohl als Beratungstätigkeiten beschreiben müsste und deren Impact auf die Anwendung Künstlicher Intelligenz im Mittelstand nicht nur ziemlich beschränkt gewesen sein dürfte. Schwer vorstellbar ist auch, dass die Förderung der KI-Nutzung deutschen oder europäischen KI-Anbietern viel genutzt haben dürfte. Wahrscheinlicher ist, dass die entsprechenden Technologien im Rahmen bestehender veralteter IT-Anwendungen zu großen Teilen von genau der amerikanischen Konkurrenz kamen, der man unter dem Schirm digitaler Souveränität doch gerade das Feld der KI-Zukunftsanwendungen streitig machen wollte.
Wie souverän Staaten unter den Bedingungen von Markt und Technologie noch sein können, ist offen
Echte Infrastrukturfragen waren von Programmen wie der KI-Strategie ohnehin nicht berührt gewesen. Diese sollten vor allem im Rahmen des Projekts Gaia-X bearbeitet werden, in dem sich ab 2019 verschiedene europäische Cloud-Anbieter zusammenschlossen, um eine souveräne Infrastrukturlösung für Europa zu errichten. Das Projekt wurde von Beginn an von Kontroversen um die Beteiligung amerikanischer und chinesischer Hyperscaler (große Anbieter von Cloud-Diensten) und IT-Firmen – wie der mit amerikanischen Sicherheitsapparaten aufs Engste verbundenen Überwachungsfirma Palantir – überschattet. Im Zeichen der regelbasierten Ordnungsvorstellung hoffte man wohl lange Zeit, die außereuropäische Konkurrenz für die eigenen Ziele einspannen zu können.
Spannungen und Interessenkonflikte waren allerdings von Anfang an programmiert. Schon Ende 2021 verließ der französische Cloud-Anbieter Scaleway im Kontext des unter anderem von Huawei, Alibaba und AWS gesponsorten Gipfels des Konsortiums die Gruppe. Im Frühjahr 2025 folgte der Austritt des deutschen Anbieters Nextcloud, dessen Gründer Frank Karlitschek Gaia-X für „tot“ erklärte. Das Projekt repräsentiere keine europäische Alternative zu den amerikanischen und chinesischen Hyperscalern.
Wie viel Souveränität ist möglich?
Auch andere Bausteine der neuen Industriepolitik wie das vom US-Unternehmen Intel geplante Werk für Halbleiter in Sachsen-Anhalt wurden nicht realisiert. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine verschob sich der Fokus der Investitionspolitik zudem verstärkt auf Fragen von Sicherheit und Rüstung und damit auf jenes Feld, das das eigentliche Substrat staatlicher Souveränität bildet.
Doch auch hier sind Zweifel angebracht, ob staatliche Souveränität unter den Bedingungen der technologischen Entwicklungen und herrschenden Marktverhältnisse überhaupt möglich ist. Man muss nicht bis zu Spekulationen um einen möglichen Kill-Switch in den von der Bundeswehr bestellten amerikanischen F16-Kampfflugzeugen gehen, um die von ihnen ausgehenden Abhängigkeiten (Ersatzteile, Wartung, Software-Updates) zu ermessen. Im virtuellen Raum hat die Bundeswehr einstweilen angekündigt, relevante Teile ihrer IT-Kapazitäten in der Cloud des amerikanischen Tech-Giganten Google hosten zu lassen. Zugegeben, es wird hier eine Multi-Cloud-Strategie verfolgt, in deren Rahmen vermutlich kritischere Daten und Prozesse anderweitig gelagert und verarbeitet werden. Doch genau in dieser Konstruktion zeigt sich bereits die überspannende Logik: Digitale Souveränität im Sinne einer signifikanten Autonomie des Staates oder gar der Wirtschaft ist längst nicht mehr das verfolgte Ziel. Viel eher wird der Ansatz des De-Riskings verfolgt, indem Abhängigkeiten von außereuropäischen Anbietern zwar abgebaut und breiter gestreut werden, jedoch nicht im Sinne des De-Couplings.
Deutschland und Europa haben sich in der Folge mit einer postsouveränen Position abgefunden, in der nur mehr panisch nach kritischen sogenannten Choke Points gesucht wird, bei denen eigenständige Lösungen unbedingt gebraucht werden, während die Technologieentwicklung zugleich pausenlos voranschreitet. Die Umstellung der Zielorientierung von digitaler Souveränität auf einen Zustand der ständigen digitalen Dringlichkeit gleicht einer permanenten Anpassung an die von Legacy-Systemen, Marktbedingungen und geopolitischer Großwetterlage diktierten Veränderungen, bei der die Europäer dem Wachstum der technologisch erzeugten Abhängigkeiten und Vulnerabilitäten immer weiter hinterherhecheln. Digitalisierung schafft Regeln und Handlungsfähigkeit. Aber in einer postsouveränen Position ist die Handlungsfähigkeit der einen die Vulnerabilität der anderen, hier: der Europäer.
Digitaler Merkantilismus war einmal
In einer regelbasierten Ordnung wäre all dies nur ein wirtschaftliches Problem gewesen, dem man sich über Investitions- und Innovationspolitik hätte widmen können. Im geopolitischen Kontext geht es aber nicht mehr primär um einen Wettbewerb der Unternehmen. Vielmehr steht deren politische Instrumentalisierung in Aussicht.
Ein Fall, der diesbezüglich in jüngerer Vergangenheit für Aufsehen sorgte, war die durch Microsoft operationalisierte Sperrung der Emailadresse von Karim Khan, des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, nachdem Trump diesen wegen des Haftbefehls gegen den israelischen Premier Netanjahu mit Sanktionen belegt hatte. Hier wurde also die technologische Abhängigkeit einer eigentlich unabhängigen internationalen Institution für politische Zwecke instrumentalisiert – ein Beispiel dafür, was in der postsouveränen Konstellation auch in viel größerem Umfang prinzipiell möglich ist, um geopolitische Dominanz durchzusetzen.
Heute geht es nicht mehr um den Wettbewerb von Unternehmen, sondern um ihre Instrumentalisierung
Den zeithistorischen Kontext einer solchermaßen ausbuchstabierten internationalen Politik bildet der Übergang einer älteren Phase der globalen Digitalisierung in eine neue. In meinem 2019 erschienenen Buch „Digitaler Kapitalismus“ habe ich die letzte dieser Episoden als privatisierten Merkantilismus beschrieben. Mein Argument war, dass führende Leitunternehmen der Digitalisierung, allen voran Google, Apple, Amazon und Meta, nicht einfach Anbieter spezifischer Güter auf neuen Märkten seien. Vielmehr operierten sie mit ihren Plattformen selbst als Märkte und erwirtschafteten Profite vor allem durch die Besteuerung anderer Teilnehmer ihrer marktgleichen digitalen Ökosysteme: Die Appstores von Google und Apple etwa nahmen teils knapp ein Drittel aller Umsätze, die Drittanbieter dort erwirtschafteten; Amazon verdiente prächtig durch die Bereitstellung seiner Plattform für freie Händler; Uber und andere Fahrtenanbieter-Apps operierten als Märkte für selbstständige Fahrer, an deren Ausbeutung sie bestens verdienten.
All dies geschah im Kontext der fortschreitenden Integration immer größerer Teile der Wirtschaft in eben jene Plattformen, weshalb diese letztlich als Infrastrukturen der Wirtschaft operierten. Die großen Digitalkonzerne ähnelten dieser Lesart zufolge also eher den Handelskompanien der merkantilistischen Epoche als den Großkonzernen des Industriezeitalters, da sie die exklusive Kontrolle über immer größere Teile globaler Märkte anstrebten, ganz wie es einst etwa die East India Company für den Handel mit dem indischen Subkontinent getan hatte.
Während die Handelskompanien der merkantilistischen Epoche vor allem der politischen Macht der jeweiligen Fürsten dienen sollten und aus diesem Grund von ihnen mit spezifischen Privilegien wie dem Ausheben eigener Truppen versehen wurden, ging es bei der Expansion von Big Tech während der 2000er und 2010er Jahre vor allem um die privatwirtschaftlichen Gewinne der betreffenden Konzerne. Daher privatisierter Merkantilismus.
Das Beispiel der East India Company mag ein gutes Modell für die nächste Phase der Digitalisierung sein, die weniger von den ökonomischen Zielen einzelner Unternehmen und stärker von den politischen Interessen der nach Hegemonie strebenden Technopole bestimmt sein wird. Der privatisierte Merkantilismus weicht in diesem Zusammenhang einem technologischen Imperialismus, in dem staatliche Interessen mit den Druckmitteln der zuvor errichteten Infrastrukturen durchgesetzt werden.
Statt Souveränität und Strategiefähigkeit rücken Fragen des taktischen Navigierens in einem enger werdenden politischen Raum in den Fokus
Die oben exemplarisch aufgeführten Fälle dürfen als Hinweise darauf verstanden werden, dass wir uns bereits in dieser Phase befinden: Wenn die zarten Bestrebungen digitaler Souveränität wie im Fall des DMA, der Google Cloud bei der Bundewehr oder auch schlicht des zwar breit problematisierten, aber dennoch ungehindert fortbestehenden Quasi-Monopols von Microsoft in praktisch jeder öffentlichen Verwaltung der Bundesrepublik zugunsten eines Managements kritischer Choke Points und des Werbens um die Gunst des Hegemonen aufgegeben sind, dann hat man sich dessen politischen Interessen im Grunde bereits ergeben.
Die Einsicht in die eigene Abhängigkeit dürfte die Grundlage dieser Entscheidung sein. Direkte politische Sanktionierungen mit Mitteln der von außen kontrollierbaren Infrastrukturen sind gar nicht mehr notwendig. Alle kennen das Druckmittel, das prinzipiell in den Dienst politischer Interessen genommen werden kann. Im Falle Indiens wurde die politische Macht hinter den privatwirtschaftlichen Interessen der East India Company erst zu dem Zeitpunkt vollkommen sichtbar, als es im Rahmen des Sepoy-Aufstands von 1857 zu einer Rebellion gegen die Handelskompanie kam. Das Ergebnis der Niederschlagung dieses Aufstands durch die Briten war nicht nur die formale Auflösung der East India Company, sondern die formelle Unterstellung Britisch-Indiens als Kolonie unter die Krone.
Die imperiale Macht über den Subkontinent war freilich in den vorangegangenen Jahrhunderten bereits im Rahmen wirtschaftlicher Expansion und Dependenz installiert worden. Nimmt man diese Analogie ernst, wanken nicht nur Konzepte wie jenes der digitalen Souveränität, sondern auch die Perspektive einer strategischen Autonomie Europas, die unabhängig von den beiden Technopolen sein könnte.
Statt Souveränität und Strategiefähigkeit rücken Fragen des taktischen Navigierens in einem enger werdenden politischen Raum in den Fokus. Es geht mittelfristig gar nicht mehr darum, sich unabhängig zu machen, sondern darum, Handlungsspielräume in der Abhängigkeit so gut wie möglich zu erhalten, während man gleichzeitig die eigenen Handlungsressourcen und Resilienz stärkt.
Postsouveräne Zustände sind gerade im Rahmen geopolitischer Konkurrenz von steten Spannungen gekennzeichnet. Aber: Spannungen gebären auch Optionen. Die hier vielversprechendste politische Orientierung ist ein radikaler Bezug auf den Augenblick, der auf sich öffnende Türen lauert, um seinen Fuß bei jeder Gelegenheit nachdrücklich hineinzustellen.
Internationale Politik Special 4, November 2025, S. 28-33
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