Souveränität in Partnerschaften
Die Digitalstrategie der EU will globale Kooperation mit technologischer Selbstbestimmung ver- binden – ein schwieriger Spagat in einem von Machtkonflikten geprägten digitalen Zeitalter.
Als Henna Virkkunen im September 2024 ihre Arbeit als EU-Kommissarin für Technologische Souveränität aufnahm, formulierte Kommissionschefin Ursula von der Leyen ein klares Mandat: „Ihre Aufgabe ist es, Europas Bemühungen um die Gestaltung einer wettbewerbsfähigen, widerstandsfähigen und integrativen digitalen Zukunft zu leiten. Wir müssen unsere Stärken nutzen, um unsere Führungsposition bei strategischen Technologien zu behaupten oder zu erreichen, wesentliche Voraussetzungen für technologische Souveränität und Widerstandsfähigkeit zu schaffen und die Kommerzialisierung von Deep-Tech-Innovationen zu fördern.“ Dieses Ziel steht für Europas Antwort auf die sich verändernde globale digitale Ordnung, in der technologische Führungsstärke zur entscheidenden Frage wird.
Knapp ein Jahr später, am 5. Juni 2025, konkretisierte die Kommission mit der Veröffentlichung der internationalen Digitalstrategie diesen Auftrag und machte gleichzeitig deutlich, dass sich die europäische Vision zunehmend nach außen und an potenzielle Verbündete für einen gemeinsamen „europäischen Weg“ der globalen digitalen Transformation richtet. Die Strategie befasst sich explizit mit dem außenpolitischen Agieren der EU in der Digitalpolitik und zielt darauf ab, Europa als wettbewerbsfähigen, verlässlichen und einflussreichen Akteur in der globalen digitalen Transformation zu positionieren. Erreicht werden soll dieses Ziel unter anderem durch die Förderung wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit Partnerländern sowie durch die Gewährleistung digitaler Sicherheit in der EU und bei ihren Kooperationspartnern.
Der Ehrgeiz der EU, ihre digitale Selbstbestimmung und technologische Autonomie auszubauen, während sie gleichzeitig internationale Partnerschaften pflegt, ist vor dem Hintergrund der globalen Machtkonkurrenz im digitalen Raum zu verstehen. Digitale Technologien sind heute zentrale Ressourcen für ökonomische Stärke, Wettbewerbsfähigkeit und politische Einflussnahme. Sie haben sich von bloßen Werkzeugen der Kommunikation und wirtschaftlichen Transaktion zu entscheidenden Instrumenten strategischer Macht entwickelt. Wer über leistungsfähige Netzwerkinfrastrukturen, fortgeschrittene Künstliche Intelligenz und die Kontrolle über große und sensible Datenmengen verfügt, sichert sich nicht nur erhebliche Wettbewerbsvorteile, sondern gestaltet auch die Rahmenbedingungen der globalen Ordnung insgesamt mit.
Die Digitalisierung wird immer mehr zum Treiber geoökonomischer und geopolitischer Konflikte
Die Digitalisierung wird damit immer mehr zum Ausgangspunkt und Treiber geopolitischer und geoökonomischer Konflikte. Insbesondere die historisch gewachsene Dominanz der USA im Digitalsektor und ihre akzentuierte Rivalität mit China prägen diese Dynamik. Der eskalierende Wettbewerb zwischen den Großmächten zeigt sich in vielfältigen Formen: von gezielten US-Sanktionen gegen chinesische Technologieunternehmen wie Huawei über Handelskonflikte, etwa in Form von Tech-Zöllen, bis hin zum Kampf um die Kontrolle kritischer Netzinfrastruktur wie 5G-Netze. Hinzu kommen Exportkontrollen, regulatorische Maßnahmen und ein Wettlauf um Innovationen in Schlüsselbereichen wie KI, Halbleiterfertigung und Cloud-Computing, die nicht nur wirtschaftliche, sondern auch sicherheitspolitische und strategische Bedeutung besitzen.
Europa befindet sich in diesem geopolitischen Spannungsfeld zwischen Peking und Washington und muss dabei eine Balance zwischen Kooperation, Wettbewerb und Eigenständigkeit finden. So verhängte das Weiße Haus in den Jahren 2019 und 2020 Sanktionen gegen Huawei, nachdem dem Unternehmen vorgeworfen worden war, Daten an die chinesische Regierung weiterzugeben. Die EU reagierte auf den Druck der USA, es ihr gleichzutun, deutlich vorsichtiger und uneinheitlich. Während die meisten Länder sowie die Kommission einen vollständigen Ausschluss chinesischer Technologie ablehnten, führten zahlreiche EU-Mitgliedstaaten umfassende Sicherheitsbewertungen durch und setzten auf eine Diversifizierung ihrer 5G-Anbieter, um wirtschaftliche Abhängigkeiten zu vermeiden und Sicherheitsrisiken zu minimieren.
Ähnlich verhält es sich im faktischen Konkurrenzkampf um Exportkontrollen, besonders im Halbleitersegment. Auch hier bemüht sich die EU, unter anderem durch die Verabschiedung des European Chips Act, ihre heimischen Kapazitäten zu stärken und unabhängiger von globalen Lieferketten zu werden. Spätestens während des Ukraine-Krieges oder der israelischen Angriffe auf den Iran wurde die geopolitische Brisanz digitaler Infrastruktur offenkundig – nicht zuletzt durch die zentrale Rolle privater außereuropäischer kommerzieller Akteure wie Elon Musks Satelliten-Internetdienst Starlink, der insbesondere in der Ukraine eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung digitaler Kommunikationsverbindungen für das Militär spielt.
Selbst wenn gemeinsame Interessen weiterhin die Grundlage der transatlantischen Partnerschaft bilden, befindet sich die EU angesichts der aktuellen weltpolitischen Lage nicht länger in der privilegierten Position, sich uneingeschränkt auf die USA als digitalen Hegemon verlassen zu können. Diese neue Dynamik zeigt sich exemplarisch im eskalierenden Konflikt um die Besteuerung und Regulierung amerikanischer Plattformunternehmen.
So drohte ein US-Memorandum vom Februar 2025 mit Zöllen gegen Länder, die die Wettbewerbsfähigkeit amerikanischer Technologieunternehmen gefährden – was als direkte Reaktion auf europäische Regulierungsvorstöße verstanden wurde, wie etwa die Ankündigung der Europäischen Kommission, das Anti-Coercion Instrument (ACI) wegen wirtschaftlicher Nötigung gegen amerikanische Firmen einzusetzen. Der Konflikt äußerte sich zudem in scharfer Rhetorik seitens der US-Politik und Wirtschaft. So mobilisiert der einflussreiche Tech-Konzern Meta gegen EU-Instrumente wie den Digital Services Act (DSA) und den Digital Markets Act (DMA); der US-Politiker Jim Jordan stellte angesichts deren strenger Umsetzung gar die NATO-Beteiligung der USA infrage.
In Anbetracht der machtpolitischen Aufladung digitaler Technologien und Infrastrukturen sowie des aktuellen geopolitischen Spannungsfelds scheint die EU sich nicht mehr allein auf regulatorische und industriepolitische Maßnahmen zur Gestaltung der digitalen Transformation innerhalb Europas stützen zu können. Stattdessen setzt sie auf eine Externalisierung ihrer Digitalpolitik – einen Ansatz, der sich deutlich in der jüngsten Digitalstrategie der Europäischen Union widerspiegelt. Doch wie lässt sich diese Ambition mit den vielfältigen, tief verwurzelten Abhängigkeiten Europas in der digitalen Welt vereinbaren? Vor welchen Herausforderungen steht das Ziel der EU, verlässliche Partnerschaften aufzubauen, während der europäische Weg einer wertegeleiteten Digitalpolitik erst noch seine Tragfähigkeit unter Beweis stellen muss?
Abhängigkeiten und Dynamiken
Auch wenn Europas Streben nach digitaler Souveränität in der aktuellen geopolitischen Lage neue Dringlichkeit erhalten hat, kamen erste Rufe nach mehr Selbstbestimmung im digitalen Raum bereits nach den Snowden-Enthüllungen im Jahr 2013 auf. Diese führten westlichen Ländern nicht nur das umfassende Ausmaß der Datenüberwachung durch US-Geheimdienste und ihre Verbündeten vor Augen. Sie machten auch deutlich, wie stark Europa strukturell von digitalen Infrastrukturen und Datenflüssen abhängig ist, die außerhalb seines direkten Einflussbereichs liegen.
Diese Erkenntnis wurde in der Folge durch weltweite Ereignisse untermauert, die offenlegten, wie digitale Netzwerke, betrieben von außereuropäischen Unternehmen, als Instrumente politischer Einflussnahme dienen – etwa im Zusammenhang mit dem Brexit-Referendum 2016 oder den brasilianischen Präsidentschaftswahlen 2018. Der Einsatz digitaler Technologien für gezielte Desinformation und politisches Mikro-Targeting erschütterte den bislang festen Glauben an die Versprechen des „offenen und freien Internets“.
Die EU setzt für die digitale Transformation nicht mehr allein auf Regulierung und Industriepolitik, sondern mehr und mehr auf eine Externalisierung ihrer Digitalpolitik
Insbesondere die Vorstellung, dass die „Freiheit“ des Internets den Schutz der Privatsphäre und die Sicherheit aller Nutzer gewährleiste, wurde in dieser Zeit stark infrage gestellt. Die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) ist nur eine von vielen politischen Folgen dieses Bewusstseinswandels. Auch das Vertrauen in die USA als „Schutzmacht“ des freien und offenen Internets kam infolge dieser Erkenntnisse erstmals ernsthaft ins Wanken. Der Vertrauensverlust führte in Europa zu einem verstärkten politischen Bestreben, digitale Grenzen zu ziehen und die Risiken und Abhängigkeiten von nichteuropäischen Akteuren stärker zu kontrollieren.
Neben der politischen Dimension hat sich im vergangenen Jahrzehnt eine zweite wesentliche Herausforderung herauskristallisiert: die wirtschaftliche Abhängigkeit Europas von weltweit dominierenden IT-Unternehmen, vor allem aus den USA und China. In der derzeitigen Plattformwirtschaft liefern diese Unternehmen nicht nur Hard- und Software, sie bilden durch die Konzentration auf wenige mächtige Anbieter quasisouveräne, nichtterritoriale Einheiten. Diese schaffen innerhalb des virtuellen Raumes geschlossene Systeme und fungieren als zentrale Kontrollinstanzen über Datenströme und die Verfügbarkeit von Inhalten, wodurch offene Internetprotokolle an Bedeutung verlieren.
Die Erkenntnis, dass die globale digitale Ökonomie so strukturiert ist, dass einige wenige deutlich mehr profitieren als andere, hat viele Akteure dazu veranlasst, den dezentralisierten Charakter des Internets als globales Gemeingut – das wirtschaftlich von allen frei nutzbar ist, ohne seine Quantität zu vermindern, und geopolitisch außerhalb nationaler Hoheitsrechte liegt – zu hinterfragen. In Europa, wo politische Entscheidungstragende feststellen mussten, dass ihnen nur begrenzt Instrumente gegen diese einseitige Dominanz zur Verfügung stehen, spiegelt sich diese Erkenntnis in Regulierungsinstrumenten wie dem DSA und dem DMA wider, die mehr Transparenz, Fairness und Wettbewerb im digitalen Binnenmarkt fördern sollen.
Neue Ungleichheiten
Schließlich verweist die Debatte um digitale Souveränität auch auf eine dritte Abhängigkeit, die sich aus tiefgreifenden infrastrukturellen und globalen Ungleichheiten ergibt. Die ursprünglich optimistische Vorstellung, das Internet könne als dezentrales, frei zugängliches Netzwerk dazu beitragen, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ungleichheiten – und damit auch die sogenannte digitale Kluft – zu überwinden, hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten als Trugschluss erwiesen. Stattdessen wird immer deutlicher, dass die globalen Wertschöpfungsketten von digitalen Technologien und Dienstleistungen nicht nur auf historischen und strukturellen Ungleichheiten basieren, sondern diese auch verstärken und neue schaffen.
Diese Ungleichheiten betreffen nicht nur den Zugang zu Technologien, sondern auch die Fähigkeit, diese ökonomisch und politisch nutzbar zu machen – ein Diskriminierungseffekt, der durch die Beschleunigung der Digitalisierung während der Covid-19-Pandemie noch einmal verdeutlicht wurde. Für Europa bedeutet dies eine doppelte Herausforderung: Einerseits muss eine eigene technologische und infrastrukturelle Basis ausgebaut werden, um im globalen digitalen Wettbewerb langfristig handlungsfähig zu bleiben. Anderseits muss ein Beitrag dazu geleistet werden, digitale Abhängigkeiten und globale Ungleichheiten auch in Ländern außerhalb Europas zu verringern.
Europa will als verlässlicher Partner global seinen Einfluss auf Governance und Wirtschaft mehren
Betrachtet man Europas Suche nach mehr Selbstbestimmung vor dem Hintergrund der infrastrukturellen, ökonomischen und geopolitischen Abhängigkeiten, die unsere digitale Welt prägen, wird deutlich, dass das umstrittene Konzept der „digitalen Souveränität“ weit mehr ist als ein Schlagwort oder ein politisches Prinzip. Das Streben nach digitaler Souveränität markiert für Europa vielmehr eine grundlegende Neubewertung digitaler Vernetzungen. Während das Internet lange Zeit als transnationale, offene und liberale Infrastruktur galt, die staatliche Grenzen und Kontrollansprüche zu überwinden versprach, wird dieses Ideal durch realpolitische Dynamiken infrage gestellt. Das Ziel der EU-Kommission, einen „europäischen Weg“ für die globale digitale Transformation voranzutreiben, der dank seiner normativen und regulatorischen Ambitionen eine Alternative zum US-geprägten libertären Ansatz und der autoritären digitalen Governance Chinas darstellt, ist dabei der sichtbarste Ausdruck dieses jüngeren Bewusstseins.
Es lässt sich also festhalten, dass das Streben nach digitaler Souveränität in der EU einerseits den Anspruch auf technologische Selbstbestimmung und die Reduzierung externer Abhängigkeiten beinhaltet und damit auf die Förderung eines stabilen digitalen Binnenmarkts sowie den Schutz personenbezogener Daten und kritischer Infrastrukturen abzielt. Andererseits vollzieht sich eine strategische Externalisierung dieser Ideen über den Binnenmarkt hinaus: Europa versucht, sich als verantwortungsvoller und verlässlicher Partner auf der globalen digitalen Bühne zu positionieren, um so seinen Einfluss auf digitale Governance- und Wirtschaftssysteme auszubauen.
Dieses Spannungsfeld zwischen nationaler Autonomie und internationaler Kooperation bildet den Rahmen für das europäische Verständnis digitaler Souveränität, dessen Notwendigkeit sich sowohl aus aktuellen geopolitischen Herausforderungen als auch aus historischen Abhängigkeitsmustern erklärt. Digitale Souveränität wird damit zum Schlüsselbegriff einer europäischen Digitalpolitik, die neben Regulierung, Investition und Innovation auch zunehmend geopolitische und geoökonomische Interessen umfasst.
Kooperation und Wettbewerb
Die internationale Digitalstrategie der EU erfolgt nun inmitten dieser Phase sich weiter verschärfender Konflikte im globalen Machtgefüge. Ihre Ausrichtung spiegelt eine veränderte globale Ordnung wider. Im Zentrum der im Juni 2025 als gemeinsame Mitteilung der Kommission und der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik veröffentlichten Strategie steht somit nicht nur die Förderung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch geopolitischer Einfluss. Die strategische Autonomie der EU soll demnach nicht nur durch einen rechtlich-regulatorischen Ansatz, sondern auch durch ein kombiniertes Instrumentarium aus Investitionen, Technikentwicklung und dem Ausbau globaler Partnerschaften erreicht werden.
Im Cloud-Geschäft gelingt es Europa nicht, Fuß zu fassen, es bleibt weit hinter der Konkurrenz zurück
Investitionen in digitale Infrastruktur und europäische Technologieangebote stehen im Mittelpunkt der neuen EU-Strategie – und das auf verschiedenen Ebenen, wie es zuletzt von Befürwortern des sogenannten „EuroStack“ vorgeschlagen wurde. Von Unterseekabeln über den Ausbau der Halbleiterproduktion bis hin zu Cloud-Lösungen und digitalen Diensten möchte die EU durch Forschung und Entwicklung sowie in Zusammenarbeit mit internationalen Partnern wettbewerbsfähige und sichere Angebote schaffen, die nicht nur innerhalb Europas, sondern auch global genutzt werden können.
Dieser Ansatz baut auf vergangenen Pilotprojekten wie Gaia-X auf, einer deutsch-französischen Initiative, die aus einer Anbieterperspektive eine europäische, datenschutzfreundliche Cloud-Plattform schaffen sollte. Doch Europa gelingt es bisher kaum, damit im Cloud-Geschäft Fuß zu fassen. Der Marktanteil europäischer Anbieter ist zuletzt sogar gesunken, was zeigt, dass die EU in diesem wichtigen Bereich weiter hinter internationalen Konkurrenten zurückbleibt und europäische Unternehmen nicht überzeugt werden konnten, Daten lokal bei europäischen Anbietern zu speichern.
Deshalb wird nun unter anderem im „Integrated Tech Business Offer“, einer zentralen Säule der Digitalstrategie, ein neuer Versuch unternommen. Dabei handelt es sich um ein Angebot Europas an Partnerländer, modulare europäische Technologielösungen zu übernehmen und den Kapazitätsaufbau, die Förderung digitaler Kompetenzen sowie die Weiterentwicklung nachhaltiger Technologien gemeinsam voranzutreiben. Entwickelt wird dieses Angebot in enger Zusammenarbeit mit großen europäischen Telekommunikations- und Technologiekonzernen innerhalb der Global Gateway Business Advisory Group.
Diese enge Einbindung der Wirtschaft verdeutlicht, dass hinter dem Projekt neben den politischen Zielen auch klare wirtschaftliche Interessen stehen, Europas technologische Kompetenzen global auszubauen und gleichzeitig an der digitalen Transformation von Partnerländern beteiligt zu sein. Ob ein solcher, von der Angebotsseite her gesteuerter Ansatz der Komplexität der digitalen Technologie- und Angebotssysteme gerecht werden kann, muss sich zeigen.
Zugleich setzt die Digitalstrategie auf den Ausbau internationaler Partnerschaften, insbesondere im Globalen Süden, um digitale Wertschöpfung global zu vernetzen sowie europäische Werte und Regulierungsstandards zu exportieren. Kooperationen mit Staaten, die bereits erfolgreiche digitale Anwendungen eingeführt haben, wie Indien (Aadhaar) oder Brasilien (Pix), sollen den technischen Austausch fördern und Interoperabilität sowie gemeinsame Normen etablieren. Dieses Engagement umfasst auch weiterhin die Zusammenarbeit mit den USA und China, scheint deren Dominanz aber durch eine starke Diversifizierung der Partnerschaften abschwächen zu wollen. Neben dem Ausbau bilateraler Abkommen und Arbeitsgruppen möchte die EU damit ein globales Netzwerk digitaler Partnerschaften schaffen und so ihr Engagement für den Aufbau einer regelbasierten globalen digitalen Ordnung im Einklang mit ihren Grundwerten weiter bekräftigen.
Ein wesentliches, wenn auch nicht explizit genanntes Ziel der internationalen Digitalstrategie ist somit die Stärkung europäischer Standards und Interessen im Globalen Süden, um eine klare Alternative zu China und den USA bieten zu können. Die EU positioniert sich als Verfechterin eines „vertrauenswürdigen“ und „sicheren“ Technologieansatzes, bei dem sie vor allem auf die Exportfähigkeit ihrer streng regulierten Datenschutz- und Cybersicherheitsstandards setzt. Die Umsetzung erfolgt in enger Kooperation mit großen europäischen Unternehmen im Rahmen eines Public-Private-Ansatzes, was verdeutlicht, wie sich die Strategie der EU nach außen richtet und als geopolitisches Wirtschaftsprojekt verstanden wird.
Schwierigkeiten in der Umsetzung
Trotz dieser Ambitionen gestaltet sich die Umsetzung gleichberechtigter Partnerschaften als schwierig. Auch bei einem erklärten Ziel von Kooperationen auf Augenhöhe bleiben strukturelle Ungleichheiten und historische Machtasymmetrien in den Beziehungen zu Partnerländern, insbesondere im Globalen Süden, weitgehend unberücksichtigt. So scheint die durch die neue Digitalstrategie nochmals verdeutlichte Externalisierung der EU-Digitalpolitik das Erbe kolonialer Machtverhältnisse und deren Auswirkungen auf heutige politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu verkennen.
International müssen Partnerschaften so gestaltet sein, dass digitale Souveränität zum beiderseitigen Nutzen wirkt und nicht als Fortsetzung asymmetrischer Abhängigkeiten
Zudem kämpfen viele Länder des Globalen Südens bis heute mit Sparzwängen, Bildungs- und Forschungslücken sowie mit internationalen Rechtsordnungen, die ihre eigene digitale Souveränität erschweren. Somit können infrastrukturelle Investitionen der EU zwar erste Schutzmechanismen gegen die hegemoniale Marktmacht der USA und Chinas im Digitalen bilden, sie bringen jedoch keine grundlegenden Veränderungen der globalen Verhältnisse. Insofern bleibt es eine zentrale Herausforderung der internationalen Digitalpolitik der EU, Partnerschaften so zu gestalten, dass digitale Souveränität tatsächlich zum beiderseitigen Nutzen und nicht als Fortsetzung asymmetrischer Abhängigkeiten wirksam wird.
Digitalpolitik am Scheideweg
Das im Juni veröffentlichte strategische Rahmenwerk der EU bündelt vielfältige politische und wirtschaftliche Initiativen der Digitalisierung und versucht so, die Kohärenz der internationalen EU-Digitalpolitik zu steigern sowie ein klares Signal an die globalen Wettbewerber zu senden. Sie spiegelt auch das Bestreben wider, eine Balance zwischen technischer Autonomie und internationaler Vernetzung herzustellen. Indem die Strategie besonderes Augenmerk auf die Zusammenarbeit mit potenziellen Allianzen legt, um die digitale Transformation weltweit aktiv im europäischen Sinne mitzugestalten, zeigt sie klarer als bisherige Veröffentlichungen die Externalisierung europäischer Digitalpolitik.
Angesichts der aktuellen geopolitischen Lage und globalen digitalen Interdependenzen steht die EU mit den ambitionierten Zielsetzungen ihrer internationalen Digitalstrategie jedoch vor erheblichen Herausforderungen. Die Absicht, globale digitale Abhängigkeiten deutlich zu reduzieren, wird durch unklare technologische Umsetzungspraktiken, teils divergierende Interessen innerhalb Europas sowie eine unzureichende Berücksichtigung struktureller Machtverhältnisse erschwert. Hinzu kommt, dass sich die komplexen weltweiten Verflechtungen digitaler Technologien, Dienste und Daten, die sich über Jahrzehnte entwickelt haben, kurz- oder mittelfristig kaum auflösen lassen.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass digitale Souveränität nicht als isoliertes Projekt verstanden werden kann, sondern sich als strategische Kombination aus Eigenständigkeit und internationaler Kooperation entfaltet. Um zukunftsfähig zu bleiben, sind daher internationale Zusammenarbeit auf Augenhöhe, die Interoperabilität technologischer Komponenten und Dienste unterschiedlicher Länder und Weltregionen auch auf höheren Ebenen des digitalen Stacks sowie die aktive Mitgestaltung gemeinsamer Normen und Regelwerke unverzichtbar. Nur so kann die EU sicherstellen, dass ihre Standards und Werte im digitalen Raum auch ohne Implementierungszwang Gehör finden und Wirkung entfalten.
Insgesamt steht die europäische Digitalstrategie exemplarisch für das Spannungsfeld, in dem sich Europa bewegt: zwischen dem Anspruch auf technologische Selbstbestimmung und der Notwendigkeit, sich als verlässlicher Partner in einem komplexen und dynamischen globalen digitalen System zu positionieren. Das Gelingen dieses Balanceakts wird darüber entscheiden, wie stark Europa im internationalen digitalen Wettbewerb agieren und mitgestalten kann.
Internationale Politik Special 4, November 2025, S. 4-11
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