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29. Juni 2018

So weit von Gott, so nah an Trump

Das mexikanische Wahljahr steht unter dem Zeichen von „America First“

In seinem dritten Anlauf hat der ehemalige Bürgermeister von Mexiko-Stadt gute Aussichten, die Präsidentschaftswahlen im Juli zu gewinnen. Angesichts des angespannten Verhältnisses zu den USA wird es aber auch für Andrés Manuel López Obrador schwierig, die großen Probleme Drogenhandel, Industrieexporte und Migration anzugehen.

Armes Mexiko. So weit von Gott, so nah an den USA. Der Satz, der dem mexikanischen Autokraten Porfirio Díaz gegen Ende des 19. Jahrhunderts zugeschrieben wird, fasst prägnant das konfliktreiche Verhältnis zweier ungleicher Nachbarn zusammen. Es sind Worte der Resignation gegenüber der aufstrebenden Großmacht an Mexikos Grenze, die in der Monroe-Doktrin 1823 unter der Devise „Amerika den Amerikanern“ selbstbewusst ihren Machtanspruch auf dem Kontinent formuliert hatte. Zuvor hatte Mexiko nach der Abspaltung Texas’ vom mexikanischen Staatsgebiet im Jahr 1836 und den darauffolgenden militärischen Auseinandersetzungen rund die Hälfte seines Staatsgebiets an die USA verloren.

Viele Mexikaner mögen die Worte von Porfirio Díaz im Kopf haben, wenn sie am 1. Juli einen neuen Präsidenten wählen. Kaum eine Person dürfte unter Mexikanern so verhasst sein wie Donald Trump, der damit droht, das für Mexiko so wichtige Freihandelsabkommen zu kündigen und mexikanische Einwanderer pauschal als Vergewaltiger und Verbrecher bezeichnet hat. Gleichzeitig sind wenige Menschen so wichtig für die Zukunft der zweitgrößten Volkswirtschaft Lateinamerikas. Die USA sind Abnehmer von 80 Prozent aller mexikanischen Exporte, zweite Heimat von 10 Prozent der mexikanischen Bevölkerung und Hauptkonsument der Drogen, die Mexiko auf ihrem Weg in den Norden durchqueren und dem Land einen blutigen Krieg zwischen rivalisierenden Drogenbanden und der Regierung beschert haben. Trumps Politik des „America First“ ist eine Zäsur für die Politik und Wirtschaft Mexikos, dessen Geschicke untrennbar mit der Politik des großen Nachbarn verbunden sind.

Fluch und Segen zugleich

In Wahrheit ist die Nähe zu den USA für Mexiko genauso Segen wie Fluch. In der Folge der lateinamerikanischen Schuldenkrise von 1982 wurde das alte Modell eines allgegenwärtigen Staates abgelöst von einem neuen Marktoptimismus. Im Jahr 1994 tritt das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) in Kraft, das die Handelsbarrieren zwischen Kanada, Mexiko und den USA weitgehend abschafft. Mexiko verspricht sich das Wachstum arbeitsintensiver Industrien angesichts billiger Löhne und den Import moderner Technologie über massive ausländische Direktinvestitionen in die verarbeitende Industrie. Als Musterschüler der Marktreformen feiert Mexiko zeitgleich mit NAFTA als erstes lateinamerikanisches Land den Eintritt in die OECD, den exklusiven Klub der reichen Länder.

NAFTA und die Polarisierung

Das wirtschaftspolitische ­Experiment der Handelsintegration zweier ungleicher Partner erfüllt nur sehr bedingt die Hoffnungen eines raschen wirtschaftlichen Aufschwungs. Zwar wird der Handel mit den USA zum wichtigen Treiber der exportorientierten Industrie vor allem im Norden des Landes. Nach Daten der OECD ist der Handel im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt seit Inkrafttreten von NAFTA um fast das Dreifache von 13 auf 37 Prozent gestiegen. Mexiko wird zu einem wichtigen Exporteur unter anderem von Automobilen, Flachbildschirmen und Software. Kein anderes Land Lateinamerikas exportiert mehr Hochtechnologie. Dennoch bleibt der erhoffte gesamtwirtschaftliche Wachstumsschub aus.

Der wirtschaftliche Abstand beider Länder hat sich seit Gründung von NAFTA nicht angeglichen, sondern weiter vergrößert. Vor allem die arme und ländliche Bevölkerung Mexikos hat nur wenig von den Wachstumsdynamiken der exportorientierten Industrie profitiert, hat aber unter den Folgen des strukturellen Wandels vor allem in der Landwirtschaft gelitten. Auch im Jahr 2016 lebten im OECD-Land Mexiko noch rund 12 Prozent der Bevölkerung von ­weniger als 3,20 Dollar pro Tag, der Armutslinie der Weltbank.

Angesichts des weitgehenden Fehlens sozialstaatlicher Sicherung ist die Emigration in die USA das wichtigste Mittel sozialer Abfederung des strukturellen Wandels. Man mag es als Ironie der Geschichte betrachten, dass knapp 150 Jahre, nachdem Mexiko Kalifornien und Texas an die USA abgetreten hat, mehr Mexikaner nördlich des Rio Grande leben als jemals zuvor: Mehr als elf Millionen in Mexiko geborene Einwanderer zählen die USA.

Damit lebt jeder zehnte gebürtige Mexikaner nördlich der mexikanischen Landesgrenze, etwa die Hälfte ohne offiziellen Aufenthaltsstatus und deshalb potenziell von Abschiebungen bedroht. Nach Daten des nationalen Statistikamts INEGI beziehen rund 6 Prozent aller mexikanischen Haushalte regelmäßig Überweisungen von den im Ausland lebenden Landsleuten. Die mexikanische Zentralbank beziffert ihren Wert mit mehr als 2 Prozent des mexikanischen BIP, in einigen Bundesstaaten ist es deutlich mehr. Damit ist Migration für viele Haushalte und Regionen eine ebenso wichtige wirtschaftliche Säule wie der Handel mit dem nördlichen Nachbarn.

Wenn die USA einen Schnupfen haben, fängt sich Mexiko eine Lungenentzündung ein, sagt ein verbreitetes Sprichwort. Nachdem es vor wenigen Jahren noch unvorstellbar war, dass gerade die Freihandelsnation USA das exportorientierte Modell Mexikos infrage stellen könnte, so rächt sich nun die einseitige Ausrichtung auf die US-amerikanische Wirtschaft. Aus Sicht Lateinamerikas ist die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der USA weit mehr als eine vorübergehende Erkältung.

Trumps Politik des „America First“ legt die Verwundbarkeit des mexikanischen Entwicklungsmodells an zwei Flanken offen. Sie stellt nicht nur das Modell eines exportgeleiteten Wachstumsmodells infrage, das vor allem auf niedrige Löhne setzt und von Trump als Sündenbock für die De-Industrialisierung weiter Landstriche in den USA ausgemacht wird. Gleichzeitig bedroht der prekäre und von Abschiebungen bedrohte Status der mehr als fünf Millionen Mexikaner ohne offizielle Papiere den zweiten Pfeiler des mexikanischen Modells einer sozialen Absicherung ungleichen Wachstums. Die Begrenzung der Zuwanderung nimmt Mexiko das Ventil, ohne das sich der soziale und politische Druck und die verbreitete Unzufriedenheit mit der politischen Klasse weiter aufbauen dürften.

Das Jahr 2018 ist ein Schlüsseljahr für Mexiko, das in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt in Politik und Wirtschaft bedeuten könnte. Parallel zur Neuverhandlung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens steht am 1. Juli die Wahl des Staats­präsidenten an, der im Präsidialsystem Mexikos weitreichenden Einfluss auf die politischen Entscheidungen der kommenden sechs Jahre hat.

Linker Politikwechsel?

Dank eines effektiven Systems von Klientelismus und Patronage, das der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa einst als „perfekte Diktatur“ bezeichnete, hat der alte Dinosaurier PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) 71 Jahre lang durchgehend alle Präsidenten seit ihrer Gründung 1929 gestellt und praktisch auf allen Ebenen die Politik bestimmt.

Nach einer Pause von zwei Wahlperioden zwischen 2000 und 2012 unter konservativen Präsidentschaften der Partei der Nationalen Aktion (PAN) ist die PRI im Jahr 2012 an die Macht zurückgekehrt. Frustration über Korruptionsskandale, neue Rekordzahlen an Morden, die das Land beherrschende Drogenkartelle begangen haben, und enttäuschende Wachstumsraten haben jedoch dazu geführt, dass sich die PRI heute in einem historischen Popularitätstief befindet. Die Marke PRI ist derart beschädigt, dass sie mit Antonio Meade einen parteilosen Kandidaten aufgestellt hat, der bereits unter der konservativen PAN einen Ministerposten hatte. Die Hoffnung der Parteiführung ist, dass die Wählerschaft dies als Signal der Erneuerung und als eine Abgrenzung von alten Praktiken der Korruption und Vetternwirtschaft verstehen möge.

Hinter den etablierten Parteien lauert der linke Andrés Manuel López Obrador (nach seinen Initialen meist schlicht AMLO genannt) als Drohung für das politische Establishment. Vormals charismatische Schlüssel­figur der linken Partei der demokratischen Revolution (PRD) hat AMLO im Jahr 2012 seiner ehemaligen Partei den Rücken gekehrt und sich der „Bewegung der nationalen Erneuerung“ (MORENA) angeschlossen. Sie führt wenige Monate vor den Wahlen alle Umfragen komfortabel an, je nach Meinungsforschungsinstitut mit einem Anteil von über 40 Prozent der Stimmen, während die Kandidaten von PAN und PRI beide unter 30 Prozent liegen. Bitter bekämpft wird AMLO nicht nur von der regierenden PRI, sondern auch von seinen eigenen ehemaligen Parteigenossen der PRD, die mit der konservativen PAN ein strategisches Bündnis geschlossen hat, um AMLO zu verhindern.

Der dritte Versuch

Während AMLO für seine Anhänger die einzige Alternative zum korrupten politischen Establishment darstellt, sehen seine Gegner ihn als eine mexikanische Variante des Venezolaners Hugo Chávez. Für sie verkörpert er einen linken Populisten und selbsternannten Messias, der das Land spaltet, in Unsicherheit führt und die in mehreren Jahrzehnten hart erarbeiteten Marktreformen und makroökonomische Stabilität aufs Spiel setzt.

Nach 2006 und 2012 greift AMLO bereits zum dritten Mal nach dem Präsidentenamt. Im Jahr 2006 hatte er als Kandidat der linken PRD nur denkbar knapp verloren. Anhänger glaubten an Wahlbetrug, als der Kandidat der konservativen PAN an einem dramatischen Wahlabend doch noch an AMLO vorbeizog. López Obrador hatte nach den Wahlen von 2006 wochenlang Straßen blockiert und sich von seinen Anhängern als legitimen Präsidenten proklamieren lassen. Von seinen Gegnern wurde dieses Verhalten als Indiz fehlenden Respekts vor den mexikanischen Institutionen gewertet. Vielleicht lag es auch hieran, dass er bei seinem zweiten Versuch im Jahr 2012 deutlich weniger Wähler überzeugen konnte.

AMLO hat seine Wählerbasis in Mexiko-Stadt, Heimat der progressiven Linken in einem insgesamt eher konservativ und religiös geprägten Land. Als Bürgermeister der Hauptstadt hat er die Mega-Metropole mit mehr als 20 Millionen Einwohnern von 2000 bis 2005 in den Augen der meisten „chilangos“ – wie die Bewohner von Mexiko-Stadt auch genannt werden – durchaus erfolgreich regiert. Um dem Verkehrschaos Herr zu werden, haben AMLO und sein Nachfolger Marcelo Ebrard in den Bau von mehrstöckigen Autobahnen, öffentliche Verkehrsmittel und den Ausbau von Fahrradwegen investiert.

Auf AMLO geht außerdem eine Politik der Rückeroberung des öffentlichen Raumes in einer von Kriminalität geprägten Stadt zurück. Unter anderem hat er zur Wiederbelebung des historischen Stadtzentrums beigetragen. Die Stadtregierung organisiert seitdem regelmäßig öffentliche Konzerte auf dem Zócalo, dem gigantischen Platz vor dem Nationalpalast, der sich zur Weihnachtszeit in eine Eislaufbahn verwandelt. Im Großen und Ganzen ist AMLO als Bürgermeister eher als Pragmatiker denn als Ideologe aufgefallen.

Wenn man diese Bilanz als Maßstab nimmt, so steht AMLO weniger für radikale politische Umwälzungen als für die Politik einer pragmatisch-linken Volkspartei, die nicht die Nähe zu den Unternehmern scheut: Die Restaurierung des historischen Stadtzentrums etwa wurde mit Geld des Magnaten Carlos Slim finanziert, dem zeitweise drittreichsten Menschen der Welt. Dieser verdankte sein Vermögen einem Telefonmonopol, das Mexiko bis zur Liberalisierung des Telefonmarkts eine der teuersten ­Telefondienstleistungen Lateinamerikas beschert hatte.

Das Schattenkabinett von AMLO besteht vor allem aus Akademikern und politischen Außenseitern, die als Technokraten im Gegensatz zu den üblichen Berufspolitikern weniger der Korruption verdächtigt werden. Gleichzeitig hat AMLO aber auch prominente Abtrünnige von PRI und PAN mit offenen Armen aufgenommen, und er ist ein Parteienbündnis mit der kleinen Partei „Encuentro Social“ eingegangen, der vor allem ultrakonservative Evangelikale angehören. Deren Inhalte weisen zwar kaum Überschneidungen mit dem Parteiprogramm von MORENA auf, die Allianz könnte aber entscheidende Prozentpunkte im Kampf um die Präsidentschaft liefern.

Parteiinterne Kritiker befürchten durch diese politischen Schachzüge den Ausverkauf linker Ideen. Andere fühlen sich darin bestätigt, dass ­AMLOs Wille zur Macht keinen Halt davor macht, zur Not auch dubiose Figuren etablierter Parteien mit Posten zu versorgen. Im Gegensatz dazu verteidigen AMLOs Unterstützer die Einbindung unterschiedlicher Strömungen und Personen als ein Projekt nationaler Versöhnung. So stünde eine Regierung unter AMLO durchaus in Kontinuität mit ihrem politischen Vorgänger PRI. Schließlich war es die erfolgreiche Einbindung politischer Gegner und Kritiker in das politische System Mexikos, das die Herrschaft der PRI über mehr als sieben Jahrzehnte ermöglicht hat.

Das Dilemma Mexikos besteht darin, dass die drei drängendsten Probleme des Landes von seinem nördlichen Nachbarn als dem Hauptabnehmer von Drogen, Industrieexporten und Migranten bestimmt werden. Selbst die Geldpolitik der mexikanischen Zentralbank und der Wert des Pesos hängen maßgeblich von der Politik des mächtigen Nachbarn ab.

Abhängig vom großen Nachbarn

Das Wahlprogramm von ­MORENA gibt wenig Hinweise darauf, ob und wie ein Präsident AMLO sich diesen äußeren Zwängen entziehen kann. So ist die stärkere Diversifizierung des Außenhandels zur Reduzierung der Abhängigkeit von den USA ein allenfalls langfristiges Projekt. Auch die Ausweitung des heimischen Marktes durch ein Programm der Umverteilung – ein Vorschlag des linken AMLO – ist mit Problemen behaftet. Selbst ein großzügiger Anstieg des Mindestlohns wird wohl kaum eventuelle Marktverluste im Fall eines Scheiterns von NAFTA kompensieren können. Der für Mexiko so wichtige Automobilsektor beispielsweise ist strukturell auf den Export ausgerichtet und nur in großen Märkten rentabel. Beim Thema Drogengewalt hat AMLO die provokante Idee einer Amnestie für Drogenbosse ins Spiel gebracht. Kritiker halten diesen Vorschlag eher für einen Ausdruck der Ratlosigkeit denn für eine Strategie, die Mexikos Gewaltepidemie nachhaltig eindämmen könnte.

Die Krise der 1920er bis 1940er Jahre in den politischen und wirtschaftlichen Zentren des globalen Kapitalismus – der große Börsencrash von 1929, eingerahmt von zwei Weltkriegen – war ein wichtiger Impuls für die wirtschaftspolitische Neuausrichtung Lateinamerikas in der Nachkriegszeit. Als Lateinamerika plötzlich ausgeschlossen war von den Industrieimporten aus Europa und den USA, musste sich der Subkontinent auf eigene Stärken besinnen. Die Strategie des Aufbaus einer eigenen Industrie unter staatlichem Schutz als Antwort auf die globale Krise leitete drei goldene Dekaden von steigendem Wohlstand in Mexiko und Lateinamerika ein. Optimisten in Mexiko und anderswo mögen Hoffnung schöpfen aus der manchmal auch erneuernden Kraft der Krisen.

Lucha Libre ist die mexikanische Variante des US-amerikanischen Wrestling. In der populären Arena México treten die meist maskierten Showkämpfer gegeneinander an. In mehreren Runden treffen die „tecnicos“ auf „rudos“, was übersetzt so viel bedeutet wie rüde, plump oder grob. Es ist ein Duell Gut gegen Böse, von filigranen Technikern gegen grobe Kraft. Der meistgehasste Mann des Abends – natürlich ein rudo – ist blond, groß und schwenkt die amerikanische Fahne mit einem Konterfei von Donald Trump. Trotz der wütenden Rufe aus dem Publikum geht zumindest die erste Runde an die rudos.

Dr. Christian Ambrosius ist DAAD-Langzeitdozent für Wirt-schaftswissenschaften an der Nationalen Autonomen Universität in Mexiko-Stadt (UNAM).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2018, S. 106 - 111

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