Buchkritik

31. Dez. 2010

Sieben Irrtümer fürs Leben

Warum uns der Optimismus ins Unglück führt

Alles wird gut? Der Mensch ist frei geboren? Alles Trugschlüsse. Und gefährliche dazu. Roger Scruton, Vordenker eines intellektuellen Konservatismus in Großbritannien, hat eine Philosophie der Skepsis geschrieben – und liefert damit gleich eine Programmschrift für den sorgsamen Umgang mit der Moderne.

Wenn man nach einer Persönlichkeit suchte, die in Deutschland die Rolle übernehmen könnte, die dem Philosophen und Autor Roger Scruton in Großbritannien zukommt, dann wäre das wohl ein Mischwesen, halb Joachim Fest und halb Johannes Gross: geistreicher Kommentator, intellektueller Konservativer, kämpferischer Debattierer, und nicht zuletzt: verstimmter Ästhet. Scruton ist eine britische Institution, der in der Tradition Edmund Burkes und David Humes dem Konservativismus durch profunde Gelehrtheit und unideologische Streitlust eine Stimme verleiht.

In seinem neuen, wohl als Schlüsselwerk zu lesenden Essay „The Uses of Pessimism“ lotet Scruton das Gedankengebäude eines modernen Konservatismus aus, benennt dessen Kerninhalte und Kontrahenten. Interessant ist das in Deutschland nicht nur für Politstrategen, die über das Branding schwächelnder Volksparteien nachgrübeln, sondern auch für den Außenpolitikus, denn das Buch liefert, neben vielem anderen, Anregungen zum Nachdenken über Britannien, die EU und Entwicklungspolitik, über Islamismus und Antiamerikanismus.

Trotz manch melancholischen Anklangs ist Scruton kein einfach den besseren Zeiten nachheulender Retrodenker. Anders als jene Konservative, die schlicht Verhinderer sind, glaubt er an die Verbesserbarkeit der Welt. Aber nicht als Folge eines utopischen Universalentwurfs, wie er fast jeder linken Politik zugrunde liegt, sondern als Produkt eines graduellen, sich auf Traditionen und Institutionen stützenden und diese schützenden Prozesses; eines Prozesses, in dem die unausweichlichen Interessenkonflikte innerhalb der Mangelspezies Mensch moderiert, abgeschliffen und zum Kompromiss geführt werden. Anders als andere Gegner von Marx, Lenin, Hitler, Islamisten und weiteren selbsternannten Weltrettern begnügt sich Scruton nicht damit, die furchtbaren Folgen ihrer sich stets selbst widersprechenden Heilslehren aufzudecken (obwohl ihm auch das meisterhaft gelingt). Scruton bohrt tiefer, er will die Anatomie, mehr noch, die DNA dieser zwangsläufig in den Terror führenden Theorien freilegen. Er identifiziert sieben immer wiederkehrende Trugschlüsse („fallacies“) pseudohumanistischer Erlösungsideologie, unterzieht sie eingehender Untersuchung und liefert reichlich Beispiele für ihre Auswirkungen in der realen Welt. Das böse Erwachen für den Leser kommt, wenn unter diesen Beispielen nicht nur die üblichen Hakenkreuz- und Gulag-Großtragödien auftauchen, sondern wenn Scruton zeigt, wie die Trugschlüsse von der Außen- über die Bildungspolitik bis hin zu Stadtplanung und Kunstbetrieb unseren Alltag usurpiert haben und ihn oft sogar dominieren.

Selbsternannte Befreier

Die Grundelemente von Scrutons Argumentation, und gleichzeitig jene, die am besten auf die Außenpolitik anwendbar sind, finden sich in den Ausführungen zur „Born Free Fallacy“. 
Scruton argumentiert, dass die heute vielerorts bis hin zum Allgemeinplatz kanonisierte Annahme, der Mensch sei frei geboren, zu katastrophalen Fehlentwicklungen in der Politik geführt habe. Ausgehend von dieser Idee propagierten selbsternannte Befreier bis heute die Beseitigung aller Institutionen und Regelwerke, da nur deren Zerschlagung die Rückkehr zum paradiesischen Urzustand ermögliche. Und wenn revolutionäre Bewegungen diesen Plan in die Tat umsetzten und statt Paradies Verarmung, Mord und Krieg (sprich: Unfreiheit) erzeugten, dann würden die Revoluzzer nicht die Fehlerhaftigkeit der Prämisse akzeptieren, sondern behaupten, man sei nur nicht konsequent genug zur Sache gegangen.

Scruton setzt dem entgegen, dass schon die Existenz anderer Menschen, die den Konflikt der Interessen vorprogrammiere, Instanzen (Gesetze, Regierungen, Gerichte, Vereinigungen) zur Moderierung notwendig mache. Instanzen des gleichen Geistes (hier: Familien, Schulen, Universitäten) seien es, die es dem Menschen erst erlaubten, seine Freiheit in einem kulturellen Kraftakt zu erwerben. Hier zeigt sich die Nähe zum Ausspruch Burkes, der einst erklärte, er sei „Konservativer, weil ich mehr Vertrauen in die Institutionen habe als in die Menschen, die in ihnen dienen“. Scruton sieht die Freiheit immer dann gefährdet, wenn diese Institutionen zerstört werden.

So hätten die Bildungsreformer seit den sechziger Jahren, im Glauben an die Born Free Fallacy, den Schulen und Unis systematisch jene Inhalte und jene Stringenz geraubt, die es ihren Schülern erlaubt, sich selbst zur Freiheit zu befähigen. Von hier aus liegt es nicht fern, Scrutons Argument auf das (von ihm nicht genannte) Beispiel des Irak zu übertragen, wo es westliche Über-Optimisten waren, die glaubten, dass die Befreiung vom Diktator schon reiche, um auch tatsächlich Freiheit zu schaffen. Im Irak waren es Neokonservative, die die Institutionen zerstörten, und sich dann wunderten, dass nicht Jeffersonian Democracy folgte, sondern Anarchie und Bürgerkrieg. Scruton würde (und wohl zu Recht) darauf hinweisen, das Neocons eben keine Konservativen sind.

In einem weiteren Kapitel zeigt Scruton, wie der blauäugige Optimismus der Best Case Fallacy zuerst zur Roulettekultur in der internationalen Kreditwirtschaft und dann, nach dem Crash, zu einem geschickten (und weitgehend akzeptierten) Wegschieben der Verantwortung geführt hat.

Allen Fallacies zugrunde liegt, so Scruton, eine dem Menschen aus Vorzeiten eingewirkte Neigung zur grundlos optimistischen Hoffnung auf eine zwangsläufig bessere Zukunft. Doch was als Strategie im Pleistozän einen Überlebensvorteil sicherte, sei in der heutigen „großen Gesellschaft“ eine anachronistische Ursehnsucht, die fatale Folgen zeitige, da sie Optimismus an die Stelle von Skepsis setze und den „quick fix“ an die Stelle des stetig ausgetragenen Interessenausgleichs.

Keine in einer Rezension gebotene Vereinfachung kann die Eleganz und die Weite der Beweisführung verdeutlichen, mit der Scruton der Spezies Mensch den Spiegel vorhält. Dies alles in einem geradezu berückend lesbaren und kristallklaren Stil, der Ausweis scharfen Denkens ist und bester angelsächsischer Tradition entspricht. Selbst jene, für die Scrutons Ausführungen zur Klima- oder Familienpolitik zu starker Tobak sind, werden zugeben müssen, dass sie die dazugehörigen Argumente kaum je transparenter und, was wichtiger ist, ressentimentfreier dargelegt bekommen haben.

Doch wer, wie Scruton, auf universalistische Breite seiner Thesen aus ist, der sucht sich auch bisweilen die falschen Gegner. Seine Tirade gegen die EU ist gespickt mit Fehlwahrnehmungen und leider auch Sachfehlern, die ihn zu fundamentalen Fehlschlüssen führen. Für Scruton ist die EU ein Beispiel für utopistischen Planungswahn (The Planning Fallacy), und er trifft mit dieser Wahrnehmung auch manch wunden Punkt des Integrationsprojekts. Aber er übersieht (und leistet sich einen für ihn eher untypischen, aber sehr britischen Affekt), dass die EU in ihrem wesentlichen Kern kein antiliberaler Oktroy ist, sondern ein auf klassischen liberalen Ideen fußender Binnenmarkt, der den Europäern gerade jene Wettbewerbsvorteile und Wohlstandsgewinne verschafft, die Scruton durch den angeblichen Brüsseler Regulierungswahn gefährdet sieht.

Mehr als aufgewogen wird dieser Lapsus aber nicht zuletzt durch eine beeindruckende Analyse des Islamismus, die den Autor zu einem einzigartigen Grundkurs über (und bewegenden Appell für) unsere westlich-säkular-liberalen Gesellschaften führt. Scruton liefert mit den Kategorien seiner sieben Trugschlüsse eine Tiefenanalyse unserer verwundeten und nach Orientierung dürstenden Gesellschaften. Man wird vielleicht nicht jedem seiner Wegweiser folgen wollen, aber wer dieses Buch gelesen hat, der weiß, dass wir über Wohl und Wehe unserer fragilen Gemeinwesen ständig Grundsatzentscheidungen fällen müssen, und dass die Grundhaltung der Moderne die Skepsis sein sollte, nicht der Glaube an allheilende „Projekte“.

JAN TECHAU ist Research Advisor am NATO Defense College in Rom.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 139-141

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