Porträt

02. Sep 2024

Serbiens Präsident Vučić im Porträt: der Wandlungskünstler auf dem Balkan

Serbiens Präsident Aleksandar Vučić ist der Ausnahmepolitiker auf dem Balkan. Er bestimmt die Politik seines Landes – ob als Kriegsideologe wie einst oder als selbst ernannter europäischer Demokrat heute. Und aus Berlin erhält er viel Unterstützung.

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Bild: Aleksandar Vučić bei einem Wahlkampfauftritt im Dezember 2023.
Der „serbische Superman“ mit Hang zum Autoritären: Aleksandar Vučić, hier bei einem Wahlkampfauftritt im Dezember 2023, ist seit 2017 Präsident seines Landes.
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Bundeskanzler Olaf Scholz hat am 19. Juli in Belgrad für die EU ein Rahmenabkommen unter Dach und Fach gebracht, mit dem sich Berlin und Brüssel den Zugriff auf bedeutende Lithium-Vorkommen in Serbien sichern. Sie sollen in Zukunft den Bau von 1,1 Millionen Autobatterien jährlich ermöglichen.

Das Problem: Rund 55 Prozent der Bevölkerung sind wegen der erwarteten Umweltschäden strikt dagegen; nur 25 Prozent befürworten das Vorhaben. Dennoch wird das neue Bergwerk gebaut, denn der Partner von Scholz ist Serbiens alles entscheidender Präsident Aleksandar Vučić. Zwar hatte die von Vučić dominierte Regierung vor den Parlamentswahlen im Dezember 2023 das Lithium-Projekt wegen des massiven Widerstands der Bürger „für immer“ gestoppt. Nach der Wahl kassierte das Verfassungsgericht kurzerhand das frühere Verbot, sodass die Förderung des wertvollen Metalls beginnen kann.

Damit ist dem 54-Jährigen einmal mehr eine politische Meisterleistung gelungen. Er hat dem Westen mit dem Bergbau­deal ein Zuckerbrot gegeben, damit dort niemand an seinem autokratischen Machtsystem Anstoß nimmt. Vučić hat über die Jahre alle staatlichen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Institutionen ausgehöhlt und sie zu seinen Privatfilialen gemacht. Wahlen werden manipuliert, nachdem der Präsident im Wahlkampf als Zugpferd seiner Regierungspartei massiv die Verfassung verletzt hatte, die ­parteipolitisches Engagement verbietet. Obwohl Serbien seit über zehn Jahren EU-Beitrittskandidat ist, gibt es nur sehr verhaltene Kritik aus Brüssel.

Denn der EU-Kandidat pflegt auch besondere Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin, der Serbien immer wieder als engsten Verbündeten in Europa bezeichnet. Folgerichtig weigert sich Belgrad beharrlich, wie von der EU verlangt, Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Er habe Putin in den vergangenen Jahren 17 Mal getroffen, berichtete Vučić. Die Fluggesellschaft Air Serbia fliegt entgegen den EU-Forderungen weiter nach Moskau und St. Petersburg, vom Westen sanktionierte russische Spitzenpolitiker werden mit offenen Armen empfangen. 

Ähnlich eng ist das Verhältnis zu Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping. Der adelte bei seiner Europareise im Mai Serbien und Ungarn für ihre Treue mit einem Besuch; beide Staaten gelten als ein Dreh- und Angelpunkt der Neuen Seidenstraße. Daher baut Peking auch in Serbien mit ­teuren Krediten Eisenbahnstrecken, ­Autobahnen und Kraftwerke. 


Erfolgreiche Schaukelpolitik

Der Einser-Jurist Vučić zelebriert seine Schaukelpolitik zwischen Autokraten und Demokraten. Seinen Fans zu Hause gibt er damit das Gefühl von internationaler Bedeutung, die das politische und wirtschaftliche Gewicht des Landes mit nicht einmal sieben Millionen Einwohnern bei Weitem übersteigt.

Der Zwei-Meter-Mann wirkt seit Jahrzehnten an vielen Schalthebeln Serbiens. Zuerst als Generalsekretär der Radikalen Partei, die mit ihrer großserbischen Ideologie eine der Triebfedern für die Kriege (1991–1999) im Vielvölkerstaat Jugoslawien war. Der damalige Präsident Slobodan Milošević wurde auf ihn aufmerksam und vertraute ihm als Informationsminister (1998–2000) die Knebelung der Medien an. Diese Erfahrungen hat Vučić perfek­tioniert. Die gelenkte Medienlandschaft ist heute bis auf wenige Ausnahmen zum Claqueur des Präsidenten degradiert.

So hat er eine virtuelle Welt geschaffen, die offenbar großen Eindruck in weiten Teilen der Bevölkerung macht. Die Zeitungen bauen mit Jubelberichten tagtäglich an seinem Heldenmythos; und vor Kurzem wurde im Staatsfernsehen ein Gedicht vorgetragen, dessen Refrain „den Kommandanten Aleksandar“ hochleben lässt. Während er noch nie eine öffentliche Diskussion mit einem Kritiker gewagt hat, erscheint Vučić gefühlt jeden zweiten Tag auf den Bildschirmen der nationalen TV-Sender mit teilweise stundenlangen Monologen. Psychologen sagen, der Präsident giere als Narzisst nach Aufmerksamkeit.

Trotz aller autokratischen persönlichen Machtsysteme genießt der Hobby-Basketballer die Unterstützung Deutschlands. Legendär ist sein enges persönliches Verhältnis zur einstigen Kanzlerin Merkel, die in den zensierten Medien stets liebevoll als „unsere Angela“ beschrieben wurde. Merkel gab Vučić mehr als einmal Wahlkampfhilfe, indem sie ihn zu Essen im Kanzleramt empfing. Merkels CDU unterstützte den Spitzenpolitiker und dessen „Fortschrittspartei“ durch Organisationshilfen und Coachings, lieferte sogar Vorlagen für das Parteiprogramm. Das Kalkül dahinter: Der geniale Taktiker der Macht werde nach den vielen Kriegen den Balkan ruhig halten und vor allem ein jahrzehntealtes Problem lösen: den Konflikt mit der abtrünnigen serbischen und fast nur noch von Albanern bewohnten einstigen Provinz Kosovo. Das seit 2008 unabhängige Kosovo ist inzwischen von rund 100 Staaten völkerrechtlich anerkannt, nicht aber von Serbien, das seine frühere Provinz wieder zurückhaben will. Trotz jahrzehntelanger Verhandlungen unter der Federführung der EU erfüllte Vučić die in ihn gesetzten Erwartungen jedoch nicht.

Allerdings profitierten vor allem Deutschland und Österreich von der Massenauswanderung aus Serbien. Die EU-Staaten buhlen nach Kräften um medizinisches Personal – Ärzte und Pfleger emigrieren in großer Zahl angesichts lausiger Bezahlung und parteipolitischer Dominanz ihrer Berufe; große Teile Serbiens sind heute medizinisch drastisch unterversorgt. Obwohl sich Deutschland seit Jahrzehnten dafür einsetzt, dass Kosovo internationalen Organisationen beitreten darf, verhinderte Berlin im Mai den Beitritt Pristinas zum Europarat: Da winkte offensichtlich schon das Lithium-Projekt. „Für die EU ist die Wirtschaft wichtiger als die Demokratie“, ätzen Oppositionelle. 


Er scheint „alternativlos“

Die Opposition im Land hat Vučić bis zur Unkenntlichkeit zersplittert und marginalisiert. Sie verfolgt nur den einzigen Programmpunkt „Vučić muss weg“. Das genügt offensichtlich nicht als alternatives politisches Angebot. Nicht selten gelingt es dem Präsidenten, führende Kritiker durch Posten, Privilegien oder Privatkredite auf seine Seite zu ziehen. So hat sich Vučić, der Merkel immer wieder öffentlich als seine Lehrmeisterin bezeichnet hatte, im wahrsten Sinne des Wortes „alternativlos“ gemacht.

Serbien wird von der EU mit einem Großaufgebot an Beratern und Milliardenzahlungen unterstützt. Zwei Drittel des Handels und ausländischer Investitionen stammen aus EU-Ländern. Und doch hetzen die Vučić-Medien regelmäßig gegen den Westen. Dieser plane angeblich, den Präsidenten zu ermorden, Serbien zu ruinieren und die schwache Opposition an die Macht zu bringen. Auch alle Nachbarländer werden beschuldigt, Serbien schaden zu wollen. Diese Dauerpropaganda führt die Bürger in die Irre: Sie glauben mehrheitlich, Russland und China seien die wahren Freunde und Gönner ihres Landes – eine ganz und gar irreale Beschreibung der Wirklichkeit.

Vučić versteht es meisterhaft, dem Westen seine Macht zu demonstrieren. Regelmäßig bricht er Konflikte mit Nachbarländern vom Zaun, um sie dann wieder als „Friedensstifter“ zu entschärfen. Er dramatisiert diese Krisen durch die Alarmbereitschaft seines Militärs und beendet sie dann ebenso schlagartig, wie er sie initiiert hat. Westlichen Hauptstädten soll gezeigt werden, dass er die Macht auf dem Balkan ist, um die sich alles dreht und an der niemand vorbeikommt. 

Der neueste Lithium-Deal ist ein weiterer Baustein dieser politischen Taktik. Er sichert für die nächsten Jahre das Überleben des Vučić-Systems. Jetzt muss sich der Präsident nur noch gegen seine Bevölkerung durchsetzen. Ein riskantes Spiel auch für den „serbischen Superman“.

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Der Wandlungskünstler" erschienen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2024, S. 9-11

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Dr. Thomas Brey war viele Jahre Regionalbüroleiter der Deutschen Presse-Agentur für Südosteuropa und ist heute Lehrbeauftragter deutscher Universitäten in den Fächern Politikwissenschaft und Journalistik.

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