Seekarten statt Kaffeesatz
Der Kurs des neuen Regierungschefs Mitsotakis zielt auf Ruhe und Stabilität
„Griechenland braucht einen Kapitän, der weiß, wie man Seekarten liest und nicht den Kaffeesatz“, sagte Dionysis Savvopoulos noch am Abend des 7. Juli in einem Fernsehinterview. Da lagen bereits die ersten vorläufigen Ergebnisse der Parlamentswahlen vor. Savvopoulos, 75, weißer Haarkranz, Nickelbrille, ist einer der bekanntesten Komponisten, Musiker und Sänger Griechenlands. Einer, der politisch links steht und nicht rechts, diesmal aber rechts gewählt hat, auch wenn er das nicht so unverblümt gesagt hat. Satte 39,8 Prozent fuhr die konservative Nea Dimokratia unter Kyriakos Mitsotakis bei den vorgezogenen Wahlen ein. Die Regierungspartei Syriza schaffte es, entgegen aller Prognosen, auf immerhin 31,5 Prozent. Als stärkste Partei erhielt Nea Dimokratia einen Bonus von 50 Abgeordneten im 300-köpfigen Parlament und kommt damit auf 158 Sitze. Damit regiert zum ersten Mal seit Beginn der Finanzkrise 2009 wieder eine Partei mit absoluter Mehrheit.
Wie konnte Nea Dimokratia wieder an die Macht kommen, ausgerechnet jene klientelistische Partei, die mit der zweiten großen Volkspartei, der sozialistischen Pasok, das Land in den Abgrund geführt und die später, gemeinsam mit der Pasok, die verhassten Sparvorgaben der Kreditgeber umgesetzt hat? Wie konnte Kyriakos Mitsotakis, Spross einer alten Politikerdynastie, Ministerpräsident werden, wo doch die Griechen genug haben von den alten Dynastien, die sich jahrzehntelang die Macht untereinander aufgeteilt haben?
Zurück auf null, alles auf Anfang, Familienbande reloaded, kommentierte die deutsche Presse. Von der Rückkehr des alten Politikmodells war die Rede, von neuem Wein in alten Schläuchen. Was die deutschen Kommentatoren beschäftigte, war den griechischen nicht ein Wort wert. Klientelismus? Aber ja doch. Klientelistisch sind nicht nur die Parteien, klientelistisch ist die Gesellschaft. Das weiß hier jedes Kind. Politikerdynastien? Lebendig wie nie zuvor. Mögen zwei der großen politischen Hauptakteure, die Papandreou und die Karamanlis, vorerst abgetreten sein, Mitsotakis und die Dutzend anderen aber leben fort. Seit Generationen schon bestimmen auch zig andere, kleinere Familien die Politik Griechenlands mit. Sie haben großen Einfluss. Sie heißen Varvitsiotis, Papaligouras, Kefaloyannis. Sie sind Minister, Staatssekretäre, sitzen in Ausschüssen, im Parlament, in Komitees und wurden auch bei diesen Wahlen wiedergewählt. Warum auch nicht? Gut ist, was dem Clan nützt. Dafür hat jeder Verständnis.
Sehnsucht nach Normalität
Die Wahl von Mitsotakis zum Ministerpräsidenten sei ein strategischer Sieg, meint Takis Theodoropoulos, politischer Beobachter der liberal-konservativen Tageszeitung Kathimerini (8. Juli). Er habe sein Ziel erreicht: die absolute Mehrheit im Parlament. Damit ist der Premier auf keinen Koalitionspartner angewiesen, Reformen und Gesetze können schnell umgesetzt werden. Mitsotakis sei die Stimme einer stillen Mehrheit, die in den vergangenen vier Jahren unter Syriza mundtot gemacht wurde. Wer nicht für die Regierung war, war gegen sie, wurde als Verräter beschimpft, als Lügner, Volksfeind, als ein „germanotsolias“, ein Kollaborateur der Deutschen. Der Wahlsieg von Mitsotakis zeige, dass die Menschen genug haben von den ewigen Anschuldigungen, Streitereien, dem gefühlsduseligen, eruptiven Populismus Syrizas und ihrer spaltenden Politik, die einteilt in Gegner und Befürworter der Sparmaßnahmen. Die Menschen sehnen sich nach Normalität.
Ebenso offenbare der Wahlausgang das Bedürfnis der Bevölkerung nach Sicherheit. Seit Langem schon attackiert und verwüstet die Anarchistengruppe Rouvikonas öffentliche Gebäude, Botschaften, Kirchen, Geschäftsräume. Immer wieder werden Bankautomaten in die Luft gesprengt, Schaufenster zerstört, Autos demoliert – und nichts passiert. Auch der Absturz der Neonazipartei Goldene Morgenröte markiere einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Normalität. Die Rolle der „Verrückten“ dürften nun Varoufakis und Velopoulos, die Chefs der beiden kleinen, neu ins Parlament eingezogenen Parteien übernehmen. Darüber hinaus markiere Mitsotakis’ Wahlsieg das Ende einer von Bankrott, Spaltung und Unsicherheit gekennzeichneten Dekade.
Mehr auf die Wirtschaft und die anstehenden Probleme konzentriert sich Nikos Konstandaras, ebenso Kolumnist der Kathimerini (8. Juli). Nach zehn Krisenjahren, nach dem größten Rettungsprogramm eines souveränen Staates sei Griechenland noch immer in Gefahr. Das Land brauche ausländische Direktinvestitionen, stabile Banken und eine Übereinkunft mit seinen Kreditgebern, die Schlinge der hohen Primärüberschüsse zu lockern. Auch die von der Krise erschöpfte Bevölkerung brauche Hoffnung. Doch mit einem Schuldenberg von 180 Prozent der Wirtschaftsleistung und einer verschärften Beobachtung seitens der Kreditgeber bis ins Jahr 2059 werde es lange dauern, bis die Wirtschaft sich erhole.
Mitsotakis müsse schnell handeln. Er wolle Investitionen fördern und ein Klima der Ruhe und Stabilität schaffen. Und genau hier spiele Syriza als größte Oppositionspartei eine entscheidende Rolle. Entweder rücke Alexis Tsipras seine Partei in die linke Mitte, wo die einst mächtige sozialistische Pasok ein Vakuum hinterlassen hat, oder er nutze auch weiterhin die Wut, die die Krise in der Gesellschaft hinterlassen habe. In der griechischen Politik sei es üblich, dass Oppositionsparteien alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Pläne der Regierung zu behindern, und es sei sehr wahrscheinlich, dass Syriza dasselbe tun werde. Wenn Tsipras sich jedoch für eine verantwortungsvolle Oppositionspolitik entscheide, könnte eine neue Ära beginnen, seine Partei könnte sich auf Dauer etablieren und wäre nicht nur eine Protestbewegung.
Die größte Herausforderung aber warte auf Kyriakos Mitsotakis. Er müsse die chronischen Probleme in der Verwaltung, der Wirtschaft und der Politik überwinden. Als Außenseiter gewann er 2016 den Parteivorsitz der Nea Dimokratia. Er schaffte es, die Partei zusammenzuhalten, als der Namensstreit mit Mazedonien beigelegt wurde und ein Aufschrei der Empörung durch seine Partei ging. Schließlich festigte er durch den überlegenen Sieg bei den Europawahlen im Mai 2019 seine Position innerhalb der Partei. Wenn Mitsotakis das Land im Geiste der Einheit führe, dann seien die größten strukturellen Veränderungen, die Griechenland benötige, in greifbarer Nähe.
Chance und Lektion
Die linke Zeitung Efimerida Ton Syntakton beschäftigt sich vor allem mit Syriza. Der hohe Stimmenanteil bilde die Grundlage für die Zukunft der Partei, notiert Kostas Maroundas (8. Juli). Syriza, einst eine in sich fragmentierte Minipartei mit gerade mal 4 Prozent, habe breite Wurzeln geschlagen. Sie werde auch künftig eine tragende Rolle spielen. Das Wahlergebnis spiegele zwar den Wählerwunsch, nicht weiter von einer unreifen Regierung geführt zu werden. Aber die Abwahl Syrizas berge die Chance, als Partei zu reifen und damit die Aussicht auf eine Rückkehr. In der Opposition werde Syriza daran erinnert, wie es ist, in der „wirklichen Gesellschaft“ zu operieren.
Auch bei der linksliberalen Ethnos drehen sich die meisten Kommentare um Syriza. Es gebe keine strategische Niederlage Syrizas, schreibt Voula Kechaya (9. Juli). 31,5 Prozent sei, gemessen an den Umständen, ein außerordentlich gutes Ergebnis. Der hohe Wählerzuspruch erlaube es Tsipras und seiner Mannschaft, zur Speerspitze einer großen, progressiven Bewegung heranzuwachsen, einer Bewegung, wie sie einst Andreas Papandreou, Gründer der Pasok, angeführt hat.
Ganz anders beurteilt die liberale Zeitung To Vima den Wahlausgang: Chance für Mitsotakis, Lektion für Tsipras (8. Juli). Es sei ein großer Sieg für die Nea Dimokratia und ihren Parteichef. Zugleich sei eine wankelmütige Regierung an ihr Ende gelangt. Dennoch konnte sich Syriza bei den Wählern behaupten, trotz ihrer starken Verluste bei den Europawahlen bilde sie die größte Opposition im Lande. Der Wahlausgang bedeute die Rückkehr des alten Zwei-Parteien-Systems: Die Bürger hätten sich für eine starke Regierung und eine starke Opposition entschieden. Sie erwarteten von beiden Parteien, die ihnen übertragenen Aufgaben im nationalen Interesse verantwortungsbewusst und ernsthaft zu erfüllen.
Eine der dringlichsten Aufgaben des neuen Premiers sei es, das Volk zu einen, meint Tom Ellis von der Tageszeitung Kathimerini (9. Juli). Die aggressive, spaltende Dialogkultur Syrizas und die vulgären Angriffe auf politische Gegner hätten im sozialen Gefüge Narben hinterlassen. Viele Politiker hätten mitten in der Krise die „nationale Karte“ gespielt. Es herrschten Hass und eine vergiftete Stimmung. Mitsotakis müsse politische Rivalitäten und persönliche Verbitterung überwinden. Wenn wir mehr Anstand, Einigkeit und Verständnis in der öffentlichen Debatte wollen, muss der Ministerpräsident den ersten Schritt tun, folgert Ellis.
Griechenland lacht wieder, so die alternative Wochenzeitung Athens Voice (8. Juli). Zum ersten Mal habe Griechenland einen liberalen Premier, der nichts und niemandem etwas versprochen habe. Ein Sieg der Vernunft eingedenk der Tatsache, dass vor vier Jahren 61 Prozent für den Grexit stimmten. Griechenland bleibe tief gespalten – aber es sei wichtig, dass die Spalter besiegt wurden und ihre ideologische Hegemonie in Trümmern liege. Der Weg zum Fortschritt führe nicht über den Totalitarismus, sondern über eine liberale Gesellschaft mit offenen Institutionen, hin zu Europa und der westlichen Welt. Doch so einfach werde es nicht. Syriza sei eine zutiefst populistische Partei, die auf dem Weg zur Macht die Spaltung der Gesellschaft kultivierte, für die vor allem die Schwächsten und Ärmsten empfänglich sind.
Eine Vision für das Land
Der unabhängige Informationsdienstleister Macropolis hält dagegen nichts vom landläufigen Narrativ, Mitsotakis habe nichts versprochen (12. Juli). Mitsotakis habe sich zurückgehalten und den Wahlkampf in einem für griechische Verhältnisse sehr gemäßigten Ton geführt. Er unterließ es, schnelle Lösungen für Griechenlands Misere anzubieten: kein elf Milliarden Euro teures Thessaloniki-Programm, wie es Syriza 2014 verkündete. Unter Mitsotakis’ Führung adaptiere Nea Dimokratia eine geerdete Vorgehensweise, ohne absurde Versprechungen. Aber gab es jemals irgendwo auf der Welt Wahlkampagnen ohne Versprechungen? Nea Dimokratia habe die Wahl gewonnen, weil sie eine Vision für das Land entwarf und nicht in der Vergangenheit verharrte.
Und genau diese Vision beinhalte mehrere Versprechen: Steuersenkungen in Höhe von bis zu sechs Milliarden Euro, eine Verdoppelung des Wirtschaftswachstums, die Erhöhung des Mindesteinkommens. Je genauer man das Programm der Partei betrachte, desto mehr ähnelt es den typischen Versprechen griechischer Parteien: mehr Wachstum, höhere Löhne, weniger Steuern, die Schaffung Tausender neuer Jobs. Das sei per se nicht falsch, bilanziert Macropolis. Es sei schließlich genau das, was Griechenland brauche. Gemessen am Zustand des Landes jedoch seien es ziemlich ambitionierte Versprechungen. Es werde sich zeigen, ob sie realistischer waren als jene, die in der Vergangenheit gemacht wurden.
Richard Fraunberger berichtet unter anderem für die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung, GEO und Mare aus Griechenland.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2019, S. 130-133