Ein Schritt vorwärts, zwei zurück
Griechenlands Aufschwung steht auf wackligen Beinen
Stabilität, Wettbewerbsfähigkeit, die Wiedererlangung staatlicher Souveränität, drastische Senkung der Staatsschulden, Rückkehr internationaler Investoren, Schaffung Zehntausend neuer Arbeitsplätze – so oder so ähnlich sieht die griechische Erfolgsstory aus, von der man in Athen träumt. Sollte sie demnächst auch nur ansatzweise Wirklichkeit werden, hieße ihr Held wohl Antonis Samaras. „Wir übertreffen mit unseren Fortschritten schon jetzt alle Erwartungen. Wir können auf eigenen Füßen stehen. Wir haben die Mittel, das Rettungsprogramm hinter uns zu lassen“, erklärte der Ministerpräsident. Von Wiederauferstehung ist die Rede, vom Beginn einer neuen Ära, vom Ende der Rezession. „Griechenland ist zurück“, erklärte Samaras feierlich. An hymnischen Beschwörungsformeln hat es in Griechenland allerdings noch nie gemangelt. Die Worte sitzen so locker wie die Revolver der Cowboys im Wilden Westen. Glaubt man Samaras, ist Griechenland so gut wie über den Berg. Was ist das? Eine triumphale Auferstehung? Ein politisches Manöver? Wunschdenken?
Tatsächlich erwecken die Meldungen der vergangenen Monate den Eindruck, das Krisenland habe sich wirtschaftlich erholt. Der Aufschwung komme, Griechenland habe die Hürden gemeistert, von nun an sei nur noch mit Wachstum zu rechnen. Vor allem das Zauberwort „Primärüberschuss“ sorgt für Optimismus. Es ist der Deus ex Machina. Die Zahl spiegelt die theoretische Chance wider, den Schuldenstand zu senken. Der zum zweiten Mal in Folge erwirtschaftete Primärüberschuss beträgt 1,5 Prozent. Ein drittes Hilfspaket sei nicht nötig. Von nun an will die Regierung ihren Kreditbedarf wieder vollständig am Kapitalmarkt decken. 15 Monate früher als geplant will sie sogar das Hilfsprogramm des IWF beenden. Samaras drängt auf ein Ende der Auflagen, der Kontrollen und der Bevormundung durch die beim Volk verhasste Troika. Derzeit verhandelt man über eine vorsorgliche Kreditlinie, eine Art -Sicherheitsnetz, das das Land beim Übergang vor Turbulenzen sichern soll. Samaras’ Befreiungsschlag zielt vor allem auf eines: sein politisches Überleben.
Nach kaum zwei Jahren im Amt steht der Ministerpräsident möglicherweise vor dem Aus. Alexis Tsipras, Chef der größten Oppositionspartei, der radikallinken Syriza, sitzt Samaras im Nacken und treibt ihn vor sich her. Den Vollstrecker der Troika nennt er ihn. Tsipras, Volksheld und Bürgerschreck, drängt unentwegt auf Neuwahlen. Er läuft Sturm gegen die Sparpolitik, die Reformen, die Rückzahlung der Schulden. Er verspricht, die Mindestlöhne wieder zu erhöhen, Rentenkürzungen rückgängig zu machen, gestrichene Sozialleistungen wieder zu gewähren und Zehntausende entlassene Staatsdiener wieder einzustellen. Man fühle sich an keinerlei Vereinbarungen mit den internationalen Geldgebern gebunden, sagt der Oppositionsführer. Letzten Umfragen zufolge liegt sein Linksbündnis in der Wählergunst satte sechs Punkte vor der konservativen Nea Dimokratia von Samaras. Ein historischer Vorsprung. Und ein Alptraum für Samaras und die Troika: Übernimmt Tsipras die Regierung, erbeben die Euro-Zone und die Finanzmärkte.
Mit den Zahlen spielen
Die Chancen für einen vorzeitigen Machtwechsel stehen gut. Die Wahl eines neuen Staatspräsidenten steht bevor. Gewählt wird er vom Parlament. Dazu ist eine qualifizierte Mehrheit von 180 Stimmen notwendig. Die Regierungskoalition verfügt über eine knappe Mehrheit von 155 Abgeordneten im 300-Sitze-Parlament. Scheitert die Präsidentschaftswahl, muss das Parlament aufgelöst und neu gewählt werden. Die ursprünglich für den Februar vorgesehene Wahl wurde kurzerhand auf Dezember vorverlegt. So solle „die politische Stabilität wiederhergestellt werden“, erklärte die Regierung. Tsipras, ganz im Aufwärtswind, wird alles daran setzen, Neuwahlen zu erzwingen. Und Samaras alles dafür tun, die fehlenden 25 Stimmen herbeizuschaffen. Dazu muss er Zuversicht verbreiten, bei den Geldgebern, der Troika, den Investoren, vor allem aber bei den Wählern und den Abgeordneten im Parlament. Erfolge müssen her. Und der größte Erfolg wäre, die Troika endlich abzuschütteln, wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Wie Irland, Portugal und Spanien. Aber wie realistisch ist die Kunde vom erstarkten Griechenland?
Jede Menge Prognosen, Analysen und Statistiken kursieren. Zahlenspiele, deren Ergebnisse davon abhängen, wie und womit man sie füttert und was man damit politisch und wirtschaftlich bezweckt. Das Bruttoinlandsprodukt werde 2015 um 2,9 Prozent zulegen, erklärte Finanzstaatssekretär Christos Staikouras. Der Haushaltsentwurf für 2015 ist nahezu ausgeglichen, meint die Regierung. Die Troika dagegen sieht noch eine Lücke von 2,5 Milliarden Euro und besteht auf weitere Kürzungen, was die Regierung aus Sorge vor politischer Destabilisierung ablehnt. Das Defizit wurde in fünf Jahren um 12,5 Prozent des BIP reduziert. Griechenland wird voraussichtlich sogar das 3-Prozent-Maastricht-Kriterium unterschreiten. Wachstumsmotor war der boomende Tourismus mit Rekordbesucherzahlen und -einnahmen. Auch der Sparkurs greift. In fünf Jahren wurden über 370 000 Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen. Nur jede fünfte durch Pensionierung frei werdende Stelle wurde neu besetzt. Die Verwaltung wurde verschlankt, reformiert und sogar ein Bewertungssystem eingeführt. Effizient und wirtschaftsfreundlich ist sie aber noch lange nicht. In keinem anderen EU-Land ist die Unternehmensgründung so zeitraubend und kompliziert.
Ein großer Wurf war die Platzierung griechischer Staatsanleihen auf dem Finanzmarkt. Gut sechs Milliarden Euro füllten die Kassen. Doch der Erfolg hängt eher mit der vergemeinschafteten Haftung und der Entschlossenheit des EZB-Chefs Mario Draghi zusammen, Griechenland im Euro-Raum zu halten. Die Haushaltslage und der noch immer desaströse Zustand der Wirtschaft spielten für die Investoren keine Rolle. Ob die Rückkehr an den Markt dauerhaft geglückt ist, muss bezweifelt werden. Zu welchen Konditionen wird sich Griechenland künftig refinanzieren, wenn es nicht mehr unter der Aufsicht der Troika steht und der ohnehin nicht ausgeprägte Reformwille durch den Willen zum Machterhalt erlahmt? Der Finanzbedarf für die kommenden zwei Jahre beläuft sich auf 30 Milliarden Euro.
240 Milliarden Euro an Notkrediten flossen bisher ins Land. Noch immer ist der Schuldenberg von 318 Milliarden Euro riesig und vermutlich ohne einen weiteren Schuldenschnitt nicht abzubauen. Was bedeutet da ein Primärüberschuss von rund zwei Milliarden Euro, bei dem die reale Zinslast unberücksichtigt bleibt? Und wie soll die Arbeitslosenquote von 27 Prozent gesenkt werden, wenn seit Beginn der Krise 230 000 Firmen pleite gegangen sind und es an Investoren weiter mangelt? Griechenlands Ökonomie ist traditionell auf Landwirtschaft, Nahrungsmittel und Tourismus ausgerichtet und wenig innovativ. Sie ist geprägt durch kleine und mittelständische Betriebe des verarbeitenden Gewerbes. Wie instabil die Lage ist, zeigten Kursstürze an der Athener Börse und der Aufschlag der Renditen für griechische Staatsanleihen. Ein paar Gerüchte um vorzeitige Neuwahlen, Meinungsumfragen sowie die Ankündigung, aus dem Rettungsprogramm auszusteigen, und schon steht die glorreiche Rückkehr an die Märkte auf wackeligen Beinen. Nach der Bekanntgabe, die Wahl des Staatspräsidenten auf Dezember vorzuziehen, stürzte der griechische Bankenindex umgehend um mehr als 15 Prozent ab. Der Patient ist noch lange nicht genesen.
Tickende Bomben
Der Reformstau ist gewaltig. Die Privatisierungen kommen kaum voran; die versprochene Öffnung so genannter geschützter Berufe, darunter Architekten, Ingenieure, Anwälte, Notare, läuft ebenso schleppend; die von der Troika geforderten Arbeitsmarktreformen haben kaum eine Chance auf Umsetzung und die Steuerhinterziehung blüht, trotz zahlreicher Sonderbehörden. Obendrein tickt, leise und verborgen, so manche Bombe. Immer weniger Beschäftigte müssen für immer mehr Rentner aufkommen. Eine ungünstige Bevölkerungsentwicklung, fallende Löhne und Gehälter, wachsende Schwarzarbeit und hohe Arbeitslosigkeit reißen Milliardenlöcher in die ohnehin schon klammen Sozialkassen. Viele Firmen und Freiberufler zahlen seit Jahren keine Versicherungsbeiträge mehr. Auf 20 Milliarden Euro belaufen sich die Fehlbeträge. Hinzu kommt der Ansturm auf die Frührente. Aus Angst vor weiteren Kürzungen der Efapax, einer zusätzlich zur Rente einmalig ausgezahlten Berufsprämie, beantragen immer mehr 50-Jährige den vorzeitigen Ruhestand.
Ebenfalls explosiv ist die Schuldenlast. Staat, Parteien, Unternehmen, Banken, Bürger, Vereine, alle stehen in der Kreide, nur der Kirche geht es gut. Ein Drittel der Bevölkerung kann seine Steuern und Versicherungen nicht bezahlen oder gibt vor, es nicht tun zu können. Umgekehrt begleicht der Staat seine Rechnungen nicht, seinen Bürgern schuldet er Rentengelder und unrechtmäßig erhobene Steuern. In den vergangenen fünf Jahren haben sich ausstehende Steuerbeträge auf schwindelerregende 90 Milliarden Euro angehäuft – fast ein Drittel der gesamten Staatsverschuldung. Was wiederum mit den Einkommensverlusten zusammenhängt, höheren Steuern, immer neuen Abgaben und dem ineffizienten Verwaltungsapparat.
Niemand fühlt sich verantwortlich für den Zustand der öffentlichen Finanzen. Die meisten Bürger neigen zur Schizophrenie. Sie trennen klar zwischen Staatsschulden und den eigenen, obgleich sie einen großen Teil ihres Wohlstands einer jahrzehntelangen Steuerhinterziehung verdanken. Eine angemessene und korrekte Besteuerung hat es nie gegeben, geschweige denn ernst zu nehmende Steuerkontrollen. Daher auch der derzeitige Aufschrei und die moralische Empörung über jede Steuererhöhung, auch wenn so manche die Falschen trifft.
Und das staatliche Haushaltsdefizit? Ist nach wie vor an jeder Ecke zu besichtigen. Mit dem Wissen der Regierung wurde es in Beton gegossen und zieht sich in Gestalt Hunderttausender Ferienhäuser über ganz Griechenland. In der einstigen Agrargesellschaft, in der nahezu jeder ein Haus und einen Acker besitzt, gilt es bis heute als selbstverständlich, Immobilien am besten nicht zu besteuern – Haus und Boden sind heilig und wie die Taufe Teil der Selbstdefini-tion. Für nackte Panik in der Bevölkerung sorgte die Forderung der Troika, auch Erstwohnungen zu pfänden, wenn Kredite nicht bedient werden können. Umgehend forderten 15 Parlamentarier die Verschiebung des Gesetzes um ein weiteres Jahr – und damit vermutlich auf den Sankt Nimmerleinstag. Geschätzte 170 000 Häuser und Wohnungen kämen andernfalls unter den Hammer.
Was Griechenland braucht, um auf eigenen Füßen zu stehen, sind weder ein Primärüberschuss noch die Lockerung des Kündigungsschutzes. Das Land braucht den Willen und die Einsicht, sich von alten Praktiken und Gewohnheitsrechten zu verabschieden. Ohne einen Wandel in der mit Hybris durchsetzten Geisteshaltung bleibt Griechenland, was es ist: ein von Abertausenden Einzelinteressen geformter Staat, der permanent am Abgrund steht. Solange Bürger und Politiker wie verzogene Kinder auf Vorteile und Privilegien pochen und in ihrem Innersten davon überzeugt sind, Europa, ja die ganze Welt schulde ihnen ewigen Dank für die Erfindung der Zivilisation, solange wird es mit dem kleinen Land auf dem Balkan stets einen Schritt vorwärts gehen und zwei zurück.
Richard Fraunberger lebt seit 2001 in Griechenland und schreibt u.a. für ZEIT, SZ, GEO und Mare.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2015, S. 60-63