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19. Mai 2015

Schwieriger Balanceakt

Berlins Ringen um eine neue Politik gegenüber Russland geht weiter

Einerseits soll Putin klar gemacht werden, dass die Annexion der Krim und die militärische Unterstützung für die prorussischen Separatisten in der Ostukraine für den Westen nicht hinnehmbar sind. Andererseits braucht man Russland bei der Bewältigung internationaler Krisen – und der Wahrung von Stabilität in Europa. Die Folge ist ein nach außen widersprüchlich wirkender Kurs.

Mit der Erinnerung an die Geschichte wurde schon immer Politik gemacht – positiv wie negativ. Das deutsche politische Spitzenpersonal hat deshalb den 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs zu einer gleich dreifachen Geste an Russland genutzt: Am 6. Mai würdigte Bundespräsident Joachim Gauck die Rolle der sowjetischen Soldaten beim Sieg gegen Nazi-Deutschland und erinnerte an das millionenfache Leid der sowjetischen Kriegsgefangenen. Am 7. Mai flog Außenminister Frank-Walter Steinmeier nach Russland, um in Wolgograd, dem früheren Stalingrad, Kränze auf zwei Soldatenfriedhöfen für sowjetische und deutsche Tote niederzulegen. Und am 10. Mai reiste dann Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Moskau, um dort zusammen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin das Grabmal des unbekannten Soldaten zu besuchen. Alle drei leisteten mit diesem klaren Bekenntnis zur deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg und dem Überfall auf die Sowjetunion einen Beitrag, um die seit dem Ukraine-Konflikt und der Krim-Annexion eingefrorenen Beziehungen zu Russland zumindest etwas aufzutauen.

Denn ungeachtet des ungelösten Ukraine-Russland-Konflikts wächst in Berlin seit Monaten der Wunsch, den Kontakt mit Moskau nicht zu verlieren. Die Bundesregierung befindet sich dabei in einem schwierigen Balanceakt. Einerseits soll Putin klar gemacht werden, dass die Annexion der Krim und die militärische Unterstützung für die prorussischen Separatisten in der Ostukraine für den Westen nicht hinnehmbar sind. Andererseits braucht man Russland bei der Bewältigung internationaler Krisen – und der Wahrung von Stabilität in Europa. Die Folge ist ein nach außen zunächst widersprüchlich wirkender Kurs, der durch die Gleichzeitigkeit eines harten EU-Sanktionskurses und demonstrativen Gesprächsangeboten gekennzeichnet ist.

Die SPD auf der Suche nach der verlorenen Ostpolitik

Das stellt vor allem die Sozialdemokraten vor eine Herausforderung. So hatte Steinmeier schon am 14. Dezember 2014 in einem Brief an die SPD-Bundestagsabgeordneten daran erinnert, dass Ostpolitik ein sozialdemokratisches Erbe seit Bundeskanzler Willy Brandt ist – und schon immer den Dialog mit einem andersdenkenden, schwierigen Partner bedeutet hatte. Seit Monaten denkt man im Auswärtigen Amt deshalb darüber nach, wo man mit Russland neue Gesprächsbande knüpfen kann. Im April lobte Steinmeier mehrfach Moskaus kooperative Haltung in den Atomgesprächen mit dem Iran oder bei den Versuchen zur Eindämmung des Konflikts im Jemen.

Gerade für die Sozialdemokraten spielt dabei auch eine innenpolitische Komponente eine Rolle. Denn Anhängerschaft und vor allem die Altvorderen der SPD sind beim Russland-Thema gespalten. Frühere Kanzler wie Gerhard Schröder oder Helmut Schmidt haben die Russland-Politik der Großen Koalition als angeblichen Verrat an der Ostpolitik kritisiert und mehr Verständnis für das russische Vorgehen gefordert. Steinmeier und auch SPD-Chef Sigmar Gabriel teilen diesen Vorwurf zwar nicht und verweisen intern auf das monatelange intensive Ringen mit Russland und die dennoch erfolgte Annexion der Krim und die Eskalation in der Ostukraine. Aber die besondere Betonung der Gesprächsbereitschaft mit der russischen Führung sehen auch sie als ein Mittel, um die Kluft innerhalb der SPD zu schließen.

Neuen Auftrieb hat das Nachdenken über die neue Ostpolitik vor allem seit dem am 12. Februar geschlossenen Minsker Abkommen zur Befriedung der Ostukraine bekommen. Denn dort hatte sich Putin zu einer friedlichen Lösung in der Ostukraine bekannt – und dazu, dass die Region Teil der Ukraine bleiben soll.

Wie weit die Planungen innerhalb der SPD gediehen waren, machte dann eine Indiskretion der ZEIT öffentlich. Dort wurde Anfang Mai auf ein bereits Mitte Februar verfasstes gemeinsames Papier von Steinmeier, Gabriel und dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, zur neuen Ostpolitik verwiesen, das dem Blatt zur Veröffentlichung angeboten worden war – ohne dass aber je die endgültige Freigabe zum Abdruck kam. Denn immer wieder führten Waffenstillstandsverletzungen nach dem 12. Februar und die Angst vor einer Eskalation um die südostukrainische Stadt Mariupol dazu, dass man in der SPD-Spitze den Zeitpunkt für einen öffentlichen Vorstoß noch nicht für gekommen sah.

Auf die Frage, ob er Chancen für eine neue Ostpolitik sehe, sagte deshalb auch Anfang Mai Gernot Erler, Regierungsbeauftragter für die zivilstaatlichen Beziehungen zu Russland: „Ich glaube, dass das derzeit noch nicht entscheidbar ist. Im Augenblick konzentriert die Politik noch alle Kräfte darauf, eine notwendige Deeskalation in der Ostukraine zu erreichen.“ Es sei noch zu früh, wieder langfristige Linien zu ziehen.

Hintergrund des Zögerns ist auch die Sorge, dass die SPD im Falle einer neuen Eskalation gerade wegen des bedingungslos prorussischen Kurses der Altkanzler wieder in die Ecke naiver „Russland-Versteher“ und der Unterstützer eines autoritären Regimes gestellt wird. Denn zumindest bis zum 9. Mai waren die Signale, die Moskau aussandte, sowohl nach Ansicht des Auswärtigen Amtes als auch des Kanzleramts tatsächlich immer wieder widersprüchlich. So kritisierte Steinmeier Mitte April nach dem Lob für Russlands konstruktive Haltung in der Atomdebatte mit Teheran, dass Russland die Freigabe für die Lieferung eines russischen Raketensystems an den Iran ankündigte. Die pompöse Militärparade zum Gedenken an den Sieg über Hitler-Deutschland am 9. Mai irritierte dann die gesamte westliche Welt.

Die Bundesregierung will Russland einbinden

De facto unterschied sich die reale Russland-Politik von Steinmeier und Merkel nach Angaben beider Häuser also kaum. Denn auch Merkel lobte trotz aller Kritik mehrfach das russische Verhalten in internationalen Krisen. Auch die Kanzlerin setzte sich wie Steinmeier und Gabriel im Januar für Gespräche der EU mit der Eurasischen Union ein. Auf der Suche nach möglichen Kooperationsthemen landete die Bundesregierung insgesamt wieder bei einem alten deutschen Ansatz – dem Wandel durch Handel. Wenn man schon politisch auseinanderzudriften droht, sollte man zumindest Anknüpfungspunkte im wirtschaftlichen Bereich suchen. Allerdings bleiben die wegen des Ukraine-Konflikts verhängten EU-Sanktionen davon unberührt, die sowohl Merkel als auch Steinmeier im Juni verlängern wollen. Das Argument für den scheinbaren Widerspruch: Weil die Sanktionen als Reaktion auf die Annexion der Krim bzw. die Eskalation in der Ostukraine verhängt wurden, können sie auch erst wieder aufgehoben werden, wenn die Ursachen für die Sanktionen beseitigt sind. Dies bedeutet etwa die vollständige Umsetzung des im Februar beschlossenen Umsetzungsplans für das Minsker Abkommen, was bis Jahresende angepeilt wird. 

Das monatelange Nachdenken über eine neue Ostpolitik hat aber auch gezeigt, wie schwierig es ist, Ansatzpunkte zu finden. Die gemeinsame Umsetzung des Minsker Abkommens gilt dabei als Test für den Willen zur Deeskalation. Außerdem ergibt sich eine punktuelle Zusammenarbeit bei der Lösung internationaler Konflikte. Am 13. Mai schlug Merkel deshalb vor, dass der Syrien-Konflikt nach dem Vorbild der Iran-Krise gelöst werden sollte. Dies würde eine Sechser-Kontaktgruppe der fünf UN-Vetomächte und Deutschlands bedeuten und damit den ausdrücklichen Einschluss Russlands und Chinas. An eine Rückkehr Russland in den sich gerade wieder als Wertegemeinschaft begreifenden G7-Kreis ist aber schon wegen des Widerstands der USA nicht zu denken – auch wenn US-Außenminister John Kerry am 12. Mai erstmals seit zwei Jahren wieder nach Russland reiste. In den eingefrorenen NATO-Russland-Kontakten ist das so genannte Rote Telefon aus den Zeiten des Kalten Krieges reaktiviert worden, um zumindest eine militärische Eskalation nach einem unbeabsichtigten Zwischenfall zu verhindern.

Die zarten Kontaktversuche jenseits der mühsamen Ukraine-Verhandlungen finden in Berlin durchaus parteiübergreifend Unterstützung: „Grundsätzlich ist es sehr wichtig, dass in dieser schwierigen Phase der deutsch-russischen Beziehungen unsere Kanzlerin und andere die richtigen Zeichen setzen, dass die Partnerschaft bleibt“, sagt der außenpolitische Sprecher der CDU, Philipp Mißfelder. Er hoffe, dass Russland und die NATO bald wieder besser zusammenarbeiteten. Ähnlich sieht dies sein Grünen-Kollege Omid Nouripour: „In diesen Zeiten muss die Bundesregierung jeden Dialogfaden mit Russland aufnehmen. Die derzeitige Eskalation produziert nur Verlierer auf beiden Seiten.“

Neues Spiel nach dem 9. Mai

Paradoxerweise wurde die Erinnerung an das Kriegsende als Chance und Dämpfer zugleich empfunden. Dämpfer, weil Putin am 9. Mai die größte Militärparade in der Geschichte Russlands inszenieren ließ. Die waffenstrotzende Show, die Russlands Präsident zusammen mit einigen wenigen Staats- und Regierungschefs aus China, ehemaligen Sowjetrepubliken und autoritär regierten Ländern abnahm, wirkte wie ein Symbol für ein eher auf Konfrontation ausgerichtetes Denken in Moskau. Noch nie seit Ende des Kalten Krieges wirkte die Kluft zwischen Ost und West so groß wie am 9. Mai 2015 auf dem Roten Platz in Moskau. Merkel und Steinmeier hatten deshalb wie fast alle anderen europäischen Politiker die Einladung zur Militärparade ausgeschlagen.

Andererseits bemühte sich Moskau gleichzeitig um positive Signale. Russlands Außenminister Sergej Lawrow hatte sich angeboten, Steinmeier am 6. Mai nach Wolgograd zu begleiten. Dort legte er zwar keinen Kranz, aber zumindest rote Nelken auf dem deutschen Soldatenfriedhof nieder. Und die Tonlage änderte sich etwas: In der gemeinsamen Pressekonferenz nannte er Deutschland den wichtigsten Partner Russlands in europäischen und internationalen Angelegenheiten. „Wir betrachten Deutschland heute als unseren Partner, als mit uns befreundetes Land“, sagte Putin seinerseits nach dem Treffen mit Merkel am 10. Mai. Und er erinnerte daran, „dass unsere Länder auch in viel schwierigeren Zeiten und unter schwierigeren Voraussetzungen als heute konstruktiv zusammengearbeitet haben“. Danach folgte sein Treffen mit US-Außenminister Kerry. Immer wieder betont Putin, Russland stehe zur vollständigen Umsetzung des Minsker Abkommens, was in Berlin als Hinweis darauf verstanden wird, dass Moskau die Abspaltungswünsche der prorussischen Separatisten in der Ostukraine nicht unterstützen will.

Es bleibt aber die Annexion der Krim. Und aus Sicht der osteuropäischen Länder die Sorge, dass Russland wie nach dem Georgien-Krieg lediglich in eine Phase der Konsolidierung vor einer neuen Aggression übergeht. Auch die Kanzlerin achtete deshalb nach dem 9. Mai sehr genau auf eine doppelte Botschaft und die Unterscheidung der Opfer- und Täter-Rollen. Erst bekannte sie sich zu der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg und dem Leid in der Sowjetunion sowie zum Angebot intensiverer Absprachen mit Moskau. Dann folgte der Satz: „Durch die verbrecherische und völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die militärischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine hat diese Zusammenarbeit einen schweren Rückschlag erlitten – schwer, weil wir darin eine Verletzung der Grundlagen der gemeinsamen europäischen Friedensordnung sehen.“

Um die Botschaft unmissverständlich zu machen, lud sie zudem am 13. Mai den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko ins Kanzleramt ein. Dort lobte sie nicht nur die „exzellenten“ bilateralen Beziehungen, sondern betonte auch, dass die Ukraine „alle Unterstützung auf einem wirtschaftlich erfolgreichen Weg und auf einem Weg zum Frieden verdient“.

Dr. Andreas Rinke ist politischer Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.

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