Schöner Schein
Der wirtschaftliche Ertrag der Fußball-WM ist gering, der Prestigegewinn umso größer
Mit den Olympischen Winterspielen, dem Confed-Cup und der Fußballweltmeisterschaft hat Russland gleich drei Großveranstaltungen hintereinander erlebt. Wirtschaftlich zahlt sich das nicht aus, von Nebeneffekten für die Infrastruktur abgesehen. Doch der Kreml hofft auf Prestigegewinne im Ausland – und patriotische Shows fürs heimische Publikum.
Wir steigen mit dem Vergleich zweier russischer Eishockeyvereine ein – Eishockey ist schließlich Nationalsport in Russland. Da gibt es zum einen den HK ZSKA Moskau, und wer innerhalb oder außerhalb Russlands mit Eishockey etwas anfangen kann, der wird natürlich sofort anfangen zu weinen vor Rührung, wenn er an die Helden vom ZSKA nur denkt, die auch die Helden der sowjetischen Eishockeynationalmannschaft der 1970er, 1980er Jahre waren.
Fetissow, Krutow, Tretjak, Makarow, Larionow und die anderen bildeten die „Rote Armee“, die beste Eishockeymannschaft ihrer Zeit und aller Zeiten. Der große Sportkommentator und Eishockeyexperte Marcel Reif hat die Wirkung ihres Spieles auf unvergleichliche Art zusammengefasst. „Wenn die Sowjets in Fahrt kamen, dann lief alles wie vorprogrammiert, aber auf einmal verschärften die dann nochmal das Tempo. Das Geräusch ihrer Schlittschuhe auf dem Eis, es klang wie ein Sirren, so ein ganz klarer, hoher Ton. Das ganze Spiel gewann dann einen anderen Aggregatzustand. Wenn sie Überzahl hatten, fingen sie an, ihre Überlegenheit auszuspielen, aber nicht brachial, das war nur noch Schönheit in Bewegung.“ Damit sind Wesen und Wirkung des einst sowjetischen und längst wieder russischen Traditionsvereins im Eishockey zutreffend beschrieben. Nach langem Dämmerschlaf erwachte der ZSKA in den vergangenen Jahren wieder und gewann 2015 den ersten nationalen Titel seit dem Untergang der Sowjetunion.
Der andere Eishockeyverein – und das exakte Gegenmodell zum ZSKA – ist der HK Sotschi, der 2014 gegründet wurde. Dieser Klub am Schwarzen Meer hat keine Tradition, keine Geschichte, keinen besonderen Anspruch, keinen speziellen Klang. Aber er muss auch gar keine Meisterschaft gewinnen. Es reicht vollkommen aus, dass es ihn gibt. Der HK Sotschi ist sich selbst genug, denn er spielt im Bolschoi-Eispalast, errichtet für die Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014 – eine zweiwöchige Party, nach deren Ende man den Bolschoi-Eispalast eigentlich nicht mehr gebraucht hätte. Deswegen gibt es jetzt diesen Eishockeyclub: um die Nachnutzung einer Sportarena zu gewährleisten, die immerhin geschätzt 300 Millionen Dollar gekostet hat und während der Olympischen Spiele vor allem dadurch bekannt geworden war, dass sich die Dachfläche mit zahlreichen LED-Lampen ausleuchten ließ, was auf den Bildern von den Spielen hervorragend aussah (und darauf kam es ja auch schließlich an).
Heute fristet das Stadion ein Schattendasein, als Heimstätte eines Eishockeyvereins ohne Wurzeln und Visionen. Immerhin, eine Großkatze ist das Wappentier dieses zu Recht so genannten Retortenvereins, da können die Fans eines der Maskottchen der Olympischen Spiele von 2014 mit in die Halle bringen, einen Schneeleoparden, der sonst auch schon längst vergessen wäre.
Mehrwert für die oberen Zehntausend
Welche wirtschaftlichen Auswirkungen haben sportliche Großveranstaltungen für das Ausrichterland, wie verhalten sich Kosten zu Nutzen? Fragen dieser Art werden immer wieder gestellt, erst recht mit Blick auf Russland, das innerhalb kurzer Zeit Gastgeber von gleich drei Großveranstaltungen war und ist: Olympische Winterspiele 2014, Confed-Cup 2017 und als Schluss- und Höhepunkt die Fußball-Weltmeisterschaft 2018.
Was die Olympischen Winterspiele in Sotschi angeht, gelten sie vier Jahre nach ihrer Durchführung als einsamer Höhepunkt olympischer Gigantomanie. Auch wenn offizielle Zahlen nicht immer belastbar sind, sprach man in Russland selbst von einem Gesamtbudget für die „Winterspiele im Badeort“ von ca. 50 Milliarden Dollar. Damit war die Sause in Sotschi so kostspielig wie sämtliche Winterspiele vorher zusammengenommen. Belastbare Berechnungen sind schwierig in Russland, denn der Anteil an Oligarchen-Zuwendungen ist nicht klar, und natürlich weiß man nicht, inwieweit das Budget durch Korruption unnötig in die Höhe getrieben worden ist. Die Gesamtkosten der Spiele in Pyeongchang 2018 jedenfalls wurden von den Südkoreanern bei ungefähr zehn Milliarden Dollar angesetzt – auch das kein Sonderpreis, aber wer vor Ort in Südkorea war, bekam mit, wie oft bei Pressekonferenzen die Rede davon war, dass keine Gefahr bestand, kostentechnisch auch nur ansatzweise in die Nähe von Sotschi zu gelangen. Für das Image der Spiele in Südkorea war diese regelmäßige Rückvergewisserung offenkundig wichtig.
Für Russland und für Sotschi hatten die Olympischen Spiele zwar einen Mehrwert. Es gibt an der Schwarzmeerküste nun ein Skigebiet, das es mit St. Moritz und Kitzbühel aufnehmen kann. Wegen Olympia stehen dort jetzt die besten Hotels des Landes, es gibt funktionierenden Nahverkehr. Aber das alles ist vor allem etwas für die oberen Zehntausend des Landes, und zu einem Hotspot der internationalen Skiszene wird Sotschi trotzdem nicht werden. Unter diesem Gesichtspunkt haben sich die enormen Investitionen wirtschaftlich nicht rentiert, denn der Olympiapark wirkt die meiste Zeit des Jahres wie „ein Sportplanet, der von seinen Bewohnern verlassen wurde“, wie es die Neue Zürcher Zeitung formuliert hat. Immerhin: Einmal im Jahr kommt die Formel 1 vorbei, und der Name Sotschi blitzt – als Qualitätsbegriff – immer mal wieder in den Nachrichten auf, weil Wladimir Putin in der herausgeputzten Stadt Staatsgäste empfängt.
Neue Züge für die Eisenbahnen
Das Fisht-Olympiastadium, für 700 Millionen Euro gebaut und während der Olympischen Spiele Schauplatz der Eröffnungs- und Abschlusszeremonie, verwandelt sich in diesem Sommer in ein FIFA-WM-Stadion. So wird die Sportarena wenigstens vorübergehend belebt; das Stadion wird nämlich sonst nicht regelmäßig genutzt, denn in Sotschi wird kein höherklassiger Vereinsfußball gespielt. Bei der Weltmeisterschaft aber finden insgesamt sechs Partien in Sotschi statt, danach wird die Arena wieder ruhigeren Tagen entgegensehen.
Gespielt wird bei der WM in Russland an elf Austragungsorten, und beim Ausbau der Infrastruktur hat diese Weltmeisterschaft dem Land einen Schub gebracht. Rostow am Don hat einen neuen Flughafen bekommen, die russischen Eisenbahnen haben neue Züge angeschafft. Wobei der Zuspruch aus dem Ausland für diese neuen Züge vor der WM noch durchaus überschaubar war.
So scheinen sich zwei Weltmeisterschaften in Russland abzuspielen: eine russische, zu der das beeindruckende neue Stadion in Sankt Petersburg gehört, mit einem Kostenpunkt nahe der Milliarden-Euro-Grenze, ein großes Prestigeprojekt für die Gastgeber. Und eine andere, bestimmt vom kritischen Blick von Beobachtern aus dem Ausland. Für diese symbolisiert ein Stadion wie das in Sankt Petersburg schon jetzt russische Hybris; es erscheint als ein Bauwerk der Schande. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat eine 43-seitige Broschüre herausgebracht, in der unter anderem beschrieben wird, dass bei den Stadionbauten miserabel bezahlte Wanderarbeiter und in Sankt Petersburg sogar Zwangsarbeiter aus Nordkorea eingesetzt worden sind. 21 tödlich oder schwer verletzte Arbeiter listet HRW auf, davon zwei in Sotschi und acht in Sankt Petersburg. „Wir sind sehr besorgt über die Anzahl tödlicher Unfälle am Standort und glauben, dass solche Tragödien verhindert werden können, wenn die Sicherheits- und Gesundheitsbestimmungen strikt eingehalten werden“, hat dazu Ambet Yuson gesagt, Generalsekretär des internationalen Verbands der Bau- und Holzarbeiter – eine bittere Bilanz, die die Vorfreude auf das Turnier sehr getrübt hat.
Lässt Sport den Rubel rollen?
Zu den wirtschaftlichen Auswirkungen sportlicher Großveranstaltungen auf das Ausrichterland hat der amerikanische Ökonom Andrew Zimbalist 2015 ein Buch geschrieben, „Circus Maximus“. Darin analysiert er den ewig wiederkehrenden Ablauf zwischen den Versprechungen von Politik und Wirtschaft vor einem Großturnier und den tatsächlichen Ergebnissen. Sein Fazit: Eine belebende Wirkung für die Wirtschaft eines Landes ist in Wahrheit kaum messbar. Weil der wirtschaftliche Profit in den Gastgeberländern in der Regel gering ist, die Verschuldung aber immens, stellt sich die Anschlussfrage: Warum sind Veranstaltungen wie die WM noch immer so begehrt? Hier kommen Werte ins Spiel, die sich nicht in Zahlen messen lassen: Image und Identität. 2006 demonstrierte Deutschland einen entspannten Patriotismus, Südafrika wollte 2010 zeigen, dass es mit der Ersten Welt mithalten kann, Brasilien präsentierte sich 2014 als ein zu Wohlstand gelangtes Schwellenland – ein Image, das schon beim Abpfiff des Turniers wieder bröckelte.
Die Großveranstaltungen in Russland waren und sind immer auch Propagandaveranstaltungen des Regimes, und je weiter es sich vom Westen entfernt, desto trotziger setzt es auf die Karte Sport, um den Rest der Welt von eigener Pracht und Größe zu überzeugen. Alexei Sorokin, Chef des WM-Organisationskomitees, hat schon 2008 bekannt: „Viele der Vorsitzenden unserer Sportverbände sind gleichzeitig Staatsmänner – oder wichtige Geschäftsleute.“ Und: „Unsere politischen Führer haben verstanden, dass Sport ein Teil unserer Außenpolitik ist.“ Doch die Effekte können sich umdrehen: Waren die Winterspiele von Sotschi in der rückblickenden Wahrnehmung vom Dopingskandal überschattet, bekam das heimische Publikum davon nichts mit. Und im Staatsfernsehen wurde das Ereignis als Feier des Nationalstolzes und Beharrungswillens inszeniert.
Bei der Fußballweltmeisterschaft dürfte der Effekt ähnlich sein. DFB-Präsident Reinhard Grindel hat zwar erklärt: „Jeder Veranstalter, jedes Land, das ein so großes Turnier austrägt, weiß, dass der Lichtkegel der Welt auf dieses Land gerichtet ist.“ Doch das ist die Aussage eines Mannes, der die Party nicht stören will. Denn zumindest kurzfristig wichtiger als die wirtschaftliche Bilanz ist für ein Gastgeberland die politische Bilanz – und Sport, beileibe nicht nur in Russland, ist auch ein wichtiger Teil der Innenpolitik.
Holger Gertz lebt in München und arbeitet für die Süddeutsche Zeitung als Reporter auf der Seite Drei.
IP Wirtschaft 2, Juli - Oktober 2018, S. 54 - 57