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01. Febr. 2005

Schockierend demokratisch

Für die arabische Welt sind die Wahlen in Palästina revolutionär

Sollte der Aufbau einer verlässlichen Demokratie in Palästina gelingen, wird das auch eine ungeheure Wirkung auf unsere arabischen Nachbarstaaten ausüben. Denn dort beobachtet man sehr genau die palästinensischen Bemühungen um Reformen, Transparenz, Verantwortlichkeit, politischen Pluralismus und „good governance“.

Die Berichterstattung arabischer Satellitensender über die Präsidentschaftswahlen in den palästinensischen Gebieten war eine schockierende Erfahrung für die Öffentlichkeit in den arabischen Ländern. Sie verfolgte einen Wahlkampf, der nicht nur von einem einzigen Kandidaten geführt wurde. Gegenkandidaten wie Mustafa Barguti, der immerhin 20 Prozent der Stimmen für sich gewinnen konnte, forderten Mahmud Abbas als designierten Nachfolger Jassir Arafats offen heraus; sie wurden nicht, wie in den arabischen Diktaturen üblich, zum Schweigen gebracht, verhaftet oder eingeschüchtert. Die arabische Öffentlichkeit konnte eine Übung in Demokratie beobachten, die bislang auf westliche Länder beschränkt war, und die allen internationalen Standards entsprach, obwohl sie in einem immer noch besetzten Land stattfand. Dieser Schock sollte zu einer klaren Schlussfolgerung in der arabischen Öffentlichkeit führen: Wenn all dies in einem Land unter Besatzung möglich ist, warum dann nicht in den eigenen Gesellschaften?

Die Wahlen in Palästina können tatsächlich einen Reformprozess in der arabischen Welt in Gang bringen. Denn was die Zuschauer in den arabischen Ländern per Satellitenübertragung beobachten konnten, war nichts weniger als eine Revolution vor der eigenen Haustür. In Palästina wurde nach dem Tod Arafats endlich ein nachahmenswertes Beispiel vorgeführt: Es ist durchaus möglich, das Gesetz zu respektieren und nicht etwa so zu beugen, dass das Amt des Präsidenten wie in einer Monarchie an den Sohn übergeht.  Eine Machtübergabe kann ohne Blutvergießen, ohne die Ausrufung von Notstandsgesetzen (die seit über 30 Jahren in Ägypten gelten) oder das Außerkraftsetzen von Grundrechten organisiert werden. Der Bürger hat ein Recht auf freie, geheime Wahlen und jeder Bürger darf für das Amt kandidieren. Es gibt einen echten Wettbewerb zwischen den Bewerbern, die entweder durch eine Partei oder als unabhängige Kandidaten aufgestellt werden. Palästinensische Kandidaten konnten einen fairen Wahlkampf ohne Einmischung „von oben“ führen. In der gesamten arabischen Welt wurde sehr genau registriert, dass auch brenzlige Themen wie die Korruption der palästinensischen Autonomiebehörde angesprochen wurden und dass der Wahlsieg von Mahmud Abbas nicht ganz selbstverständlich war, sondern durch Überzeugungsarbeit erkämpft werden musste. Die Wahlen selbst verliefen ruhig und friedlich; internationale Beobachter hatten uneingeschränkten Zutritt zu allen Gebieten und konnten ohne Einschränkungen ihrer Aufgabe nachgehen. Das Gleiche galt für lokale Beobachter, die nicht nur von den jeweiligen politischen Parteien der Palästinenser, sondern auch von regierungsunabhängigen Organisationen entsandt wurden oder als unabhängige Beobachter die palästinensische Zivilgesellschaft repräsentierten. Es wurde nicht ein einziger Fall einer Beeinflussung von Wählern registriert.

Für die Bürger der arabischen Staaten, denen all das seit Jahrzehnten versagt wird, war das eine aufrüttelnde Erfahrung, die in Zukunft nicht ohne Wirkung bleiben wird. Es wird vermutlich nicht allzu lange dauern, bis sie ebenfalls freie und faire Wahlen anstelle der Farcen fordern werden, mit denen sie bislang abgespeist wurden. Ob beabsichtigt oder nicht: Wir Palästinenser haben eine neue arabische Revolution begonnen, die sich Demokratie und „good governance“ zum Ziel setzt. Unsere Wahlen üben eine Signalwirkung aus, die bis in die politischen und sozialen Fundamente arabischer Gesellschaften reicht. Wir setzten einen Zug in Bewegung, der nicht mehr aufzuhalten ist, sondern immer größere Geschwindigkeit aufnehmen wird. Die Demokratie hält Einzug in unsere Region, und sie wird siegen. Ironischerweise ebneten auch die arabischen Führer diesen Weg zur Demokratie mit ihrer unerträglichen Arroganz, ihrer Unterdrückung der Freiheit und ihrer Missachtung der menschlichen Würde. Auf die Gefahr hin, die US-Administration enttäuschen und auf einer Tatsache bestehen zu müssen, die wir bei jeder Gelegenheit betonten: Nicht der Irak, sondern Palästina könnte der Grundstein für einen demokratischen Nahen und Mittleren Osten werden.

Der gewählte Präsident Mahmud Abbas hat sich nicht nur ein Ende der israelischen Besatzung und die Fortführung der Friedensverhandlungen zum Ziel gesetzt, sondern auch die längst fälligen internen Reformen. Die große Mehrheit der Palästinenser unterstützt ihn in diesem Kurs uneingeschränkt. Das bewies sie an den Wahlurnen. Es wäre fatal, beginge die israelische Regierung den Fehler, Präsident Abbas wie dessen Vorgänger Arafat zu behandeln, ihn für die Attentate der Extremisten allein verantwortlich zu machen und ihn schließlich zu ignorieren.

Natürlich dürfen wir nicht vergessen, dass einige Gruppierungen wie die islamistische Hamas oder die Führer palästinensischer Milizen ihre ganz eigenen Interessen verfolgen und nur zu gut verstehen, dass Reformen, stabile Institutionen und eine Verbesserung der Wirtschaftslage sie an der Durchsetzung dieser Interessen hindern. Diese Gruppen stellen den „nationalen Kampf“ über unsere internen Auseinandersetzungen um Reform und werden deshalb alles versuchen, um diesen Prozess zu zerstören. Ähnliches können wir auch von einigen Führern der arabischen Welt erwarten, die unsere Erfolge der jüngsten Zeit als Bedrohung für ihre Herrschaft und für die Stabilität ihrer Länder empfinden. Es sollte nicht verwundern, wenn auch sie sich alle Mühe gäben, beispielsweise durch die Unterstützung radikaler Gruppierungen, eine funktionierende palästinensische Demokratie zu unterminieren. Deshalb ist nicht nur von den Palästinensern höchste Wachsamkeit gefordert. Auch die internationale Gemeinschaft, vor allem jene Staatsführer, die sich aktiv an der Lösung des Konflikts beteiligen, müssen größte Entschlossenheit zeigen, den Palästinensern auf dem langen Weg zu einer Demokratie behilflich zu sein. Wenn Palästina zum Auslöser für Reformen in der gesamten arabischen Welt werden soll, dann benötigen wir die uneingeschränkte Unterstützung der wichtigsten Beteiligten, vor allem der USA.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2005, S. 76 - 77.

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