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01. Sep 2019

Schmutzige Geschäfte

Muss Deutschland seine Unternehmen dazu zwingen, im Ausland für soziale und ökologische Mindeststandards einzutreten?

Es gehört in Deutschlands Wirtschaft heute zum guten Ton, sich zur nachhaltigen Unternehmensführung und zur Corporate Responsibility zu bekennen. Großkonzerne sowie viele Familienunternehmen rühmen sich dafür, soziale und ökologische Normen überall auf der Welt einzuhalten. Menschenrechtsorganisationen dagegen werfen der Wirtschaft vor, Kunden und Investoren mit Halbwahrheiten in die Irre zu führen. Der Streit ist hitzig, es steht viel auf dem Spiel. Im Spannungsfeld zwischen Wettbewerbsfähigkeit und Humanität geht es um Geld, Macht und Moral.

Auch die Bundesregierung hat sich in die Kontroverse eingeschaltet. Sie wolle die „Diskussion um menschenrechtliche Sorgfaltspflicht mit Fakten unterfüttern“, erklärt sie. Und so erhielten vor einigen Wochen 1800 deutsche Unternehmen einen Fragebogen, in dem sie Auskunft über ihr Engagement für Menschenrechte geben sollen. Auf Grundlage dieser Befragung will die Regierung darüber entscheiden, ob die Sorgfaltspflicht bei Auslandsgeschäften eine freiwillige Selbstverpflichtung der Wirtschaft bleiben kann oder ob sie gesetzlich vorgeschrieben werden muss.

Problematische Partner

Menschenrechtsorganisationen machen sich seit Jahren für ein sogenanntes Lieferkettengesetz stark, das Unternehmen zwingt, nicht nur den eigenen Betrieb im Blick zu haben, sondern auch die Menschenrechtspraxis der Geschäftspartner im Ausland. Doch Wirtschaftsverbände lehnen eine verbindliche Regelung strikt ab; sie fürchten investitionshemmende Bürokratie.

Der Streit flammt immer dann wieder auf, wenn Anschuldigungen gegen deutsche Unternehmen Schlagzeilen machen – von Berichten über Kinderarbeit in afrikanischen Minen, aus denen Autokonzerne seltene Metalle beziehen, bis hin zu Enthüllungen über asiatische Ausbeutungsbetriebe, in denen Modeanbieter nähen lassen. Handelt es sich hierbei um ­Einzelfälle? Oder ergibt sich ein Muster aus Vernachlässigung und Überforderung?

Schon jetzt ist absehbar, dass die Auswertung der Umfrage diese Debatte nicht entscheiden wird. Die Antworten der Unternehmen werden Spielraum für Interpretationen lassen – und damit Stoff für Kon­troversen. Die politische Energie, die bisher in einem Grundsatzstreit verbraucht wird, ließe sich sinnvoller in die Gestaltung eines Gesetzes investieren, das die Bedenken der Wirtschaft mit den Regulierungsinteressen von Menschenrechtsorganisationen in Einklang bringt.

Zur Sorgfalt verpflichtet

Den meisten deutschen Unternehmen ist bewusst, dass die Integration in weltumspannende Lieferketten eine Verantwortung mit sich bringt, die nicht mehr an der Landesgrenze endet. Und doch werden immer wieder Firmen mit Vorwürfen konfrontiert, sie missachteten im Ausland Menschenrechte. Solche Kritik lässt sich schon aus wirtschaftlichem Eigennutz nicht ignorieren, denn sie verschreckt Konsumenten und kann erhebliche finanzielle Schäden anrichten.

Einer der bekanntesten Fälle betrifft den Textildiscounter KiK. Das Unternehmen geriet erstmals 2012 in Verruf, als bei einem Feuer in der pakistanischen Textilfabrik Ali Enterprises mehr als 250 Menschen starben. Nur ein Jahr später stürzte in Bangladesch der achtstöckige Fabrik­komplex Rana Plaza ein. Mehr als 1100 Menschen fanden den Tod. Sie arbeiteten im Auftrag europäischer Modelabel wie Benetton, Mango und C&A. Auch KiK ließ dort produzieren.

Vor besonderen Problemen steht die deutsche Automobilindustrie. Durch den Umstieg auf Elektrofahrzeuge ist sie verstärkt auf seltene Metalle angewiesen, Kobalt etwa, das für die Herstellung von Batterien benötigt wird. Fast zwei Drittel des weltweit abgebauten Kobalts stammt aus der Demokratischen Republik Kongo, einem Land, das wie kaum ein anderes von Korruption und Gewalt gezeichnet ist. Amnesty International wirft den deutschen Automobilkonzernen vor, von Kinderarbeit im Kongo zu profitieren.

Die Realität ist etwas komplizierter. Im Jahr 2018 wurden in der Demokratischen Republik Kongo etwa 96 000 Tonnen Kobalt gefördert. Das geschah überwiegend in industriellen Bergwerken und im Auftrag internationaler Rohstoffkonzerne wie Glencore oder China Molybdenum. Etwa 15 bis 20 Prozent der kongolesischen Kobaltgewinnung erfolgt im Kleinbergbau, teilweise unter katastro­phalen Arbeitsbedingungen.

Zur Weiterverarbeitung wird der Rohstoff überwiegend nach China exportiert. Die deutsche Autoindustrie bemüht sich, das von ihr benötigte Kobalt möglichst direkt von Großproduzenten wie Glencore zu kaufen, um lieferkettenbezogene Risiken zu minimieren. Jedoch stehen auch Großproduzenten wie Glencore für Menschenrechtsverletzungen und Korruption in der Kritik. US-Behörden haben Ermittlungen eingeleitet.

Das Beispiel der deutschen Automobilindustrie zeigt, wie unübersichtlich die Geschäftsstrukturen international tätiger Unternehmen sind und wie irreführend der Begriff Lieferkette ist. Allein der Autobauer Daimler hat 60 000 Zulieferer. Viele Zulieferer beauftragen ihrerseits Zulieferer, die wiederum Aufträge an Dritte vergeben können. Die Lieferkette ist heute quasi ein Netz, in dessen Mitte sich der Endproduzent befindet. Selbst an der Herstellung und am Vertrieb eines einfachen Herrenhemds sind heute zahlreiche Akteure aus verschiedenen Ländern beteiligt: Bauern auf Baumwollplantagen in Burkina Faso, Näherinnen in Bangladesch, New Yorker Designer, philippinische Ma­trosen auf den Containerschiffen.

Um angesichts dieser komplexen Strukturen soziale und ökologische Normen zu schützen, fordert die Bundesregierung, dass deutsche Unternehmen „Prozesse menschenrechtlicher Sorgfalt etablieren, um negative Auswirkungen auf die Menschenrechte zu vermeiden, zu verringern oder auszugleichen“. So steht es im Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte (NAP), den die Große Koalition 2016 verabschiedet hat, um die schon 2011 beschlossenen UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte umzusetzen.

Zwar wird in den UN-Prinzipien klargestellt, dass die Wahrung der Menschenrechte Aufgabe der Staaten ist, jedoch gelte für die Wirtschaft eine „Sorgfaltspflicht“. Diese wird im NAP wie folgt definiert: Unternehmen müssen erstens eine Grundsatz­erklärung verfassen, in der sie ihren Willen zur Achtung der Menschenrechte öffentlich bekunden. Zweitens müssen sie die menschenrechtlichen Folgen ihrer Geschäfte ermitteln und Risiken identifizieren, die von ihren Aktivitäten ausgehen. Drittens haben sie Gegenmaß­nahmen zu ergreifen, wo diese nötig sind. Und viertens müssen sie den Umgang mit Risiken kommunizieren und einen „effektiven Beschwerdemechanismus“ einrichten.

Die ­Definition von Menschenrechten übernimmt die Bundesregierung von den Vereinten Nationen. ­Diese umfasst die in der ­Allgemeinen ­Erklärung der ­Menschenrechte niedergelegten Grundrechte, etwa ein Verbot von Sklaverei und Diskriminierung, aber auch die Normen der Internationalen Arbeitsorganisation, die universelle Mindeststandards für menschenwürdige Arbeit setzen.

Im Koalitionsvertrag bekräftigen CDU/CSU und SPD die Ziele des NAP und drohen der Wirtschaft mit einem Gesetz, falls die „freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen nicht ausreicht“. Die Formulierung verdeckt, wie umstritten die Gesetzesdrohung ist. Während das CSU-geführte Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und das SPD-geführte Bundesministerium für Arbeit und Soziales ein Gesetz anstreben, wehrt sich das Wirtschaftsministerium unter Peter Altmaier (CDU) gegen zusätzliche Regulierungslasten. Auch das Kanzleramt hat Bedenken.

Von Erfüllern und Nichterfüllern

Im NAP hat die Bundesregierung das Ziel ausgegeben, dass im Jahr 2020 mindestens die Hälfte aller deutschen Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten „nachweislich die Kernelemente menschenrechtlicher Sorgfalt“ befolgen. Wie weit die Unternehmen dabei schon sind, soll die Befragung herausfinden. Sie ist entsprechend der Vorgaben des NAP als repräsentative Umfrage konzipiert.

Insgesamt gibt es in Deutschland etwa 7000 Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten. 1800 wurden angeschrieben. Bis zum 1. Oktober 2019 sollen sie den Fragebogen zurücksenden. Die beauftragte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young teilt die Unternehmen dann in „Erfüller“ und „Nichterfüller“ der Sorgfaltskriterien ein. Firmen, die den Fragebogen ignorieren, werden nicht berücksichtigt. Auf Druck des Wirtschaftsministeriums sollen Unternehmen hervorgehoben werden, die „schon gute Ansätze erkennen lassen“, aber noch nicht alle Kriterien erfüllen, wie es im NAP-Zwischenbericht vom Juli heißt.

Der Auslegungsspielraum, der dadurch entsteht, birgt neues Konfliktpotenzial. Und das ist nicht das einzige Problem. Viele Unternehmen kennen den NAP gar nicht. Die Bundesregierung rechnet mit einer Antwortquote von nur 22 Prozent, also 400 Unternehmen. Wenn 200 davon die Mindeststandards der Sorgfaltspflicht erfüllen, gilt das Ziel, dass mindestens die Hälfte aller deutschen Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten „nachweislich die Kern­elemente menschenrechtlicher Sorgfalt“ befolgen, als erreicht. Menschenrechtsorganisationen halten eine so geringe Zahl für nicht aussagekräftig.

Aber selbst wenn man dem Argument der Bundesregierung folgt, die Befragung sei repräsentativ, stellt sich die Frage, wie sinnvoll eine Prozentzahl als Schwelle für legislatives Handeln ist. Wenn die eine Hälfte der deutschen Unternehmen den Standard der Sorgfaltspflicht erfüllt, die andere Hälfte aber nicht, lässt sich kaum argumentieren, dass sich das Menschenrechtsthema erledigt habe. Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat schon im vergangenen Jahr seine „besondere Besorgnis“ über das 50-Prozent-Kriterium zum Ausdruck gebracht. Sobald die ­Umfrageergebnisse vorliegen, wird der politische Streit wieder aufbrechen.

Während der deutsche Menschenrechtsdiskurs in einer Endlosschleife gefangen scheint, zeigen andere Länder, wie ein Ausgleich zwischen Menschenrechtsfürsorge und Wirtschaftsinteressen aussehen könnte. Frankreich, Großbritannien und Australien haben Gesetze zur Umsetzung der UN-Leitprinzipien erlassen. Sie sind zwar unterschiedlich ambitioniert, doch zu spürbaren Wettbewerbsnachteilen haben sie nirgendwo geführt.

Auch einzelne deutsche Unternehmen rufen die Regierung zum Handeln auf. KiK etwa fordert, „dass ein Gesetzesrahmen für unternehmerische Sorgfaltspflichten“ geschaffen wird: „Unternehmen brauchen Rechtssicherheit, um im Fall von Klagen eine belastbare Rechtsgrundlage zu haben.“

Klar ist aber, dass ein Lieferkettengesetz berechtigte Einwände der Wirtschaft berücksichtigen muss, wenn es eine Mehrheit in der Regierung finden soll. Dazu zählt der Hinweis, dass sich westliche Arbeitsstandards in Schwellen- und Entwicklungsländern nicht einfach anordnen lassen. Denn die Macht- und Abhängigkeitsstrukturen zwischen Endproduzenten und Zulieferern sind weniger eindeutig, als es scheint. In der Elektrotechnik etwa sind Zulieferer wie Foxconn technisch so weit, dass Apple oder Sony kaum noch ohne sie auskommen. Ähnlich schwer ist es für Autobauer, Kobalt aus dem Kongo zu meiden. Die Deutsche Rohstoffagentur erwartet, dass der Bedarf bis 2026 so stark steigen wird, dass die Versorgung kaum sichergestellt werden kann, ohne auf die Bodenschätze im Kongo zurückzugreifen.

Für die meisten Textilfabriken wiederum gilt, dass einzelne Modemarken nur einen geringen Teil des gesamten Auftragsvolumens ausmachen; ihr Einfluss auf Arbeitsbedingungen ist also gering. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob den Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Schwellen- und Entwicklungsländern wirklich damit gedient ist, wenn ein deutsches Unternehmen einem Zulieferer aufgrund von humanitären Bedenken einen Auftrag entzieht. Oder, wenn ein deutscher durch einen chinesischen Auftraggeber ersetzt wird.

Statt darauf zu beharren, dass sich eine Verbesserung der Men­schenrechts­praxis von außen verordnen lässt, schlagen Richard Locke, Matthew Amengual und Akshay Mangla in ihrer Studie „Virtue out of Necessity?“ (2008) einen kooperativen Ansatz vor: Endproduzenten und Zulieferer identifizieren gemeinsam Probleme und entwickeln Lösungen. Dieses Modell habe sich in der Praxis als wesentlich erfolgreicher erwiesen als klassische Kontrollstrukturen, bei denen westliche Auftraggeber Auftragnehmer in Schwellen- und Entwicklungsländern überwachen.

Wenn auf Grundlage dieser Erkenntnisse über ein Lieferkettengesetz diskutiert würde, ließe sich das Patt, das die deutsche Debatte kennzeichnet, womöglich durchbrechen.

Moritz Koch arbeitet als Senior ­Correspondent für das Handelsblatt in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2019, S. 105-109

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