Schleichender Verrat an der Ukraine
Das Zögern und Zaudern wichtiger NATO-Säulen bei der Unterstützung Kiews nimmt selbstzerstörerische Züge an. Bestrebungen, sich auf Kosten der Ukraine mit dem Aggressor Russland zu einigen, sind auf einem Allzeithoch – gerade auch hierzulande. Höchste Zeit für einen Aufstand der Aufrechten.
„Wenn die Ukraine unter den Einfluss Putins fällt, wird ganz Europa unter Putins Vorstoß zusammenbrechen“, warnte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin bei seinem jüngsten Besuch in Kiew. Doch es ist nicht zu erwarten, dass die zögernden und zaudernden Europäer aus dieser zutreffenden Diagnose die einzig zwingende Konsequenz ziehen werden: alle ihnen zur Verfügung stehenden Kräfte zu mobilisieren, um der Ukraine den Sieg über den russischen Aggressor zu ermöglichen.
Im Gegenteil: Es mehren sich in den europäischen Demokratien die Anzeichen für einen schleichenden Verrat an der Ukraine – allen voran in Deutschland. Bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September haben mit AfD und BSW zwei politische Einflussagenturen einer feindlichen Macht triumphiert, die nicht nur einen Vernichtungsfeldzug gegen ein souveränes, demokratisches europäisches Land führt, sondern längst auch einen verdeckten Krieg gegen das gesamte freie Europa. Doch noch erschreckender als diese Tatsache selbst ist, dass mit CDU und SPD die beiden politischen Hauptsäulen der deutschen Nachkriegsdemokratie ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärt haben, auf Landesebene mit einer dieser beiden Gruppierungen zu koalieren.
Das zeigt, in welchem Ausmaß es den russischen Propagandanetzwerken und ihren hiesigen Schallverstärkern bereits gelungen ist, das Wertesystem der deutschen Demokratie zu untergraben – und wie wenig standfest die führenden demokratischen Politiker dieser in der Geschichte der Bundesrepublik einzigartigen Herausforderung begegnen.
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Der CDU-Bundesvorsitzende Friedrich Merz hält im Bundestag zwar markige Reden für eine stärkere Unterstützung der Ukraine, die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern eingeschlossen. Zugleich aber lässt er seine ostdeutschen Parteifreunde, den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und den thüringischen CDU-Vorsitzenden Mario Voigt, dabei gewähren, das genaue Gegenteil zu betreiben – und sich dafür mit eingeschworenen Feinden der deutschen Westintegration und damit der Grundprämisse des bundesrepublikanischen demokratischen Gemeinwesens zusammenzutun. Vor allem Kretschmer ist seit Langem dafür bekannt, die „einseitige“ Konzentration auf Waffenlieferungen an die Ukraine zu kritisieren und „mehr Diplomatie“ gegenüber dem russischen Völkermörderregime einzufordern. Um mit der Wagenknecht-Partei zu koalieren, muss er sich in dieser Frage gar nicht verbiegen. Es wächst hier vielmehr zusammen, was zusammengehört.
Dabei müsste jedem informierten Zeitgenossen längst bekannt sein, dass dem BSW eine zentrale Rolle in Putins strategischem Plan zukommt, in ganz Europa eine „Antikriegsstimmung“ zu erzeugen, die bei der Bundestagswahl 2025 zu einem Machtwechsel im Sinne des russischen Aggressors führen soll. Die Gründung des BSW, das rechtsnationalistische und linkspopulistische Ideologeme systematisch miteinander vermengt, entspricht exakt der Vorgabe des Kreml, prorussische Kräfte beider ideologischer Pole zusammenzuführen, um die Unterstützung für den ukrainischen Verteidigungskrieg in der deutschen Politik und Gesellschaft effektiver unterminieren zu können. Entsprechende strategische Konzepte des Putin-Regimes waren bereits im vergangenen Jahr an die westliche Öffentlichkeit gedrungen. Kurz danach begann Sahra Wagenknecht mit den Vorbereitungen zur Gründung des BSW.
Fatale Friedenskanzler-Fantasie
Was die Sozialdemokratie betrifft, so gibt Bundeskanzler Olaf Scholz dem Druck anschwellender antiukrainischer Stimmungen in der Wählerschaft und seiner eigenen Partei nach, indem er die Notwendigkeit größerer Anstrengungen für einen baldigen Friedensschluss betont und ankündigt, dass er darüber mit Putin zu telefonieren bereit sei. Folgerichtig bremst er im westlichen Bündnis entschiedenere westliche Militärhilfen für die Ukraine aus – und dies angesichts massiv verschärfter russischer Terrorbombardements gegen die ukrainische Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur des überfallenen Landes.
Scholz will die SPD offenbar als „Friedenspartei“ profilieren und damit seine minimalen Chancen auf die Fortsetzung seiner Kanzlerschaft nach der Bundestagswahl 2025 erhöhen. Einem Anfang September erschienenen Bericht der italienischen Repubblica zufolge geht sein Ehrgeiz dahin, sich vor diesem Datum als „Friedenskanzler“ feiern zu lassen. Im Kanzleramt fabuliert man offenbar bereits allen Ernstes über ein „Minsk 3“ – was nur bedeuten kann, dass die Ukraine unter Druck gesetzt werden soll, sich zumindest „vorläufig“ mit Gebietsabtretungen an den Aggressor abzufinden.
Bezeichnenderweise hat die SPD mit Matthias Miersch einen neuen Generalsekretär, der den Putin-Freund Gerhard Schröder im vergangenen Jahr für seine 60-jährige Parteimitgliedschaft geehrt und kürzlich erklärt hat, man dürfe bei der Beurteilung des Ex-Kanzlers „nicht zu sehr in Schwarz und Weiß“ denken. In einem Interview weigerte sich Miersch jüngst, explizit auszusprechen, dass der Aggressor Russland den Krieg verlieren muss.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass nach Einschätzung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj der NATO-Beitritt der Ukraine gegenwärtig an einem deutschen Veto scheitern würde. Deutschland sei „skeptisch“ aufgrund der erwarteten Reaktion Russlands. Während sich ein Großteil der NATO-Staaten laut Selenskyj auf eine Einladung der Ukraine zum Verteidigungsbündnis geeinigt habe, die für das gesamte ukrainische Staatsgebiet gelte, habe sich Deutschland dazu bislang zurückhaltend geäußert. Schon länger geistert durch das politische Berlin die abstruse Idee, man könne als Zeichen der Kompromissbereitschaft gegenüber Moskau ja nur die nicht besetzten Teile der Ukraine ins westliche Bündnis aufnehmen.
Putins erster großer Triumph im Propagandakrieg
Indes sind die Bestrebungen, sich auf Kosten der Ukraine irgendwie mit dem Aggressor zu einigen, fatalerweise nicht auf Deutschland beschränkt. Dass das für Oktober geplante Treffen des Ramstein-Formats auf unbestimmte Zeit verschoben wurde, zeigt, wie wenig Dringlichkeit die beteiligten Staaten energischen Maßnahmen zur verstärkten Unterstützung der Ukraine beimessen – und das inmitten einer für die ukrainische Armee äußerst bedrohlichen Lage. Die meisten NATO-Staaten scheuen sich davor, westliche Waffen für den Einsatz gegen Stellungen des Aggressors auf russischem Boden freizugeben, weil sie, wie Präsident Selenskyj treffend feststellt, in den Beziehungen zu Russland „die Türen nicht endgültig zuschlagen“ wollen.
Auf den von Selenskyj jüngst vorgelegten „Siegesplan“ reagieren die führenden westlichen Regierungen reserviert bis ausweichend. Nachdem der Westen durch seine Politik der „Zurückhaltung“ bei der Versorgung der Ukraine mit den notwendigen Waffen und Waffensystemen selbst dafür gesorgt hat, dass die Ukraine ihre anfangs erfolgreiche Gegenoffensive im Herbst 2022 nicht siegreich beenden konnte, kommt er nun in einer Art sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu dem Schluss, dass ein solcher Sieg überhaupt unrealistisch sei. Generell hat sich in den europäischen Gesellschaften die Ansicht, die Ukraine könne den Krieg gegen Russland ohnehin nicht gewinnen, zu einem fast einhelligen Konsens verfestigt. Dies ist der erste große Triumph Russlands in seinem Propagandakrieg gegen die westlichen Demokratien.
Die US-Regierung ist unter Präsident Joe Biden zwar der mit Abstand größte und wichtigste Unterstützer der Ukraine – und würde es unter einer neuen Präsidentin Kamala Harris wohl auch bleiben –, sie weigert sich aber weiterhin, den Ukrainern den Einsatz von Raketen mit großer Reichweite gegen Ziele in Russland zu gestatten. Unterdessen haben Donald Trump und sein Vize J.D. Vance auch die letzten Zweifel daran beseitigt, dass sie im Fall ihrer Regentschaft die Ukraine der Willkür Putins ausliefern würden. Einstweilen denunzieren sie Präsident Selenskyj als den vermeintlich wahren Verantwortlichen für die Fortdauer des Krieges, weil er sich einem Deal mit Putin verweigere.
Aber selbst der tschechische Präsident und überzeugte Transatlantiker Petr Pavel, der bislang mit vorbildlicher Entschlossenheit zur Ukraine gestanden hat, legt ihr neuerdings nahe, sich mit dem Gedanken an Zugeständnisse gegenüber dem Aggressor anzufreunden. Und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, der vor Kurzem noch vehement für eine härtere Gangart im Kampf gegen den russischen Vorherrschaftsanspruch über den Kontinent warb, spricht jetzt plötzlich von der Notwendigkeit einer „Neuausrichtung“ der Beziehungen zu Russland „nach dem Ende des Krieges“ – im Rahmen einer „neuen Form der Organisation Europas“, in der „alle Länder würdig vertreten“ sein sollten.
Bastion Baltikum und Polen
Dagegen veröffentlichten die Botschafter und Botschafterinnen Polens, Estlands, Lettlands und Litauens im Oktober dieses Jahres eine gemeinsame Antwort auf einen Artikel der Ministerpräsidenten Woidke (Brandenburg, SPD) und Kretschmer (Sachsen, CDU) sowie des thüringischen CDU-Chefs Voigt. Dass diese darin auf Verhandlungen mit Putin drängten, muss als Kniefall vor Sahra Wagenknecht verstanden werden, die eine Distanzierung von der Ukraine-Politik der Bundesregierung zur Bedingung für den Eintritt ihres BSW in ostdeutsche Landesregierungen gemacht hat.
„Wenn heute vermehrt Rufe nach einem Waffenstillstand und Gesprächen mit Russland laut werden, unterstreichen wir mit Nachdruck die starke Unterstützung unserer Länder für die Friedensformel der Ukraine“, halten die Diplomatinnen und Diplomaten aus Polen und dem Baltikum dem entgegen. Die Ukraine verdiene „einen gerechten und dauerhaften Frieden, der auf den Prinzipien des Völkerrechts, insbesondere der UN-Charta, und auch auf den Grundsätzen und Verpflichtungen der OSZE basiert und die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine respektiert. Friedensvorschläge und Kompromisse dürfen nicht auf Kosten des Landes gehen, das Opfer einer militärischen Aggression ist.“ Es müsse klar sein, dass es allein Sache der Ukraine ist „zu entscheiden, ob, wann und worüber verhandelt wird.“ Es gelte, unzweideutig an dem Prinzip festzuhalten: „Nichts über die Ukraine ohne die Ukraine.“
Es spricht für sich, dass weder die Bundesregierung noch die Spitzen der demokratischen Parteien eine ähnlich deutliche Zurückweisung der Forderungen kremlaffiner „Friedensfreunde“ zustande gebracht haben. Generell stehen Polen und die baltischen Staaten mit ihrer glasklaren Haltung im westlichen Bündnis weitgehend allein da. Zum kürzlichen Treffen von Olaf Scholz, Emmanuel Macron und dem britischen Premier Keir Starmer mit Präsident Biden im Rahmen von dessen Staatsbesuch in Berlin wurde der polnische Ministerpräsident Donald Tusk nicht eingeladen. Dies ist ein Indiz dafür, dass die traditionellen westlichen Führungsmächte wieder in das alte Muster zurückfallen, Fragen von Krieg und Frieden in Europa zuvörderst als eine Sache zwischen ihnen und Russland zu betrachten.
Ende der europäischen Friedensordnung droht
Insgesamt deutet vieles darauf hin, dass der Westen nach einem Ausweg aus dem Krieg durch einen wie auch immer gearteten „Kompromissfrieden“ mit dem Aggressor sucht und dafür mehr oder weniger subtile Signale der Beschwichtigung nach Moskau sendet. Doch ein auch nur partielles Nachgeben gegenüber den kriminellen Ansprüchen Russlands würde nichts anderes bedeuten, als es für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu belohnen. Dies aber würde nicht weniger als das Ende der europäischen Friedensordnung bedeuten. Der Kreml würde ein solches Zurückweichen nur als Beweis westlicher Schwäche und als Ermutigung interpretieren, seine Kriegsvorbereitungen gegen die gesamte demokratische Welt weiter zu intensivieren.
Putins Russland ist ein aus der Fusion von Mafia und Geheimdiensten entstandener Verbrecherstaat, der auf einem Kult exzessiver gesetzloser Gewalt beruht. Sein Ideal ist es, seine näheren Nachbarn und potenziell die ganze Welt unablässig in Angst und Schrecken zu halten, um sie erpressen und zu unterwürfiger Willfährigkeit zwingen zu können. Es träumt von einer „Weltordnung“, in der niemand mehr wagt, sich gegen seine permanenten maßlosen Aggressionsdrohungen aufzulehnen. Zu glauben, ein solches Regime werde sich an irgendwelche Vereinbarungen halten, wenn ihm dies taktisch nicht mehr opportun erscheint, ist selbstmörderisch.
Würde Putins Plan aufgehen, die Grenzen in Europa mittels kriegerischer Eroberung zu verschieben, wäre das Resultat „der ultimative Zusammenbruch der globalen Ordnung“, wie der israelische Historiker Yuval Noah Harari zu Recht feststellt. Der Verrat an der Ukraine käme somit der Selbstzerstörung des Westens gleich. Es scheint jedoch, dass sich die politischen Eliten der demokratischen Welt der historischen Tragweite ihres halbherzigen Agierens nicht bewusst sind.
Wie das Kaninchen vor der Schlange
Dabei müsste spätestens die Entsendung nordkoreanischer Soldaten zur Verstärkung der russischen Invasoren dem Westen klar machen, dass Russland und seine Verbündeten längst und mit wachsender Unverfrorenheit einen globalen Krieg gegen die demokratische Zivilisation führen. Dass Nordkoreas Militärdeal mit Putin nicht ohne die Billigung Chinas erfolgt sein kann, sollte zudem die im Westen hartnäckig gehegte Illusion endgültig zerstören, Peking könne als „Vermittler“ eines gerechten Friedens für die Ukraine gewonnen werden. In Wahrheit ist das chinesische Regime der wichtigste Unterstützer des russischen Vernichtungskriegs und als solcher integraler Bestandteil der antiwestlichen Kriegsachse Moskau-Teheran-Pjöngjang. Während „die Verbündeten der Ukraine seit Monaten immer wieder darüber diskutieren, wie weit sie bei der Unterstützung des Landes bei der Abwehr des russischen Angriffs gehen können“, schreibt dazu das Handelsblatt treffend, „wird die Achse der Autokraten immer stärker – Russland globalisiert den Ukrainekrieg.“
Doch ernsthafte Reaktionen des Westens auf diese neuerliche völkerrechtswidrige Eskalation der russischen Kriegsführung sind nicht in Sicht. Wie das Kaninchen vor der Schlange beharren die maßgeblichen NATO-Staaten auf ihrer Haltung, bloß nichts unternehmen zu wollen, was der Terrorstaat Russland seinerseits als „Eskalation“ auffassen könnte. Illusionslosen Stimmen wie der des litauischen Außenministers Gabrielius Landsbergis, der erklärt hat, die NATO müsse jetzt über alle Optionen bis hin zur Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine nachdenken, wird daher kein Gehör geschenkt.
Was im Westen nach wie vor nicht begriffen wird, ist, dass das putinistische Regime seine Identität und Legitimation ausschließlich aus Krieg und Zerstörung bezieht und daher niemals freiwillig damit aufhören wird – und aufhören kann. Unverdrossen halten die deutschen Trommler für „Verhandlungen“ deshalb an der irrigen Prämisse fest, es gebe tatsächlich russische „Sicherheitsinteressen“, die der Kreml durch den Westen bedroht sehe. In Wahrheit benutzt das Putin-Regime den Verweis auf diese von ihm frei erfundene Bedrohungslage lediglich als Vorwand, um seinen Expansions- und Vernichtungsgelüsten den Anschein von Legitimität zu verleihen. Wer glaubt, Putins Russland gehe es tatsächlich nur um eine wie auch immer geartete Verbesserung seiner Sicherheitslage, und es werde sich mit dahingehenden Zugeständnissen zufriedengeben, geht dessen zynischer Propaganda auf den Leim.
In Wahrheit lassen Putin und seine ideologischen Einpeitscher ein ums andere Mal keinen Zweifel daran, dass Verhandlungen für sie nur unter der Voraussetzung der Unterwerfung der Ukraine unter die Vorbedingungen des Kreml in Frage kommen – was gleichbedeutend wäre mit der ukrainischen Kapitulation. Daraus aber, was den Ukrainerinnen und Ukrainern in diesem Fall blühen würde, machen die Kreml-Führer keinen Hehl: die vollständige Auslöschung der ukrainischen Staatlichkeit und nationalen Identität bis hin zur physischen Vernichtung all jener, die sich nicht in „gute Russen“ verwandeln lassen wollen. Mit einem Wort: ein Völkermord.
Abschüssiger Weg in die Knechtschaft
Das hartnäckige Festhalten an der Vorstellung, Putins Russland werde sich irgendwann wieder zu rationalem Interessensausgleich und Friedfertigkeit bekehren lassen, hat in seiner Wirklichkeitsverleugnung geradezu pathologisch zwanghafte Züge. Es nährt allerdings den Verdacht, dass dahinter nicht einfach Naivität und Selbstbetrug steckt, sondern auch ein unterschwelliges, opportunistisches Kalkül. Da man in den westeuropäischen Hauptstädten mit schwindendem Engagement der Vereinigten Staaten für Europa rechnet, möchte man es sich mit Russland als möglicher zukünftiger Hegemonialmacht auf dem Kontinent nicht gänzlich verderben. Denn ungeachtet aller gegenteiligen Beteuerungen fehlt es Europa an dem Willen, sich im Falle einer Abkehr der USA in den Stand zu setzen, selbst für die eigene Sicherheit sorgen zu können. Insgeheim erscheint es großen Teilen der politischen und gesellschaftlichen Eliten daher verlockender, auf lange Sicht zu einem Modus vivendi mit Russland zu kommen – in der Hoffnung, dann von dessen militärischen Aggressionen verschont zu bleiben.
Die chronische Zögerlichkeit, die von Deutschland und anderen europäischen Führungsmächten in Sachen Unterstützung der Ukraine an den Tag gelegt wird, lässt sich so auch als ein Signal vorauseilender Unterwerfung deuten. Alle, die diesem abschüssigen Weg in die Knechtschaft nicht folgen wollen, müssen jetzt laut ihre Stimme gegen die drohende Preisgabe der Ukraine erheben. Um sie abzuwenden, bedarf es eines Aufstands der Aufrechten, denen ihre Würde als freie Menschen mehr wert ist als ein fauler „Frieden“ mit einer grenzenlos bösartigen Macht. Damit aber die Freiheit in Europa weiter Bestand haben kann, muss die Ukraine siegen.
Internationale Politik, Online Exklusiv, 28. Oktober 2024
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