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25. Okt. 2011

Richtig rüsten

Warum die Bundeswehr ein neues Beschaffungswesen braucht

Ein Kampfhubschrauber, der nicht kämpfen, ein Transporthubschrauber, der nicht transportieren kann, milliardenschwere Großprojekte, die um Jahre hinter dem Zeitplan zurückliegen – bei Deutschlands Rüstungsbeschaffungswesen liegt offensichtlich einiges im Argen. Was kann die Bundeswehrreform hier bewirken?

Als Verteidigungsminister Thomas de Maizière kürzlich Moskau einen Besuch abstattete, bei dem die Gastgeber vorab ein hohes Interesse an den Reformerfahrungen der Bundeswehr signalisiert hatten, da machte im Flugzeug ein Bonmot die Runde: Wenn man die Russen für die nächsten Jahre so richtig lahmlegen wolle, dann müsse man ihnen das Organigramm des Bundesamts für Wehrtechnik und Beschaffung (BWB) als Blaupause liefern. Stagnation, Verzögerungen, explodierende Kosten, Fehlplanungen wären garantiert.
Tatsächlich ist beim deutschen Rüstungsbeschaffungswesen offensichtlich einiges schiefgelaufen. Großprojekte für Milliarden Euro liegen um Jahre hinter dem vereinbarten Zeitplan zurück, bei teils explodierenden Kosten. Das betrifft Projekte zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Die Korvette K130 etwa sollte ein Vorzeigemodell für Marineeinsätze der Zukunft sein – kein großes Schlachtschiff, sondern für Küstengewässer geeignet, klein und wendig. Leider funktionierten Steuerungsanlage und Getriebe nicht wie geplant, bei einer Übungsfahrt stieß das Schiff im Nord-Ostsee-Kanal an die Böschung. Man rechnet mit bis zu sieben Jahren Verzögerung.

Zahnloser Tiger

Und dann ist da noch die leidige Geschichte mit dem Kampfhubschrauber „Tiger“ und dem Transporthubschrauber NH90. Über die beiden Helikopter bemerkte ein General zu einem Zeitpunkt, als sie schon in die Truppe hätten eingeführt sein sollen, die Bundeswehr habe zwei neue Helikoptermodelle, denen man zwar nicht absprechen könne, dass sie flögen, doch leider sei eines ein Kampfhubschrauber, der nicht kämpfen, und das andere ein Transporthubschrauber, der nicht transportieren könne. Grund für die verspätete Einführung des Tigers waren falsch gelegte Kabelbäume (was die Bundeswehr beklagte), aber auch, dass die zuständige Dienststelle nicht genug Personal für die Abnahme der Hubschrauber stellte (worauf der Hersteller hinwies).
Das prominenteste Beispiel für die Rüstungsmalaise ist der Transportflieger A400M – theoretisch die modernste und vielseitigste Maschine, die die NATO in dieser Größenklasse hat. Das Problem: Sie hat ihn nur auf dem Papier. Seit 2010 sollte das Turbopropellerflugzeug der militärischen EADS-Tochter an Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien und andere Europäer geliefert werden. Doch dann häuften sich die Probleme. Die Triebwerke ließen sich nicht störungsfrei integrieren, der Innenraum hielt der geplanten Nutzlast nicht stand und dergleichen mehr. Die Militärs rechnen mit drei Jahren Verspätung.

Ein weiteres Problem: Der Vertrag war eigentlich für die Bestellernationen günstig. Es gab einen festen Preis (20 Milliarden Euro für 180 Flugzeuge, die an sieben NATO-Staaten gehen sollen) und scharfe Konventionalstrafen für das Verfehlen von bestimmten Wegmarken. Aber auch das galt nur theoretisch. In Wirklichkeit sind die Staaten zum Teil direkt an dem auftragnehmenden Unternehmen beteiligt (Frankreich) oder haben wie Deutschland zumindest ein hohes politisches Interesse an dessen Bestand. Außerdem brauchen sie das neue Flugzeug – die französischen Streitkräfte, deren Flotte der vor gut 40 Jahren ebenfalls gemeinsam mit Deutschland beschafften Transall-Flugzeuge nach den Erkenntnissen von Fachleuten „ziemlich abgeschrubbt“ ist, sogar noch dringender als die Bundeswehr. Am Ende mussten die Besteller nicht nur auf Strafzahlungen des Unternehmens verzichten, sondern sogar einer Preissteigerung zustimmen.

Das Beispiel zeigt, dass es falsch wäre, beim Lamento über die Ausrüstung der Streitkräfte eine deutsche Nabelschau zu betreiben. Der Rüstungsmarkt ist aufgrund gewisser Eigenheiten überall ein problematischer Markt. Es gibt na­tionale Sicherheitsinteressen, eingeschränkten Zugang zu Technik, Export­restriktionen und in vielen Ländern eine bedeutende Beteiligung des Staates, der die Interessen des Auftragnehmers und des Auftraggebers zugleich im Auge haben muss. Hinzu kommen politische Vorgaben. Der Hersteller des A400M etwa wollte eigentlich amerikanische Triebwerke verwenden, doch die Besteller verlangten, es müssten europäische sein. Das führt Airbus Military Systems als einen wesentlichen Grund für die Probleme an.

Für die gegenwärtigen Einsätze der Bundeswehr könnte der A400M gut gebraucht werden, besonders für den in Afghanistan. Schließlich sind nicht nur die Truppenkontingentwechsel laufend über die gewaltige Strecke von 5000 Kilometern bis Zentralasien abzuwickeln; auch ein erheblicher Teil des Materialnachschubs läuft über den Luftweg. Allerdings zeigt sich: Es geht auch ohne. Für die Logistik stehen geleaste ukrainische Transporter auf dem Flughafen Leipzig bereit. Die Mannschaften werden in „zivilen“ Passagierflugzeugen der Flugbereitschaft bis zu einem Stützpunkt in Usbekistan gebracht, dort steigt man um in die Transall, einen Militärtransporter, der für den Einsatz mit Schutzvorrichtungen ausgestattet worden ist. Die Bundeswehr hat derzeit acht Transall im Einsatzland. Sie fliegen nicht nur deutsche Soldaten in die Nord­region, für die die Bundeswehr vorrangig zuständig ist, sie stehen auch dem Oberkommandierenden der internationalen Afghanistan-Truppe ISAF in Kabul für Flüge im ganzen Einsatzland zur Verfügung. So konnte es vorkommen, dass vor sich hindösende amerikanische Infanteristen im Bauch einer Transall vor dem Start in Kandahar eine Sicherheitsbelehrung hörten, die mit den Worten begann: „Welcome to the Royal Bavarian Air Force.“

Die zweimotorige Transall hat einen Nachteil: In großen Höhen stößt sie an ihre Grenzen. Wenn überm Hindukusch schlechte Sicht herrscht und man über die Wolken kommen muss, dann ist eher die amerikanische „Herkules“ gefragt, die von vier Propellern angetrieben wird. Dennoch leisten die deutschen Transportflieger einen für die ISAF sehr wertvollen Beitrag, wie amerikanische Offiziere im Einsatzland gerne hervorheben. Es gab schon tausend Unterstützungsflüge auch außerhalb des deutschen Einsatzgebiets; für Transportflieger wurde die Begrenzung des Einsatz­gebiets 2008 aufgehoben. Das Beispiel zeigt: Wäre der Beschaffungsvorgang glücklicher verlaufen, dann hätte die Bundeswehr vermutlich für die Anforderungen am Hindukusch leistungsfähigere Flugzeuge benutzen können. Aber entscheidend für den taktischen Wert des deutschen Beitrags zum Lufttransport war etwas anderes. Es war der politische Wille in Berlin und an der Bundeswehrspitze, Einsatzvorbehalte aufzugeben und die Maschinen, die man nun einmal hat, dem ISAF-Kommandeur für Flüge in ganz Afghanistan zur Verfügung zu stellen.

Empfindliche Lücke

Empfindlicher ist die Lücke bei den Hubschraubern. Drehflügler (so der Terminus der Militärs) sind bei allen Einsätzen Mangelware. Erst recht solche, die für harte Bedingungen wie in Afghanistan geeignet sind. Es haben schon Generäle seufzend bedauert, dass die Bundeswehr nach der Eingliederung der NVA die russischen Modelle ausgesondert hat – man hätte die robusten Transporter in Afghanistan brauchen können. Allerdings hätte womöglich der psychologische Schaden, den die aus den achtziger Jahren verhassten Silhouetten bei der Bevölkerung angerichtet hätte, den taktischen Nutzen überwogen. Stattdessen dienen der Bundeswehr ähnlich alte Großhubschrauber vom Typ CH 53 als Arbeitspferde. Sie sind wendiger, als man beim ersten Betrachten der zwölf Tonnen schweren Kolosse denkt. Wer einmal ein Ausweichmanöver mitgeflogen ist, weiß, dass die Maschinen stabiler sind als so mancher menschliche Magen.

Dennoch hat die Ausstattungslage mit Hubschraubern die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr wesentlich begrenzt. Das betrifft nicht nur ihre überschaubare Zahl, sondern vor allem die mangelnde Nachtflugfähigkeit. Wenn Verwundete nicht nachts mit Hubschraubern in Sicherheit gebracht werden können, sind Operationen außerhalb der befestigten Feldlager im Grunde auf den Radius eines halben Tagesmarschs begrenzt – es gilt der Grundsatz, dass eine schnelle sanitätsdienstliche Rettungskette ständig gewährleistet sein muss. Mit der Folge, dass es den Taliban in Afghanistan durch eine Art Igeltaktik gelang, ganze Distrikte im Einsatzgebiet der Bundeswehr zu unterwerfen.

Als die amerikanischen Streitkräfte im Zuge ihrer Aufstockung auf rund 100 000 Soldaten für den Afghanistan-Einsatz im Jahr 2010 eine komplette Combat Aviation Brigade nach Mazar-i-Scharif verlegten, dem deutschen Kommandozentrum für den Norden des Landes, änderte sich das. Mit ihrer Unterstützung konnte die ISAF in den umkämpften Regionen bei Kundus und bei Baghlan-i-Jadid wieder in die Offensive gehen und die Taliban aus den Gebieten vertreiben. Erst dann war möglich, was sich die Bundeswehr seit je als ihre Spezialität auf die Fahnen geschrieben hat: Wasserversorgung aufbauen und Dörfer mit Stromanschlüssen versorgen. Wie wichtig die Luftunterstützung ist, zeigte sich im blutigen Karfreitagsgefecht der Bundeswehr bei Kundus im April 2010. Unter feindlichem Feuer flogen Blackhawks in die Kampfzone und bargen schwer verwundete deutsche Soldaten. An diesem Tag fielen drei Männer, doch die Experten sind sich sicher: Ohne die Amerikaner wären es noch mehr gewesen.

Die Sache mit den Hubschraubern zeigt, dass ausrüstungsbedingte Fähigkeitslücken der Bundeswehr konkrete Auswirkungen auf die militärischen Erfolge haben können. Denn an einer fehlenden Kampfkraft oder „Verweichlichung“ der deutschen Soldaten, die manche konservative Kulturkritiker in der Heimat witterten, lag es nicht. Es fehlte zunächst der politische Wille, die Angriffe im Norden Afghanistans als kriegsartige Handlungen anzusehen und ihnen entsprechend zu begegnen. Ein Umdenken war schon in den letzten Amtsmonaten von Verteidigungsminister Franz Josef Jung festzustellen. Sein Nachfolger Karl-Theodor zu Guttenberg vollzog das auch rhetorisch und setzte die neue Linie beherzt um, indem er die Truppe mit Panzerhaubitzen und zusätzlichen Schützenpanzern verstärkte. Seit April 2009 hatten sich die Scharmützel gehäuft, in denen angegriffene Bundeswehrpatrouillen nicht mehr nur versuchten, sich vom Feind zu lösen, sondern Talibankämpfer stellten und bekämpften. Damit einhergehend hatte man allerdings die ersten deutschen im Feuergefecht getöteten Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg zu beklagen.

Eine Wende herbeizuführen gelang erst mit Unterstützung der Amerikaner. Dass die Bundeswehr in einem Einsatz dieses Ausmaßes und dieser Intensität den großen Partner braucht, um sich anzulehnen, ist ihrer Führung ebenso klar wie den Bündnispartnern. Dafür sei man schließlich in einer Allianz, heißt es. Das bedeutet nicht, dass die Entwicklungen auf politischer und militärpolitischer Ebene nicht genau registriert würden: Wie sehr Deutschland seinerseits bereit ist, Lasten, die sich aus gemeinsam beschlossenen NATO- oder EU-Einsätzen ergeben, in einem seinen militärischen Fähigkeiten entsprechenden Maß mit zu übernehmen. Im Einsatz auf dem Balkan ist umgekehrt die Bundeswehr der mit Abstand größte Truppensteller, an den sich andere Nationen wie Österreich, Polen, Frankreich oder Italien anlehnen. Als sich im vergangenen August der Konflikt zwischen Kosovo-Serben und Albanern in Mitrovica zuspitzte, konnte ein deutsch-österreichisches Reserve­bataillon schnell entsandt werden.

Irritierende Windungen

Neben dem gegenseitigen Ausgleichen von Lücken im Einsatz ist immer mehr davon die Rede, Fähigkeiten zusammenzulegen und gemeinsam zu nutzen, vor allem zwischen den europäischen Partnern. Dazu hat der amerikanische Verteidigungsminister Leon Panetta zuletzt Anfang Oktober in Brüssel noch einmal explizit seine europäischen NATO-Kollegen aufgefordert. Wie problematisch das so genannte Pooling and Sharing ist, zeigt allerdings das Beispiel der Awacs-Flotte der NATO, die im tiefen Westen Deutschlands in Geilenkirchen stationiert ist. Als diese Flugzeuge, die zur Luftraumüberwachung und Operationsführung dienen, für den Libyen-Luftkrieg gebraucht wurden, zog Deutschland seine Soldaten ab.

Hatte Berlin zumindest in diesem Fall frühzeitig klargemacht, den Einsatz nicht mittragen zu wollen, so rief es größere Irritationen hervor, als die deutschen Soldaten zu Jahresbeginn 2011 nicht an Awacs-Flügen über Afghanistan beteiligt werden durften – aus rein innenpolitischen Gründen. Dieser Fehler wurde (als Kompensation für Libyen) inzwischen korrigiert. Bei Amerikanern, Briten oder Franzosen dürften derartige Windungen aber nicht die Bereitschaft fördern, essenzielle militärische Hardware mit den Deutschen zu „poolen“.
Für das Vertrauen der Partner in die militärischen Fähigkeiten Deutschlands kommt es also in erster Linie auf die Politik und nicht so sehr auf die Ausrüstung der Bundeswehr an. Dennoch wird man nicht nur in Moskau sehr genau darauf schauen, wie die Reform gelingt, die an vielen Stellen ansetzt, vom Umbau der Wehrpflichtarmee in eine Freiwilligentruppe bis hin zu einem neuen Beschaffungswesen. Hier soll an die Stelle der BWB-Behörde in Koblenz eine prozessorientierte Struktur treten, in die Nutzer – also die kämpfende Truppe – von Anfang an ebenso eingebunden sind wie die Hersteller. Vorerst klingt das Vorhaben noch ein bisschen nach Folienpräsentation.

Zumindest die vielen kleinen Ärgernisse können künftig vielleicht besser aus dem Weg geräumt werden. Etwa, dass es Jahre brauchte, bis die Soldaten vom Dienstherrn adäquate Splitterschutzbrillen erhielten, welche die Afghanistan-Kämpfer lange Zeit privat kaufen mussten – für einen Hauptgefreiten eine teure Anschaffung, für die Bundeswehr ein geringfügiger Posten. Freilich, ein schnelles Reagieren auf konkrete Situationen kann auch zu Fehlplanungen führen. Wegen des ständigen Raketenbeschusses auf das Feldlager in Kundus wurde mit Hochdruck ein Abwehrsystem namens Mantis in Auftrag gegeben, das mit vier Geschützen nach dem Prinzip des Tontaubenschießens funktionieren soll. Jetzt wurde das Projekt gebremst, das Problem ist nicht mehr so drängend. Durch das offensive Vorgehen hat die Bundeswehr die Umgebung von Kundus viel besser sichern können, und im Feldlager steht inzwischen Artillerie, die eine Abschussstelle unter Feuer nehmen könnte. Die Forderung nach Mantis für Kundus war das Resultat der früheren passiven Igeltaktik. Das Abwehrsystem muss deswegen nicht schlecht oder untauglich sein. Aber welche künftigen Einsatzszenarien werden wohl vorsehen, dass ein befestigtes Camp in einer feindseligen Bürgerkriegsumgebung so lange steht, dass es sich lohnt, die Abwehrgeschütze an den Ecken einzubetonieren?

Das ist allerdings ein grundsätzliches Problem: Sind Rüstungsvorhaben zu sehr auf aktuelle Einsätze ausgerichtet, kann das Material bald in der Asservatenkammer landen. Lässt man die akuten Erfordernisse ganz außer Acht, setzt man die eigenen Soldaten unnötigen Gefahren aus, was in demokratischen Staaten auch nicht lange toleriert wird. Fragt man amerikanische Soldaten nach Donald Rumsfeld, so fällt vielen die leichthin gemachte Bemerkung des früheren Verteidigungsministers während eines Truppenbesuchs im Irak ein, die Truppe solle nicht über ihre schlecht gegen Sprengsätze geschützten Humvee-Fahrzeuge murren, sondern mit dem Gerät kämpfen, das sie nun einmal habe. Diese Haltung wurde später korrigiert, ein neuer Transportlaster namens MRAP wurde eingeführt, der vielen GIs das Leben gerettet haben dürfte. Doch schon im Irak mussten die Besatzungen einen Gabelstock mitführen, weil die MRAP sonst an die ortsüblich tief hängenden Stromleitungen zu geraten drohten. In Afghanistan sind vorhandene Stromleitungen seltener das Problem, aber für die dortigen Dörfer und Wege sind diese Kolosse eigentlich zu breit, hoch und schwer. Vielseitiger und ebenfalls sehr gut geschützt sind die von der Bundeswehr beschafften „Dingo 2“. Sie sind ein Beispiel dafür, dass deutsche Rüstungsvorhaben bisweilen auch durchaus glücklich verlaufen können.

STEPHAN  LÖWENSTEIN  ist politischer  Korrespondent  der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
 

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