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01. März 2019

Reise nach Reykjavík

Selten erweist sich eine Naturkatastrophe als Glücksfall. Als der Vulkan des Eyjafjallajökull im März 2010 ausbrach und dessen Asche den Flugverkehr in Europa lahmlegte, war Island wochenlang in den Schlagzeilen. Die Welt wurde plötzlich aufmerksam auf diese wundersame Insel im Nordatlantik mit all ihren Naturschätzen. Es gab zwar jede Menge Asche, aber keine Todesopfer zu beklagen. Stattdessen bis in den letzten Zipfel der Welt PR, die sich die isländische Tourismusindustrie nie hätte leisten können.

Heute ist klar, dass dieser Vulkanausbruch der Ausgangspunkt eines unglaublichen wirtschaftlichen Aufschwungs war, der inmitten der tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise begann. Gerade einmal zwei Jahre zuvor hatten die Finanzmarktturbulenzen nach der Lehman-Pleite das Land wie ein Blitz getroffen. Islands Wirtschaft war nach Jahren schier unaufhaltsamen Aufschwungs plötzlich am Boden, die drei größten Banken des Landes pleite, per Notstandsgesetz wurde der Bankbetrieb mit Staatsmitteln aufrechterhalten, die isländische Krone war abgestürzt. Nur mit Kapitalkontrollen ließ sich ein Ausbluten verhindern. Die Nation stimmte zwei Mal darüber ab, ob die damals 315 000 Einwohner für milliardenschwere privatwirtschaftliche Auslandsschulden gegenüber Großbritannien und den Niederlanden einstehen sollten. Beide Male stimmten sie mit Nein, stets allerdings mit dem Risiko im Nacken, dass sie dies in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen ins komplette Abseits befördern könnte.
 

Fluch und Segen zugleich

Doch es kam alles anders. Auch dank Eyjafjallajökull. Weitere Faktoren begünstigten den Aufschwung: Erstmals war es durch die schwache Krone für ein breites Publikum erschwinglich, nach Island zu reisen. Zudem boten die beiden isländischen Luftfahrtgesellschaften günstigere Flüge, internationale Airlines drängten ebenfalls auf den Markt. Die Welt suchte nach neuen, sicheren Reisezielen und entdeckte dabei die raue, aufregende isländische Natur. 2011 war Island Partnerland der Frankfurter Buchmesse und zeigte seine literarische und kulturelle Vielfalt. Mit dem erfolgreichen Abschneiden der Fußballnationalmannschaft bei der Europameisterschaft 2016 und dem sympathischen Auftreten isländischer Fans blieb Island weiter international im Gespräch.

Jahr für Jahr sind seither die Touristenzahlen gestiegen, mit immer höheren Wachstumsraten. Die höchste gab es 2016 mit einem Plus von knapp 40 Prozent – 1,8 Millionen Menschen machten in diesem Jahr Urlaub in Island. Seither sind die Touristenzahlen noch weiter gestiegen: Im vergangenen Jahr waren es rund 2,2 Millionen Menschen.

Das bleibt auch bei verlangsamtem Wachstum eine logistische Herausforderung. Jedes Jahr baut der internationale Flughafen in Keflavík seine Kapazitäten aus, jeden Tag fahren Hunderte Busse, um die Gäste ins 50 Kilometer entfernte Reykjavík zu bringen. Dort wird das Stadtbild seit Jahren von Baukränen beherrscht. Unweit vom Konzert- und Konferenzhaus Harpa ist eine neue Einkaufsmeile entstanden, direkt nebenan werden Luxuswohnungen und weitere Hotels errichtet.

Immer mehr Menschen in der Stadt fragen sich, ob das nicht zu viel wird und sich das auch langfristig trägt. Aber bisher hält der Bauboom an. Reiseunternehmen und Mietwagenanbieter sind in den vergangenen Jahren aus dem Boden geschossen. Privatleute bieten ihre Wohnungen bei Airbnb an, manche haben attraktiven Wohnraum in Reykjavíks Innenstadt aufgegeben, um ihn für viel Geld an Touristen zu vermieten. Beinahe jedes Ladenlokal, das frei wurde, ist inzwischen ein Souvenirgeschäft oder Restaurant.

So ist der Massentourismus Fluch und Segen zugleich. Er hat die Isländer aus der Krise geholt. Viele, die ihren Job verloren hatten, haben ihr Heil in der Tourismusindustrie gefunden, als Reiseleiter, Busunternehmer, Anbieter von Sommerhäusern. Der Tourismus ist inzwischen zum wichtigsten Wirtschaftszweig geworden, noch vor der Fischindustrie. Mit heimischen Arbeitskräften allein ist dies schon lange nicht mehr zu stemmen. An die 20 Prozent der Arbeitskräfte kommen von auswärts, die meisten von ihnen arbeiten in der Tourismusbranche und der Bauindustrie. Durch die Mitgliedschaft Islands im Europäischen Wirtschaftsraum gilt die Freizügigkeit für Arbeitskräfte aus der EU, was vor allem viele Menschen aus Polen und dem Baltikum nutzen.

Mittlerweile kommen die Besucher zum Glück nicht mehr nur im Sommer und sie verbringen nicht mehr den Großteil ihrer Zeit in und um die Hauptstadt Reykjavík. Im Winter kommen viele Asiaten, die auf Nordlichter hoffen. Im Sommer wollen Kontinentaleuropäer die Ringstraße rund ums Land fahren oder im Hochland wandern. Die mit Abstand meisten Touristen kommen günstiger Direktflüge wegen aus den USA, gefolgt von Großbritannien und Deutschland.

Deutliche ökologische Fußabdrücke

Aber was macht es mit einem Land, wenn pro Jahr mehr als sechs Mal so viele Menschen zu Besuch kommen wie es Einwohner hat? Die ökologischen Fußabdrücke sind immer deutlicher zu sehen – im wahrsten Sinne des Wortes: Die Wege zu den populärsten Wasserfällen und Seen sind so zertrampelt, dass die Grünflächen lange brauchen werden, um sich zu erholen. Touristen, die Geländewagen fahren, hinterlassen Spuren in zuvor unberührter Natur, manche bleiben beim Versuch stecken, einen Fluss zu durchqueren. Die Landsbjörg, die Rettungswacht, muss immer häufiger Touristen aus prekären Situationen retten. Und es gibt mehr tragische Todesfälle, wenn Touristen die Warnhinweise nicht beachten, zu schnell fahren oder Witterungsgefahren unterschätzen.

Es gibt zudem Zeichen einer Überhitzung. Da ist vor allem der Rückgang des Wachstums der Touristenzahlen; diejenigen, die kommen, sind wegen der gestiegenen Krone nicht mehr so ausgabefreudig. Und dann ist da auch die ungewisse Zukunft der in Finanzschwierigkeiten geratenen isländischen Billigairline WOWair, die viele Gäste für wenig Geld ins Land bringt.

Kein Wunder, dass die Stimmung bei Islands Unternehmern zuletzt gesunken ist. Der Spagat für die Regierung aus Links-Grünen und Konservativen wird schwieriger, diesen wichtigen Industriezweig in die richtige Bahn zu lenken. Umweltminister Guðmundur Guðbrandsson will die Einnahmen stabil halten und zugleich dafür sorgen, dass die Natur geschont wird. Unberührtheit ist schließlich Teil der Attraktivität Islands. Allerdings gibt es nur begrenzte Mittel, den Tourismus zu lenken. Die Tourismusministerin Þórdís Kolbrún Gylfadóttir will dafür sorgen, dass Flughafenkapazitäten im Norden ausgebaut werden, damit Touristen direkt dorthin fliegen und nicht alles über das südwestliche Keflavík abgewickelt werden muss.

Nach Ansicht von Ásgeir Jónsson, Ökonom an der Universität Island, geht der Schutz der Natur über eine Verknappung des Zugangs und eine Bepreisung. Naturattraktionen sollten nicht mehr frei zugänglich, sondern wie die meisten Nationalparks in den USA mit Eintrittspreisen versehen werden.

Außerdem dürften die Wege ins Hochland keinesfalls ausgebaut werden. Derzeit braucht man einen Geländewagen, um über die ruckeligen Pisten und durch Flüsse zu fahren. Würde das durch einen Ausbau auch für kleine Mietwagen zugänglich gemacht, wäre das Hochland in Gefahr, ist Ásgeir Jónsson sicher.

Auch wenn der vermeintlich saubere Industriezweig Tourismus inzwischen seine Schattenseiten offenbart hat, so hat er Island nicht nur ökonomisch gerettet, sondern das Land zugleich vor einer Debatte bewahrt: Ob in großem Stil Flüsse und Wasserfälle geopfert werden und als grüne Energiequelle dienen sollen. Eine Debatte, die im Grundsatz schon Jahrzehnte geführt und gerade im isländischen Kinofilm „Gegen den Strom“ thematisiert wird. Wie viel Natur soll für CO2-freie Energiegewinnung weichen? Energie, die unter anderem für die Schwerindustrie, für Aluminiumschmelzen genutzt wird?

Der Tourismus hat großen Einfluss auf die Rechnung: Die unangetastete Natur, die Touristen so sehr anzieht und Filmteams aus aller Welt immer wieder als Kulisse inspiriert, bringt als Attraktion mehr Einnahmen ins Land als der Verkauf der Energie von Wasser- oder Geothermie-Kraftwerken. Zumal in der Vergangenheit nicht transparent war, für welchen Preis Strom etwa an internationale Aluminiumkonzerne verkauft wurde. Ohne die wichtigen Einnahmen aus dem Tourismus würde wohl weit mehr in die Natur eingegriffen als das derzeit geschieht.

Als Island 2008/09 in einer tiefen Krise steckte und das Land auf der Suche nach neuen Einnahmequellen war, lagen durchaus weitreichende Ausbaupläne in den Schubladen. Wären sie im großen Stil als irreversibler Eingriff umgesetzt worden, hätte der Tourismus wohl nicht diesen Boom erlebt. Der Ausbruch des Eyjafjallajökull kam insofern als Glücksfall dazwischen.

Jessica Sturmberg berichtet seit 2002 für die ARD u.a. aus Island über Wirtschaft, 
Sport und Gesellschaft.

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Bibliografische Angaben

IP Wirtschaft 01, März - Juni 2019, S. 18-21

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