Reich ohne Rohstoffe
Rechtstaatlichkeit und Bildung als Garanten nachhaltiger Entwicklung
„Money can’t buy me love“, sang einst Paul McCartney, ein Diktum, das mutatis mutandis auch heute noch Gültigkeit beanspruchen kann. Etwa für die Entwicklungspolitik: Nicht Geld oder Bodenschätze, sondern „immaterielles“ Kapital wie Rechtsstaatlichkeit und Bildung ist nach einer Studie der Weltbank Garant für nachhaltige Entwicklung.
Preisfrage: Wenn ein Mexikaner in die USA einwandert, ist er dort fünfmal produktiver, als wenn er zu Hause bliebe. Warum ist das so? Weil die USA über mehr Maschinen, Werkzeuge, natürliche Ressourcen verfügen? Zweifelsohne naheliegend, aber leider falsch. Der wahre Grund findet sich in einer Studie, die – ausgerechnet, möchte man sagen – die Weltbank erarbeitet hat. In dieser bemerkenswerten, aber weitgehend unbeachtet gebliebenen Studie kommt die Organisation zu folgendem Ergebnis: Der durchschnittliche Amerikaner besitzt immateriellen Reichtum im Wert von 418 000 Dollar, der Mexikaner, der in seinem Land bleibt, dagegen nur im Wert von 34 000 Dollar.
Schön und gut, könnte man nun einwenden, aber was ist immaterieller Reichtum, und wie um alles in der Welt lässt er sich messen? Und was bedeutet er für die Menschen, seien sie nun arm oder reich? Hier wird es in der Tat spannend.
Vor zwei Jahren startete die Weltbank eine Untersuchung, um herauszufinden, wie verschiedene Arten von Kapital zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Die Studie mit dem Titel „Where is the Wealth of Nations? Measuring Capital for the XXI Century“ definiert zunächst die verschiedenen Arten des Kapitals. „Natürliches“ Kapital sind die nicht erneuerbaren Ressourcen wie Öl, Gas, Steinkohle, außerdem Bodenschätze, Acker- und Weideland, Wald und Naturschutzgebiete. „Produziertes“ Kapital ist das, was wir uns normalerweise unter dem Begriff „Kapital“ vorstellen: Maschinen, Werkzeuge, Strukturen einschließlich Infrastruktur sowie städtischer Grund und Boden.
Doch als sie den Wert all dieser Errungenschaften und Ressourcen zusammengerechnet hatten, stellten die Weltbank-Ökonomen fest, dass noch eine Kleinigkeit fehlte, nämlich nicht mehr und nicht weniger als die wichtigste Quelle des Wohlstands in der Welt. Denn wenn man eine einfache Rechnung wie „aktueller Wert der natürlichen Ressourcen eines Landes plus produziertes Kapital“ aufmacht, so sagt das nichts über das tatsächliche Einkommensniveau aus. Alles Übrige ist die Summe der „immateriellen“ Faktoren: das gegenseitige Vertrauen in einer Gesellschaft, ein effizientes Rechtssystem, eindeutige Besitzverhältnisse und eine handlungsfähige Regierung. Dieses immaterielle Kapital steigert auch die Produktivität der Arbeit und letztlich den Wohlstand. Die Weltbank kommt zu dem Schluss, dass „Humankapital und der Wert von Institutionen, gemessen an ihrer rechtsstaatlichen Qualität, den größten Teil des Wohlstands in nahezu allen Ländern ausmachen“.
Rechnet man weltweit alle natürlichen Ressourcen und das gesamte produzierte Kapital mit ein, ergibt sich, dass in wohlhabenden Ländern 80 Prozent und in armen Ländern 60 Prozent des Reichtums immaterieller Natur sind. Die Schlussfolgerung: „Reiche Staaten sind reich aufgrund der Ausbildung ihrer Bevölkerung und der Qualität der Institutionen, die der Wirtschaft einen Rahmen geben.“ Indem sie den immateriellen Wert von Bildung und Sozialsystemen maßen, gaben die Weltbank-Ökonomen einen wichtigen Anstoß. Nach ihrer Rechnung basieren 57 Prozent des immateriellen Kapitals eines Landes auf Rechtsstaatlichkeit und 36 Prozent auf Bildung. Um den Grad von Rechtsstaatlichkeit und die Perzeption von Governance zu messen, verwendeten die Ökonomen mehrere hundert verschiedene Variablen. Die Daten dafür stammen aus 25 separaten Quellen von 18 Organisationen – NGOs, Agenturen für Risikeneinschätzung, Think-Tanks. Die Schweiz kommt beim Rechtsstaatlichkeits-Index auf 99,5 von 100 Punkten, die USA auf 91,8. Nigeria hingegen landet bei einer beklagenswerten Punktzahl von 5,8, Burundi bei 4,3 und Äthiopien bei 16,4. Die OECD-Länder kommen auf einen Durchschnittswert von 90, die südlich der Sahara gelegenen afrikanischen Länder auf traurige 28 Punkte.
Triebfedern der Entwicklung
In wohlhabenden Ländern wie den USA macht der natürliche Reichtum einen vergleichsweise geringen Anteil am Gesamtvermögen aus – in der Regel ein bis drei Prozent. Aber diese Länder machen mehr aus dem, was sie haben. Acker- und Weideland sowie Wälder sind in reichen Ländern mehr wert, weil sie in Verbindung mit anderen Kapitalarten wie Maschinen und eindeutigen Besitzverhältnissen produktiver sein können. Maschinen, Gebäude, Straßen und ähnliches machen 17 Prozent des Reichtums dieser Länder aus.
Das durchschnittliche Pro-Kopf-Vermögen liegt in der OECD bei 440 000 Dollar. Davon sind 10 000 Dollar natürliches und 76 000 Dollar produziertes Kapital, während das immaterielle Kapital mit 354 000 Dollar den Löwenanteil ausmacht. Die Schweiz verfügt mit 648 000 Dollar über das höchste Pro-Kopf-Vermögen, die USA liegen mit 513 000 auf Platz vier. In den einkommensschwachen Ländern liegt das durchschnittliche Gesamtvermögen bei 7216 Dollar pro Person. Davon sind 2075 natürliches, 1150 produziertes und 3991 Dollar immaterielles Kapital. Die Staaten mit dem niedrigsten Pro-Kopf-Vermögen sind Äthiopien mit 1965, Nigeria mit 2748 und Burundi mit 2859 Dollar. Und dann gibt es tatsächlich Staaten, die so schlecht regiert werden, dass sie negatives immaterielles Kapital aufweisen. Nigeria und die Demokratische Republik Kongo etwa zerstören ihr immaterielles Kapital durch wild wuchernde Korruption und ein gescheitertes Bildungssystem und sorgen so dafür, dass ihre Bevölkerung in Zukunft noch ärmer sein wird.
In den USA hat jeder Einwohner der Studie zufolge 15 000 Dollar natürliches, 80 000 Dollar produziertes und 418 000 Dollar immaterielles Kapital zur Verfügung. Und nach den üblichen Vergleichsmethoden beträgt das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in den USA rund 46 000 Dollar. Das ölreiche Mexiko hingegen hat ein Gesamtkapital von 62 000 Dollar pro Person, davon 8500 Dollar in natürlichem, 19 000 Dollar in produziertem und 34 500 Dollar in immateriellem Kapital. Doch sein Pro-Kopf-Einkommen liegt lediglich bei 10 700 Dollar. Wenn ein Mexikaner, ein Südasiate oder ein Afrikaner die Grenze zu den USA überquert, erlangt er sofort Zugang zu 418 000 Dollar immateriellem Kapital pro Person. Wer würde unter solchen Umständen nicht in die USA einwandern wollen?
Die Weltbank-Studie stützt die Erkenntnisse des Entwicklungsökonomen Peter Bauer. In seinem brillianten Buch aus dem Jahre 1971 „Dissent on Development“ schrieb er: „Wenn außer Kapital alle Voraussetzungen für Reichtum vorhanden sind, so wird das Kapital schnell vor Ort entstehen oder von außen (...) verfügbar sein (...). Wenn aber die Voraussetzungen für Entwicklung nicht gegeben sind, wird Hilfe automatisch unproduktiv und somit wirkungslos. Wenn also die Antriebsfedern für Entwicklung da sind, wird sich der materielle Fortschritt auch ohne Unterstützung von außen einstellen. Und sind sie nicht da, geschieht das trotz Unterstützung nicht.“
Die bahnbrechende Weltbank-Studie macht überzeugend klar, dass Bauers „Triebfedern der Entwicklung“ Rechtsstaatlichkeit und ein gutes Bildungssystem sind. Die große Frage, die die Forscher nicht beantworten, ist: Wie können die Menschen in den Entwicklungsländern die Kleptokraten loswerden, die ihre Länder ausplündern und sie in Armut halten?
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RONALD BAILEY, geb. 1953, ist Wissenschaftskorrespondent der Zeitschrift Reason. 2005 erschien von ihm „Liberation Biology – The Scientific and Moral Case for the Biotech Revolution“ (Prometheus Books).
Internationale Politik 12, Dezember 2007, S. 46 - 48.