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01. Dez. 2008

Rechnet mit Amerika

Warum wir die USA als wirtschaftliche Führungsmacht nach wir vor brauchen

Europa leidet unter den Folgen der Bankenkrise. Trost verspricht ein Blick über den Atlantik: Ist es jetzt vorbei mit der ökonomischen Dominanz der Vereinigten Staaten? Nein. Amerika bleibt stark, innovativ und tatkräftig. Und: Im Alleingang können weder Europäer noch Amerikaner das kollabierte Finanzsystem wieder auf die Beine stellen.

Seit 1932 und der Wahl Franklin D. Roosevelts musste kein amerikanischer Präsident ein schwereres wirtschaftliches Erbe antreten als Barack Obama. Und doch setzen selbst die skeptischsten Beobachter einige Erwartungen in ihn. Optimisten sagen, die Krise biete für den neuen Präsidenten eine unvergleichliche Chance, das amerikanische und das globale Finanzsystem neu und zum allgemeinen Vorteil zu ordnen. Pessimisten befürchten, die Probleme könnten Obama überwältigen und die Hoffnungen der amerikanischen Wähler und der ganzen Welt zerschlagen.

In ein paar Jahren werden beide, Optimisten wie Pessimisten, sagen können, dass sie mit ihrer Einschätzung richtig lagen. Bereits heute durchlebt die US-Wirtschaft eine dramatische Rezession, die sich zweifellos noch verschlimmern wird, bevor es wieder aufwärts geht – egal, wie schnell und klug der neue Präsident darauf reagiert. Schon allein deshalb werden viele Hoffnungen, die sich mit seiner Wahl verbinden, enttäuscht werden. Es liegt auf der Hand, dass Obama aufgrund der Finanzkrise einige seiner wirtschaftspolitischen Ankündigungen wird zurücknehmen müssen – schon wenige Tage nach seinem Wahlsieg etwa schien er von dem Versprechen abrücken zu wollen, den Spitzensteuersatz zugunsten einer Steuersenkung für Geringverdienende zu erhöhen.

Hunger nach Erfolg

Welches Erbe wird die aktuelle Krise hinterlassen, das über die Frage nach einer notwendigen Finanzmarktregulierung und die internationale Zusammenarbeit hinausginge? Die Große Depression der dreißiger Jahre hatte auf jedes Land, das von ihr erfasst wurde, einschneidende Auswirkungen. Einige Beobachter argumentieren, auch die aktuelle Krise werde das wirtschaftspolitische Denken ordentlich durcheinanderwirbeln; mehr als nur einige wenige Obama-Anhänger werten die Krise und Obamas Wahl im Überschwang der Gefühle gar als Absage an den „angelsächsischen Kapitalismus“, also an ein übermäßiges Vertrauen auf die Kräfte des freien Marktes, die unzureichende Berücksichtigung des Staates und fehlende soziale Gerechtigkeit. Diese Sichtweise scheint vor allem in Westeuropa vorzuherrschen, wo der Jubel über ein Ende der wirtschaftlichen Vormachtstellung Amerikas die ökonomische Misere ein wenig lindert.

Zügeln Sie Ihre Schadenfreude – Meldungen über ein Ende des amerikanischen Wirtschaftsmodells sind weit übertrieben. Natürlich werden sich die Vereinigten Staaten in diesem Jahrhundert an das Erstarken neuer Industriemächte wie China, Indien, Brasilien und möglicherweise auch Russland gewöhnen müssen. Schon mangels Einwohnerzahl werden die USA nicht mehr die größte Volkswirtschaft der Welt sein; aller Voraussicht nach aber werden sie die stärkste und innovativste Volkswirtschaft bleiben, das Land, das die besten, klügsten und ehrgeizigsten Köpfe der Welt anlockt. Amerika bleibt vital und jederzeit in der Lage, auf neue Herausforderungen zu reagieren. Und, auch das gilt es zu bedenken: Hat der Wohlstand den Hunger nach Erfolg stillen können? Nein – das ist ein unverkennbar europäischer Wesenszug. Die amerikanische Arbeitsmoral bleibt ungebrochen, ebenso das Selbstvertrauen. Die Menschen wollen im Leben vorankommen und verlangen, dass die Regierung sie vorankommen lässt. Hier liegen die Wurzeln der amerikanischen Wirtschaftskraft; daran hat sich, soweit ich sehe, nichts Wesentliches geändert.

Ist diese Einschätzung zu optimistisch? In den USA haben die Große Depression und Roosevelts New Deal die Beziehung zwischen Bürger und Staat tatsächlich nachhaltig verändert. Stärker als zuvor übernahm die Regierung Verantwortung für die wirtschaftliche Sicherheit der Bürger – und das nicht nur rhetorisch. Der New Deal war ein weitreichendes Gesetzgebungsprogramm, auf dem (unter anderem) das amerikanische Sozialversicherungssystem gründet. Heute ist ein Wandel von solcher Tragweite nicht mehr möglich – allein schon, weil der New Deal zusammen mit Lyndon B. Johnsons Sozialprogramm der sechziger Jahre dafür keinen Raum abseits eines unverblümten Sozialismus lässt (was in den Vereinigten Staaten aber weiterhin völlig undenkbar bleibt).

Ja, der Staat wird künftig stärker in der Pflicht sein. Staatliche Bauvorhaben zur Ankurbelung der Beschäftigung werden einen Teil des Maßnahmenpakets bilden, mit dem man eine Antwort auf die Rezession geben möchte. Darüber hinaus verspricht Obama auch jenen Amerikanern eine Krankenversicherung, die bislang noch nicht versichert waren. Damit würden sich die Vereinigten Staaten den europäischen Sozialfürsorgestandards annähern. Doch Obacht: Dieses Vorhaben ist nicht als Antwort auf die Finanzkrise zu verstehen, der Plan lag ohnehin schon auf dem Tisch. Tatsächlich könnte die Krise seine Umsetzung sogar hinauszögern, wenn sie das vorhandene Budget überfordert. Bislang jedenfalls ergeben sich keinerlei Anzeichen für ein grundlegendes Umdenken in Sachen Marktwirtschaft oder eine Neuauflage des Sozialvertrags, wie das in den dreißiger Jahren geschah.

Dennoch wird der neue Präsident nicht darum herumkommen, neue Prioritäten zu setzen. Und ob ihm das nun gefällt oder nicht: Er wird sich vor allem mit zwei Wirtschaftsthemen beschäftigen müssen, die im Wahlkampf kaum zur Sprache kamen – nicht zuletzt, weil sie so wenigen Wählern wichtig erschienen: die Regulierung der Finanzmärkte und die internationale wirtschaftspolitische Zusammenarbeit. Auch für Obama wird es nicht einfach sein, mit diesen neuen Aufgaben zu jonglieren und gleichzeitig die amerikanischen Wähler davon zu überzeugen, dass er alles daran setzt, ihren Lebensstandard zu erhöhen. Zuweilen – namentlich in der Handelspolitik – stehen diese Ziele sogar im offenen Widerspruch zueinander. Ergreift er hier die Initiative, dann hat der neue Präsident in der Tat die Chance, das amerikanische und das globale Finanzsystem neu zu ordnen und flott zu bekommen. Das allein wäre schon ein gewaltiger Fortschritt. Dafür ist es zwingend notwendig, die nationale mit der internationalen Ebene zu verschmelzen. Im Alleingang können weder die Amerikaner noch die Europäer das zusammengebrochene System wieder auf die Beine stellen. Entweder sie handeln gemeinsam oder sie scheitern. In dieser Hinsicht haben sich die Spielregeln entscheidend geändert, und damit werden sich die amerikanischen Politiker – gewohnt, allein zu handeln – im Zweifel noch schwer tun.

Auf kurze Sicht stellt die Stabilisierung der Wirtschaft die vordringliche Aufgabe dar. Diese wird durch den Übergang von Bush zu Obama zwar erschwert, doch besteht weithin Einigkeit darin, dass es dabei erneute steuerliche Anreize geben muss. Ein entsprechendes Maßnahmenpaket könnte umso größere Wirkung erzielen, je mehr Staaten zeitgleich derartige Pakete schnüren. Allerdings sind einige Länder dazu sehr viel eher in der Lage als andere. Länder mit einem hohen Leistungsbilanzüberschuss (wie etwa China) können zur Ankurbelung des nationalen und globalen Bedarfs weitaus leichter mit Steuersenkungen und Erhöhung der Staatsausgaben operieren als Staaten, die ein großes Leistungsbilanzdefizit aufweisen (wozu natürlich auch die USA gehören, obwohl die Nettoverschuldung in Amerika niedrig liegt und das Land leichter Zugang zu Krediten erhält, weil diese in US-Währung gezahlt werden). Ein international abgestimmtes Maßnahmenpaket würde all dem Rechnung tragen.

Bislang war die währungspolitische Zusammenarbeit enger als die finanz-politische – den Notenbankern in aller Welt ist gemeinsames Handeln vertrauter als den Finanzministern. Die aktuelle Krise hat bereits zu ersten Absprachen über Zinssenkungen und Liquiditätszuführungen an die Geldmärkte geführt, doch wurden diese Absprachen meist ad hoc getroffen und damit zum großen Teil ihrer Wirksamkeit beraubt. Langfristig muss das Ziel lauten, Vereinbarungen zur währungspolitischen Zusammenarbeit zu systematisieren und so weit als möglich auf die Steuerpolitik zu übertragen. Nach dem Abflauen der gegenwärtigen Krise ist zudem eine sehr viel engere Zusammenarbeit bei der Regulierung der Finanzmärkte gefordert, um derartige Katastrophen künftig zu vermeiden.

Die derzeitige Krise hat zweierlei gezeigt. Zum einen ist offenkundig geworden, dass die Finanzmärkte stärker reguliert werden müssen – insbesondere was den Kapital- und Liquiditätsbedarf der Banken und anderer Finanzunternehmen betrifft. Die Regulierungsbestimmungen würden die Banken dazu verpflichten, ein Rücklagenpolster mit einem größeren Anteil an weniger riskanten, aber auch weniger gewinnbringenden Vermögenswerten vorzuhalten. Dies allerdings kommt in seiner Wirkung einer Besteuerung gleich und bremst das Wachstum der Banken. In den vergangenen Jahren sind die Kapitalkennziffern unter anderem deshalb zurückgegangen, weil die Banken sich bei den Regulierungsbehörden erfolgreich dafür eingesetzt haben, diese Bestimmungen aufzuweichen, da sie angesichts eines verbesserten Risikomanagements zu einer unnötigen Belastung geworden seien; zudem beklagten sie Wettbewerbsverzerrungen aufgrund unterschiedlich strenger Gesetzesregelungen. Mit diesen Argumenten haben sie sich durchgesetzt: Die Regulierungsbestimmungen wurden Schritt für Schritt, Land für Land gelockert. Das Gleiche ist auch für die Zukunft zu erwarten, wenn die Finanzaufsichtsbehörden ihr Vorgehen nicht aufeinander abstimmen.

Zweitens operieren die großen Banken und andere Finanzunternehmen grenzüberschreitend. Geraten eine Bank oder ein multinational tätiges Finanzunternehmen ins Trudeln, können sich eine geordnete Geschäftsauflösung und eine Abwicklung der Vermögenswerte als ausgesprochen schwierig erweisen. Aus nationaler Sicht besteht Konsens, dass allgemeingültige, neue Abwicklungsverfahren nicht nur für Banken, sondern auch für andere finanzmarktpolitisch bedeutsame Unternehmen notwendig sind. Bleibt die internationale Dimension. Im Idealfall sollte es ein einziges, international verbindliches Insolvenzverfahren für multinational operierende Finanzunternehmen geben – genauso wie eine einzige internationale Finanzaufsicht für den Kapital- und Liquiditätsmarkt.

Derzeit ist das ein zu ehrgeiziges, wenn nicht sogar utopisches Vorhaben. In der Finanzmarktpolitik gilt es, schnelle Fortschritte zu erzielen. Regierungen müssen sich auf Interimslösungen verständigen, die nationalen Regulierungs- und Insolvenzverfahren müssen – das ist das Mindeste – international harmonisiert werden. Für all dies wird die Welt einen neuen institutionellen Rahmen benötigen. Dabei müssen wir das Rad nicht neu erfinden, aber doch eine Reform der bereits existierenden Institutionen vornehmen, der G-7 und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Eine wirkungsvolle währungs- und finanzpolitische Zusammenarbeit erfordert die Aufnahme zumindest von China, Indien, Brasilien und Saudi-Arabien. Die chinesische Führung wird keine Lust haben, neue Verpflichtungen einzugehen, ohne selbst am Konferenztisch sitzen zu dürfen, und gerade China muss unbedingt in diese währungs- und finanzpolitische Abstimmungsrunde eingebunden werden. Das ließe sich am ehesten erreichen, wenn die Gruppe klein genug gehalten wird, um schnelle Entscheidungen treffen zu können (etwa, indem die EU lediglich einen statt derzeit vier Sitze erhält).

Bislang hat sich der Internationale Währungsfonds in der Finanzkrise kaum engagiert, obschon er gerade aus der Gefahr solcher Krisen seine Existenzberechtigung bezieht. Im Rahmen der Regierungskonsultationen gemäß Artikel 4 der IWF-Satzung hätten die in diesem Jahr aufgetretenen Probleme schon erkannt werden können, bevor sie ein kritisches Maß erreichten. Die Untätigkeit des IWF ist aber nicht der Institution selbst anzulasten – sie ist letztlich nur Handlangerin ihrer politischen Herren, also der USA und der anderen großen Industrienationen. Eine Ausweitung der Rechte und Verantwortlichkeiten, die mit einer Umgestaltung der G-7 einherginge, müsste auch auf den IWF durchschlagen. So sollten die Regierungen dem IWF mehr Handlungsspielraum zugestehen und dies durch eine weitaus bessere finanzielle Ausstattung untermauern. Ein derart „aufpolierter“ IWF könnte nicht nur als Sekretariat einer modernisierten G-7 fungieren, sondern langfristig auch als Prototyp für eine einzige, weltweite Finanzaufsicht.

America first

Anders ausgedrückt: Die Wirtschaftskrise stellt neue Anforderungen an die Bereitschaft der Regierungen, jetzt und in Zukunft zusammenzuarbeiten. Der designierte US-Präsident mag hierfür empfänglicher sein als einige seiner Vorgänger, doch sollte man sich da keinen Illusionen hingeben. Die Wahl Obamas ist in weiten Teilen der Welt – und vor allem in Europa – als Anbruch eines neuen Zeitalters der Aufklärung begrüßt worden. Endlich, so die weit verbreitete Überzeugung, werden die Vereinigten Staaten einen Präsidenten haben, der sich weniger darauf konzentriert, die amerikanischen Interessen auf Kosten anderer Nationen zu verfolgen, sondern einen Präsidenten, der die Verantwortung Amerikas für den Rest der Welt anerkennt.

Unsinn. Für Barack Obama werden die amerikanischen Interessen ebenso Priorität genießen wie für George W. Bush oder jeden anderen US-Präsidenten. Die Frage lautet nicht, ob auch Präsident Obama die US-Interessen an erste Stelle setzen wird (das wird er), sondern ob er begreift, dass eine engere Zusammenarbeit mit anderen Ländern der beste Weg ist, diesen Interessen zu dienen. Sein bisheriges Auftreten und die neuen Herausforderungen der Weltwirtschaft legen nahe, dass er Letzteres tun wird. Das lässt die hier diskutierten Veränderungen immerhin denkbar erscheinen; zuvor waren sie nicht einmal das.

Das größte Hindernis, das diesen Veränderungen im Weg steht, ist der Handel. Unbestritten ist, dass der Smoot-Hawley-Act von 1930, die Einführung protektionistischer Zollgesetze, dazu beigetragen hat, die Große Depression noch auszuweiten und zu vertiefen. In der aktuellen Krise könnte eine schon für sich genommen ungeheuer wertvolle Initiative das weltweite Vertrauen in die Wirtschaft stärken: die Zusage, die Doha-Runde der in einer Sackgasse steckenden Welt-handelsgespräche zu einem schnellen Abschluss zu bringen. Leider wird Präsident Obama dazu aber wohl nicht bereit sein. Im Wahlkampf gab er den handelsfeindlichen Stimmungen in der Demokratischen Partei nach und ging sogar so weit, eine Neuverhandlung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA zu verlangen. Je tiefer die amerikanische Wirtschaft in die Rezession schlittert, desto lauter werden die Forderungen nach Handelsbarrieren werden. Diesem Druck zu widerstehen (gesetzt den Fall, er will das überhaupt) wäre für Präsident Obama schon schwierig genug. Eine Kehrtwende zu vollziehen und sich erneut und nachdrücklich für eine Liberalisierung des Welthandels stark zu machen – das würde ihm enorme politische Probleme bescheren.

Nicht nur in Handelsfragen bleibt die amerikanische Führungsrolle auch künftig ausschlaggebend. Diese Rolle scheint derzeit kein anderes Land übernehmen zu wollen oder zu können. Würde sich die EU dieser Herausforderung stellen, wie ihre führenden Köpfe das fortwährend versprechen? Schauen Sie sich doch die alles andere als koordinierte Reaktion der Europäer auf die Finanzkrise an, dann kennen Sie die Antwort. Immer dann, wenn die USA nicht mit gutem Beispiel vorangehen (wie etwa beim Klimawandel), wird wenig erreicht. Soll sich die Welt wieder schnell erholen und wirkungsvolle Pläne zur Verhinderung einer neuerlichen Krise entwerfen, wird es unerlässlich sein, dass der neue US-Präsident voll hinter ihnen steht. Eine straffere Regulierung der Finanzmärkte wird es mit Sicherheit geben. Eine engere Zusammenarbeit bei der Regulierung und beim internationalen Krisenmanagement wohl auch. Eine reformierte G-7 und einen wiederbelebten IWF? Hoffentlich. Aber werden sich die USA wie in der Vergangenheit für einen freien Handel einsetzen? Bedauerlicherweise scheint das eher fraglich. Und ein US-Präsident, dem globale Fragen ebenso am Herzen liegen wie amerikanische Interessen? Daran zu glauben ist nicht nur naiv, sondern idiotisch.

Übersetzung: Susanne Laux

CLIVE CROOK ist Chefkommentator der Financial Times in Washington.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2008, S. 16 - 26

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