Realistische Visionäre
Herrschaft der Ökologie, Stärkung des Nationalstaats, Abschied vom Gradualismus: Drei Vorschläge zur Rettung der Welt.
Beginnen wir bei uns selbst. Oder, genauer: Beginnen wir bei dem, was jeder Einzelne zum Klimawandel beiträgt und was sein Anteil an der Lösung sein könnte. Hier setzt Bernd Ulrich mit „Alles wird anders“ an. Aus Perspektive der Generation „Babyboomer“ versucht er seine eigene (Teil-)Verantwortung für den Klimawandel zu begreifen und daraus einen Handlungsimperativ für seine und die nachfolgenden Generationen abzuleiten.
Dieser lautet: Niemand ist unschuldig und alle sind dazu angehalten, aktiv zu werden. Lange genug wurde das Problem umrissen, an Handlungsoptionen mangelt es nicht. Hier diagnostiziert der stellvertretende Chefredakteur der ZEIT der deutschen Politik ein Paradox: Die Energie, die aufgebracht werde, um den Klimawandel als das allumfassende Problem zu verdrängen, das er ist, sei mittlerweile größer als der Aufwand, den es bräuchte, um die Herausforderungen konstruktiv anzugehen.
Für Ulrich liegt einer der Gründe für das Nicht-Handeln in einem der Erfolgsfaktoren der deutschen Politik: der politischen Mitte. Deutschlands politische Kultur sei grundsätzlich darauf ausgerichtet, extreme Spaltungen und Politiken zu nivellieren oder zu verhindern. Die Mitte und der parteiübergreifende Konsens gälten als absolute Ziele – ein Umstand, der sich in der mittlerweile vierten Großen Koalition auf Bundesebene manifestiere. Der Klimawandel aber sei ein extremes Problem, das eine extreme Reaktion erfordere. Parteiübergreifende Konsensentscheidungen und kleinteilige Schritte würden nicht reichen, eine um 3, 4 oder 5 Grad wärmere Welt zu verhindern.
Unter Ideologieverdacht
In einem System der Mitte, in der gradualistische Politik als demokratisch einzig zulässige Politikvariante erscheine, stehe der notwendige große Wurf sofort unter Ideologieverdacht. Nach Ulrich führt das dazu, dass in Deutschland nicht gefragt werde, welche Politik „zu den Problemen passt, wie sie sind“. Es werde gefragt: „Welche Probleme passen zu der Politik, wie sie ist?“
Der Klimawandel stelle besonders die konservativen Kräfte vor große kognitive Herausforderungen. Sie befänden sich in einem Dilemma: Entweder sie strebten umfassende und nachhaltige Änderungen an und gäben alte Gewissheiten auf, um zu erhalten, was ist, oder sie beschlössen, den Status quo so lange wie es geht zu erhalten, mit der Konsequenz, dass dann alles verloren sein werde. Ulrich formuliert hier einen neuen „Realismus“ als Anspruch an die Politik, der die gewohnten Logiken umkehrt: Wer keine großen, visionären Lösungen wolle, der sei ein Fantast, weil er sich der Illusion hingebe, dem Extraordinären mit dem Konventionellen beikommen zu können. Für Ulrich ist das „magisches Denken“ und kein gangbares Verhalten in der Klimapolitik.
Eine wirksame Klimapolitik und die damit einhergehenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen seien nicht ohne Schmerz und Verzicht möglich. Je länger man die Veränderungen hinauszögere, desto früher und schneller müsse die CO2-neutrale Welt dann erreicht werden und desto einschneidender werde der Prozess. Die derzeitige Klimapolitik der Unmerklichkeit, wie die alte Mitte, wie CDU und FDP sie verträten, sei damit zum Scheitern verurteilt.
Monday on my mind
Wie einfach konstruktive Klimapolitik aussehen kann, zeigt Claudia Kemfert in „Mondays for Future“. Ihr Buch bildet einen angenehmen Gegenpol zur sonstigen Klimawandel-Literatur, die oft dystopisch daherkommt und dadurch den engagiertesten Klimaschützern Kraft und Mut raubt. Kemfert bietet einen Perspektivwechsel. Statt zu fragen: „Was passiert, wenn Ziele nicht erreicht werden?“, solle man fragen: „Was passiert, wenn Ziele erreicht werden?“
Die Autorin vermittelt nicht nur einen umfassenden Stand der aktuellen nationalen und globalen Klimapolitik, sie bietet auch Einblicke in die Mechanismen und Fallstricke des politischen Betriebs. So werden die Leser eingeladen, am politischen Prozess zu partizipieren und für eine engagiertere Klimapolitik einzutreten.
Das ist deshalb wichtig, weil sich so die Dynamik der Fridays-for-Future-Bewegung in den politischen Prozess integrieren ließe. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wäre es fatal, wenn diese Bewegung und damit eine ganze Generation sich enttäuscht von der Politik abwendete. Kemfert fordert eine „entschlossene, demokratisch legitimierte Umwelt- und Klimapolitik, also eine Demokratie in vertraglich vereinbarten ökologischen Grenzen. In einem Wort: eine Ökokratie!“ Möglichen Einwänden demokratietheoretischer Natur begegnet die Autorin, indem sie anregt, dass Bürgerbeteiligung und Bürgerräte für mehr Partizipation und Legitimation in der Klimapolitik sorgen sollten.
Fast schon kontraintuitiv spricht sich die Autorin dafür aus, das langfristige Ziel der Klimaneutralität bis 2050 wohl im Blick zu behalten, aber dennoch bewusst kurzfristig zu denken und Lösungen zu entwickeln, die sofort wirksam werden. Eine komplexe Herausforderung wie der Klimawandel lasse sich nicht im großen Wurf bewältigen; es sei ratsamer, sich schrittweise an die Lösung heranzuarbeiten.
Dieser Ansatz ermöglicht sofortiges Handeln, anstatt auf die Zukunft und technische Wunderlösungen zu warten. Als Überbau und Voraussetzung fordert Kemfert für den nachhaltigen Umbau unseres politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systems einen neuen „Contrat Social“ – oder auch Green New Deal – zwischen den Generationen, um so die notwendigen gesellschaftlichen Kräfte zu mobilisieren.
Den Nationalstaat stärken
Dass der Klimawandel visionäre und disruptive Lösungen erfordert, ist keine Erkenntnis, die progressive, linke oder grüne Denkerinnen und Denker exklusiv für sich haben. Das macht Anatol Lieven in „Climate Change and the Nation State“ deutlich.
Lieven, Sicherheitsexperte aus der Schule des Realismus, konzentriert sich bei seinen Lösungsansätzen auf den Nationalstaat, da nur dieser in der Lage sei, ausreichend Ressourcen und Handlungsmacht aufzubringen. Lieven deutet den Slogan „Think globally, act locally“ in „Think globally, act nationally“ um und argumentiert, dass der Nationalstaat gestärkt werden müsse, um für den Kampf gegen den Klimawandel gewappnet zu sein.
Die größten Ressourcen für (westliche) Nationalstaaten seien ihre Legitimität und die Solidarität der Bevölkerung. Nur so könne sichergestellt werden, dass die Belastungen des Kampfes gegen den Klimawandel akzeptiert würden und politisch umsetzbar seien. Um die nationale Solidarität zu stärken, plädiert Lieven für einen „civic nationalism“, der dem Konzept des Verfassungspatriotismus in Deutschland entspricht.
Dieses republikanische Nationsverständnis könnte dabei helfen, den hyperindividualistischen Tendenzen in westlichen Gesellschaften entgegenzuwirken, und bei heutigen Generationen die Bereitschaft stärken, Belastungen auf sich zu nehmen, die das Leben künftiger Generationen erträglicher machen.
Lieven plädiert zudem dafür, den Klimawandel stärker aus der Perspektive der traditionellen Sicherheitspolitik zu betrachten. Dort denke und handle man eher risikobasiert, als das Handeln an absoluten Wahrscheinlichkeiten und Sicherheiten auszurichten. Eine Risikoperspektive würde beim Thema Klimawandel die Gefahren für den Fortbestand des Nationalstaats sichtbar machen und so den enormen Handlungsdruck verdeutlichen.
So wären etwa im Westen noch weit vor den direkten Folgen (wie der Änderung des Klimas) die indirekten Folgen deutlich zu spüren. Sie könnten den Nationalstaat an seine Grenzen bringen. Lieven verweist hier unter anderem auf zu erwartende Migrationsbewegungen aus den frühzeitig vom Klimawandel betroffenen Regionen der Erde, die westliche Staaten und deren politisches System nachhaltig unter Druck setzen und den gesellschaftlichen sowie politischen Konsens ins Wanken bringen könnten.
Neben der Konsolidierung des nationalen Zusammenhalts argumentiert Lieven stark für einen Green New Deal, der nicht nur den Umbau zu einer nachhaltigen Wirtschaft, sondern auch eine Reform des Kapitalismus beinhalten müsse. Nötig sei unter anderem eine stärkere Besteuerung der oberen Einkommensschichten, damit die Anstrengungen, die alle Mitglieder der Gesellschaft beträfen, auch bei allen Akzeptanz fänden. Ein weiteres ökonomisches Auseinanderdriften werde den politischen Konsens in den westlichen Gesellschaften gefährden und so nachhaltige und umfassende Maßnahmen gegen den Klimawandel unmöglich machen.
Der Klimawandel, das wird in den hier besprochenen Büchern deutlich, ist eine systemische Herausforderung auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Statt über Eintrittswahrscheinlichkeiten zu diskutieren oder darüber, wie viel Zeit noch bleibe, wäre es angezeigt, wie Lieven nach den klimawandelbedingten Risiken für den Fortbestand der demokratischen Ordnung zu fragen. Ulrichs „neuer Realismus“ und Kemferts Handlungsoptionen können das Rüstzeug liefern, um aktiv zu werden.
Bernd Ulrich: Alles wird anders. Das Zeitalter der Ökologie. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2019. 224 Seiten, 16,00 Euro
Claudia Kemfert: Mondays for Future. Freitag demonstrieren, am Wochenende diskutieren und ab Montag anpacken und umsetzen. Hamburg: Murmann 2020. 200 Seiten, 18,00 Euro
Anatol Lieven: Climate Change and the Nation State. The Realist Case. London: Allen Lane 2020. 240 Seiten, 20,00 £
Sven Morgen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Politik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2020, S. 124-126
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