Rächer der Enttäuschten
Der angehende Präsident Jair Bolsonaro verspricht seinen Wählern zu viel
Seit einigen Wochen gehöre ich einer Widerstandsgruppe an. Elternvertreter der Schule, die mein heranwachsender Sohn in Rio de Janeiro besucht, treffen sich in unregelmäßigen Abständen zu Rotwein, Käsehäppchen und besorgten Gesprächen. Die Regierung des rechtsextremen Politikers Jair Bolsonaro tritt Anfang Januar an, und sie will sich auch gleich in die Schulbildung einmischen. „Schulen ohne Parteien“ sollen daraus werden, heißt es in Bolsonaros Programm. Jede Indoktrination soll verboten werden. Vor allem soll es dabei um politisch linkslastige Aussagen von Lehrern gehen, aber wohl auch jede kritische Beschäftigung mit der brasilianischen Diktatur 1964–1985 unterbunden werden.
Dass aus diesem Vorhaben ein Gesetz wird, halte ich für unwahrscheinlich – weil es so himmelschreiend verfassungsfeindlich ist. Aber unsere Elterngruppe diskutiert voller Sorge, will kämpferische Stellungnahmen der Schulleitung hören, denn das Denken à la Bolsonaro zieht überall ein. Brasiliens angehender Präsident verändert das Land bereits vor seinem Amtsantritt.
Brasilien ist, wie schon im Wahlkampf, stark gespalten. Die eine Hälfte des Landes versinkt im Frust, in apolitische Privatwelten oder gründet eben kritische Debattierclubs. Die andere Hälfte ist damit beschäftigt, die Ansichten Bolsonaros irgendwie zu normalisieren und zu rechtfertigen. Der angehende Präsident wurde in Brasilia jahrzehntelang als Hinterbänkler und Maulheld belächelt, isoliert durch seine begrenzten Kenntnisse und seine provokanten, rechtsradikalen Einlassungen. Der frühere Hauptmann sieht sich als letzte Bastion gegen Linke, Homosexuelle und Feministen, gegen die Vertreter von Minderheiteninteressen der Indigenen, Landlosen und der Nachfahren ehemaliger Sklaven. Für seinen Kampf gingen auch Folter und tödliche Polizeiarbeit ohne rechtsstaatliche Kontrolle völlig in Ordnung.
Von seinen Wählern hört man dieser Tage dazu, dass der Mann seine Sprüche nie ganz wörtlich gemeint habe; die seien vor allem ein PR-Trick. Ich bin davon nicht so überzeugt, schon weil man aus dem Bolsonaro-Team von sehr konkreten Plänen hört: Ausbau der Gefängnisse, Straffreiheit für bestimmte Einsätze der Sicherheitskräfte, die Kriminalisierung von Bürgerrechtsaktivisten, eine Unterordnung der Indianerschutzbehörde unter das Agrarministerium und dergleichen mehr. Aber natürlich kann man es so sehen, wie die Bolsonaro-Wähler es tun – noch.
Abstieg eines Vorzeigelands
Die Wähler sagen mir auch: Trotz aller verbalen Übertreibungen stimme bei Bolsonaro die Richtung. Tatsächlich passten die trotzig-nationalen Anklänge seiner Reden in die Grundstimmung dieser Leute am Wahltag. Der Sieg Bolsonaros war vor allem Ausdruck der großen Enttäuschung über die vergangenen Jahre.
Nach einem Wirtschaftsboom zu Beginn des Jahrtausends war Brasilien vorübergehend ein Star. Vielen Brasilianern ging es besser als je zuvor, wohlhabende Cariocas und Paulistas bereisten die Welt, ausländische Investoren strömten an den Zuckerhut und brachten ihre Fachkräfte mit. Sogar Brasiliens schale Biere und die heruntergekommenen Stadtstrände von Rio waren wieder cool.
Seit ein paar Jahren geht es aber wieder in die andere Richtung. Der Rohstoffboom, der vor allem von den Chinesen getrieben war, legte eine Pause ein. Die gewaltigen Ausmaße brasilianischer Korruption kamen ans Tageslicht. In der Weltwirtschaft will kaum jemand etwas von dem einstigen Vorzeigeland wissen. Bolsonaro, der für all das in der Hauptsache Linke im In- und Ausland verantwortlich macht, der autoritär durchgreifen will, kanalisierte die Wut. Er gab sich als Rächer der Enttäuschten. Er weckte vage Hoffnungen, indem er militärische Planer und wirtschaftsliberale Finanzmarktexperten in sein Team holte. Damit brachte er sogar Unternehmer und Börsenspekulanten hinter sich.
Künftig muss er allerdings liefern – und ein paar harte Entscheidungen fällen. Außer markigen Ankündigungen enthält Bolsonaros Programm nämlich viele Widersprüche. Will er den USA, die unter Trump nicht gerade Interesse am Rest der Welt zeigen, wie angekündigt per Schmusekurs dringend benötigte Investitionen und Handelsverträge entlocken? Wird das den Verlust ausgleichen, der entstehen kann, wenn Bolsonaro andere wichtige Partner wie China, die Mercosur-Nachbarstaaten und Europa vor den Kopf stößt?
Wird Bolsonaros Wirtschaftspolitik wirklich so marktfreundlich ausfallen? Werden die alten Militärhaudegen im Team am Ende nicht doch wie früher auf nationale Industriepolitik und Abschottung setzen? Und wird die von Bolsonaro propagierte Unterdrückung Andersdenkender und eine Null-Toleranz-Politik die Städte friedlicher machen oder erst recht durch eine Gewaltexplosion die Menschen von dort vertreiben?
Wenn er falsch entscheidet, kann es schnell passieren, dass der Rächer der Enttäuschten erst recht viel Enttäuschung hinterlässt.
Thomas Fischermann ist Redakteur der ZEIT. Als Korrespondent war er in Mumbai, London, New York und Rio de Janeiro. Heute lebt er in Deutschland sowie in Südamerika.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2019, S. 128-129