IP

01. Nov. 2014

Puzzle mit erheblichen Lücken

Sammeln, sortieren, schlussfolgern: Wie informiert sind die Geheimdienste?

Bei der Diskussion über die blutigen Terroranschläge von Paris wird oft die Frage gestellt, ob es nicht möglich gewesen wäre, die Attentäter im Vorfeld zu stoppen. Wissen die Geheimdienste eigentlich noch das, was sie wissen müssten? Können sie die Entscheidungsträger noch so informieren, wie es nötig wäre? Diese Frage stellte die IP einigen ehemaligen führenden Geheimdienstmitarbeitern. Ihr Urteil: Nur bedingt. Und das wird sich auch so schnell nicht ändern.

Es ist ein grundsätzliches Dilemma, in dem sich die Mitarbeiter von Geheimdiensten befinden. Im Grunde ist ihr Metier kein kurzfristiges, sondern ein ausgesprochen langfristiges Geschäft. Ob sie Zugänge zu den Entscheidungsträgern und den Entscheidungsstrukturen haben, ob sie über die richtigen und verlässlichen Quellen verfügen: All das hängt davon ab, wie langfristig sie Verbindungen aufgebaut haben. Sie müssen also sehr früh in Personen investieren, um dann irgendwann bestimmte Entwicklungen rechtzeitig mitzubekommen.

Da es aber mangels Ressourcen schlechterdings nicht möglich ist, die Geschehnisse in sämtlichen potenziellen Konfliktgebieten so ausführlich zu verfolgen, dass man rechtzeitig Warnhinweise liefern kann, passiert es immer wieder, dass die Geheimdienste die Konfliktfelder sehr kurzfristig präsentiert bekommen. Selbst das Land mit dem größten nachrichtendienstlichen Apparat der Welt, die USA, ist in den vergangenen Jahren von verschiedenen Entwicklungen überrascht worden.

Mehr oder weniger hineingestolpert

Auch der deutsche Bundesnachrichtendienst musste sich jüngst mit einer Reihe von Konfliktfeldern auseinandersetzen, in die Berlin mehr oder weniger hineingestolpert ist – durch politische Entscheidungen, aufgrund militärischer Auseinandersetzungen, wie in Afghanistan und am Horn von Afrika oder durch EU-Entscheidungen, wie im Kongo. Das beraubte die Mitarbeiter des BND der Möglichkeit, auf langfristig angelegte eigene Strukturen zurückzugreifen; es galt weitgehend, sich auf Informationen der Partner zu verlassen.

Nun handelt es sich dabei allerdings um Informationen, deren Zuverlässigkeit man stets hinterfragen muss, sei es, weil sie von ehemaligen Kolonialmächten mit ihren ganz eigenen Interessen und Sichtweisen stammen, sei es, weil sie von Staaten aus der Region geliefert werden, die ja ihrerseits einen ständigen Prozess des gegenseitigen Ausforschens und Korrumpierens betreiben.

Hinzu kommt, dass die Nachfrage nach Informationen rasant ansteigt, wenn ein Land wie Deutschland sich in einem Konflikt wie dem in Afghanistan engagiert. Damit sind Reibereien zwischen den Geheimdiensten und denen, die ebenfalls vor Ort sind, vor allem den Streitkräften, vorprogrammiert. Denn oft beurteilen sie Entwicklungen optimistischer, als die Geheimdienste sie eingeschätzt oder berichtet haben.

Da sind wir sehr schnell bei der Frage, wie die Nachrichtendienste in die politischen Entscheidungsprozesse eingebettet sind. Heute ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass Regierungschefs und Ressortminister viel mit anderen kommunizieren und dabei durchaus relevante Informationen austauschen, ohne dass die Geheimdienste davon etwas mitkriegen. Wenn also Angela Merkel mit Wladimir Putin über die Ukraine-Krise telefoniert, dann findet das, was wir „Rücklauf“ zum Geheimdienst nennen, wahrscheinlich nicht statt. Nun wird aber andererseits vom BND erwartet, dass er die russische oder die ukrainische Position kennt und auf dieser Grundlage prognostiziert, was die nächsten Schritte sein könnten. Wenn ich ein Instrument zur Beratung in außen- und sicherheitspolitischen Angelegenheiten sein soll, dann müsste man, idealtypisch betrachtet, diese Informationen eigentlich auch erhalten. Hat man sie nicht, sind die Möglichkeiten naturgemäß begrenzt. In den USA oder in Großbritannien dürfte das etwas anders sein. Wenn US-Präsident Barack Obama etwa mit Putin kommuniziert, spricht viel dafür, dass über den National Security Council auch die CIA, die NSA oder die DIA einen Rücklauf bekommen.

Um ein stimmiges Gesamtbild zu bekommen, braucht man eben beides: Man muss wissen, was innerhalb der Gesellschaften brodelt, und man muss wissen, was auf höchster Ebene zwischen den Entscheidungsträgern besprochen wird. Wenn das nicht zusammengeführt wird, die Botschaftsberichte, die Informationen der Geheimdienste und die Gespräche auf höchster Ebene, dann bleibt das Bild notwendigerweise unvollständig, ein Puzzle mit erheblichen Lücken. Im Grunde bräuchten wir also eine solche Institution wie den National Security Council auch in Deutschland.

Woran es fehlt

Und dann ist da noch das Thema Ressourcen. Der BND verfügt über eine Personalstärke von rund 6000 Mitarbeitern, davon rund 1000 in dem Bereich, den wir als „Signals Intelligence“ bezeichnen. Das ist nicht viel. Wenn wir uns nur mal das britische Government Communications Headquarters, also den technischen Dienst, anschauen, dann stellen wir fest, dass allein der ein Vielfaches an Personal hat. Nun kann man natürlich argumentieren, dass die Engländer auch globalere Interessen haben als wir; aber auch die Franzosen verfügen über eine größere Personaldecke. Im technischen Bereich wird der BND also niemals mit den Briten oder den Franzosen, geschweige denn mit den Amerikanern konkurrieren können. Der andere Teil sind eigene Quellen. Das Gewinnen von Quellen ist eine sehr komplizierte Angelegenheit, und das „Führen“ von Quellen ebenfalls. Zudem ist es sehr personalintensiv, weil man immer wieder „unter Legende“, also mit falscher Identität, unterwegs sein muss. Manche Quellen können nicht regelmäßig reisen oder getroffen werden, manchmal nur wenige Male im Jahr, und das gilt insbesondere für Länder, in die Sie eigene Leute nur unter höchstem Risiko reinbringen können.

Schließlich gibt es noch den großen Bereich der „offenen Informationen“ aus den Netzrecherchen und der Berichte von Partnerdiensten. Auch da kommt eine erhebliche Menge an Material zusammen. Und wenn man es mit einer Region zu tun hat, die stark nachgefragt wird, weil es da einen aktuellen Konflikt gibt, dann kommen die Mitarbeiter mit der Produktion von Informationen kaum hinterher – geschweige denn, dass sie in der Lage wären, diesen Wust wirklich adäquat zu verarbeiten. Dafür, wirklich gediegene Arbeit zu machen und das alles auch einmal etwas genauer zu reflektieren, die Informationen in Wissen oder gar Erkenntnis umzuwandeln: dafür fehlt meistens die Zeit.

Das ist die große Sorge der Amerikaner: nicht zu wissen, was sie alles an Informationen gesammelt haben, dass sie nicht ausgewertet haben oder auswerten, um Anschläge zu verhindern – nicht nur vor dem 11. September. Ich kann sammeln, sammeln und noch mehr sammeln, aber wie organisiere ich das Verhältnis zwischen dem Eingang und dem gewünschten Ausgang und mit welchem Personal?

Auch bei uns war der 11. September ein wichtiger Markstein, weil der bis dahin kaum ausreichende Personalbestand zumindest ausgeweitet wurde. Aber dann wurde auch relativ schnell wieder abgebaut. Es passiert ganz schnell, dass man von der Politik einen neuen Prioritätsbereich aufgedrückt bekommt. Und dann gilt es wieder zu prüfen, welche eigenen Informationen man bereits hat und über welche Landeskenntnisse man verfügt.

Für die Amerikaner ist das in der Regel ein noch größeres Problem. Die USA sind auf eine kurzfristige Informationsbeschaffung aus und nicht immer auf eine langfristige Quellenführung. Langfristige Quellenführung ist mühselig. Die amerikanische Methode ist es eher, sich vergleichsweise unvorbereitet in ein Krisengebiet zu begeben, die Informationszugänge der Partner zu nutzen und dann lediglich verspätet eigene Zugänge aufzubauen. Das schafft im Zweifel böses Blut, wenn die, die über viel Personal verfügen, von denen, die sehr viel weniger Personal haben, auch noch die Beurteilung und Bewertung geliefert bekommen wollen.
Es geht also um Ressourcen – technische Ressourcen, finanzielle Ressourcen, Wissensressourcen und vor allem: personelle Ressourcen. Nur ein Beispiel: Wenn es dem Mitarbeiter eines Geheimdiensts gelingt, einen Account in Afghanistan, in Pakistan oder in China anzuzapfen, dann nützt ihm das im Zweifel nichts, wenn er das nicht mit fachlicher und landeskundlicher Expertise spiegeln und einordnen kann.

Die Konkurrenz schläft nicht

Beim BND verfolgte man stets die Strategie, für den „Signals Intelligence“-Bereich Absolventen der Fachhochschulen und der technischen Universitäten anzuwerben. Aber die Erfahrung lehrt, dass solche Absolventen sehr schnell in die Führungspositionen streben. Hinzu kommt eine Art Standortnachteil: Im Münchner Umland gibt es jede Menge Unternehmen, die das doppelte und dreifache Gehalt bieten. Das ist schlicht eine Frage der Konkurrenzfähigkeit. Aber was wäre die Alternative? Natürlich könnte man Contracter anheuern, wie es in den USA gemacht wird. Doch das würde stets das Risiko bergen, sich im Zweifelsfall einen Edward Snowden ins Haus zu holen.

Noch vor rund 15 Jahren konnte der BND mit der Perspektive argumentieren, dass der Dienst nach Berlin umziehen wird. Damit ließen sich ausgezeichnete Nachwuchskräfte gewinnen. Aber jetzt, wo sich die Fertigstellung des Neubaus in Berlin verzögert, verliert der BND talentierte Leute, die ins Auswärtige Amt oder sonstwohin gehen, weil die Berlin-Perspektive nicht so schnell eingelöst werden kann.

Und wenn wir schon beim Thema Geld sind, dann stellt sich die Frage nach Budgets und Unterstützern. Oberster Geldeinsammler für den BND ist der Chef des Kanzleramts. Der muss dafür den Finanzminister gewinnen und natürlich den Koalitionspartner. Da sind wir sehr schnell bei dem Punkt, welchen Ruf und welchen Stellenwert Nachrichtendienste bei uns in der jeweiligen konkreten Situation haben. Und irgendwann kommt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Reaktion, dass man diesen Bereich nicht fördern könne, wenn woanders gespart werden muss. Sie bekommen für eine deutliche Erhöhung der Etats nicht immer eine politische Mehrheit zusammen, obgleich es angesichts langfristig anhaltender Konfliktlagen notwendiger denn je wäre.

Das hat natürlich auch damit zu tun, dass der BND derzeit keine ganz so gute Presse hat. Vor allem der Fall Snowden mit der Überwachung durch die Amerikaner und der Kooperation der deutschen Nachrichtendienste mit den Amerikanern war nichts, was man öffentlich auf der Haben-Seite verbuchen kann. Und auch wenn man jetzt sagt, man wolle das in Zukunft besser machen und sich stärker abkoppeln von den Amerikanern: So wie die Konfliktlagen sind, werden wir immer wieder in eine Situation geraten, in der wir ohne das Know-how der Amerikaner und ihre Informationen nicht weiterkommen. Zwar wird immer wieder mehr Zusammenarbeit in Europa gefordert – doch das hat natürlich seine Grenzen. Letztlich werden es nationale Dienste bleiben, und es wird keine „joint operations“ geben, wie man das bei den Militärgütern nennt. Die einen haben die Schiffe, die anderen haben die Panzer und die dritten haben dann die Flugzeuge: So etwas funktioniert bei den Geheimdiensten nicht.

Und die Snowden-Geschichte und der NSU-Skandal haben noch einen Nebeneffekt. Das Thema parlamentarische Kontrolle gewinnt an Bedeutung. Das ist zum einen richtig – wir leben in einem Rechtsstaat und eine funktionierende parlamentarische Kontrolle ist unabdingbar – zum anderen aber müssen wir immer die Gewähr haben, dass die parlamentarische Kontrolle nicht mit der Pflicht zur Geheimhaltung kollidiert. Das bleibt ein ständiger Spagat.

Prognose und Praxis

All das hat Auswirkungen auf die praktische Arbeit der Geheimdienste. Nehmen wir einmal Russland. Das ist ein Riesenland, aber wir schauen nach St. Petersburg und nach Moskau; viel weiter reicht unser Blick nicht. Um das, was ansonsten im Land geschieht, einordnen und bewerten zu können, bräuchten wir mehr Ressourcen, aber auch unsere Medien sind auf die Metropolen fixiert.

Oder nehmen wir den Arabischen Frühling. Natürlich, die Bilder aus Kairo spielen eine große Rolle für die Medien, aber das Land ist ein bisschen größer, die Gesellschaft ist ein bisschen traditioneller und die Muslimbruderschaft spielt eine andere Rolle. Auch das wird in der Berichterstattung für die Entscheidungsträger deutlich gemacht. Wenn ich zum Beispiel wissen will, was im Grenzgebiet Ukraine/Russland passiert, dann bin ich neben der eigenen technischen Aufklärung auf die Berichterstattung in den Medien angewiesen, oder ich greife auf Partnerdienste zurück, einschließlich der Nachrichtendienste aus der Region. Und die haben wieder ihrerseits bestimmte Interessen, ob es nun Ukrainer sind, Balten, Polen oder Russen.

Unterm Strich also keine idealen Voraussetzungen, wenn wir einschätzen sollen, wie die russische Regierung auf bestimmte Entwicklungen reagieren wird. Und dann muss man auch in der Lage sein, aus der Berichterstattung die richtigen Schlüsse zu ziehen. Denn Berichterstattung zu Russland hat es in der Vergangenheit zweifellos ausreichend gegeben. Bei der Frage der Osterweiterung der NATO in Richtung Ukraine, in Richtung Georgien etwa, da wusste man durchaus, wo für Putin die Schmerzgrenze war: dass Russland es nicht akzeptieren wird, wenn die NATO an der russischen Grenze auftaucht. Wenn ich verstehen will, wie Putin und seine Leute denken, dann muss ich wissen, dass aus deren Sicht einem Assoziierungsabkommen der EU-Beitritt folgt und anschließend der NATO-Beitritt.

Die Frage ist also, wie wir die verschiedenen beteiligten Stellen in einen Austausch- und Erfahrungsprozess, aber auch in Frühwarnsysteme einbringen können. Das hat mit Ressortkontakten zu tun, manchmal auch mit Ressourcen. Wenn man sich etwa die Berichterstattung der Botschaften und des BND im Vorfeld des Arabischen Frühlings anschaut, dann findet man eine Fülle von Hinweisen auf innenpolitische Probleme, auf das Ansteigen der Arbeitslosigkeit, auf die Folgen des demografischen Wandels und auf die Perspektivlosigkeit der Jugend. Das heißt aber natürlich noch nicht, dass man mit Sicherheit sagen konnte, man stünde unmittelbar vor Ausbruch eines Konflikts. So etwas können Sie nicht prognostizieren, dafür bedarf es der vielbeschworenen Initialzündung. Aber man wird anschließend öffentlich scharf dafür kritisiert, dass man ein Ereignis wie den Arabischen Frühling verschlafen habe. Diese Behauptung haben Sie für die nächsten Jahrzehnte in den Archiven.

Der BND ist nicht überall gleich stark aufgestellt – kann es gar nicht sein –, hat nicht überall gleichermaßen gute Zugänge, aber zumindest hat er einen exzellenten Ruf in der Region, der es ihm ermöglicht, auch ungefilterte Informationen zu bekommen. Was aber, wenn es, wie in Syrien, zum Bürgerkrieg kommt, wie kommt man dann an Informationen vor Ort? Da bewegen wir uns in einem Risikobereich für Mitarbeiter und Quellen. Häufig kommt man nur tastend voran. Man hat eine Fülle der unterschiedlichsten nachrichtendienstlichen Informationen und muss die Bewertung auch immer wieder korrigieren, anpassen und aktualisieren. Man lernt dazu. Bewertungen sind nicht in Stein gemeißelt. Für die Politik ist das manchmal schwer nachzuvollziehen. Bei dynamischen Konflikten kann man sich oft nicht auf eine gültige Lageinformation für die nächsten zwei oder drei Wochen verlassen. Je nach Dynamik des Konflikts wird man mit einer Berichterstattung zunächst einmal nur bis zur nächsten Ecke kommen.

Deswegen legt der BND bei dynamischen Konflikten eine Sonderberichterstattung auf, die quasi täglich die eingegangenen Informationen ergänzt und bewertet. Das heißt konkret, dass Ressourcen zusammengelegt werden und dass sie zum Teil an anderer Stelle weggenommen werden. Und da man ja in der Regel nicht von jetzt auf gleich eine Ansammlung von Experten vor Ort hat, muss man ein Stück weit auf das Prinzip „Training on the job“ setzen. Das ist für einen Nachrichtendienst eine ungeheure Herausforderung, wenn er praktisch sieben Tage in der Woche produzieren muss. Aber diese Art von Sonderberichterstattung wird von den Empfängern wegen ihrer Aktualität sehr geschätzt.

Dieser Text ist das Ergebnis einer Reihe von vertraulichen Gesprächen mit ehemaligen führenden Geheimdienstmitarbeitern. Aufgezeichnet von der IP-Redaktion.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2014, S. 20-25

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