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01. Aug. 2006

Putins Geschichtspolitik

Russland soll wieder ein „großes Land“ sein; deshalb nutzt der Präsident die imperiale
Symbolik von der Zaren- bis zur Sowjetzeit – und wird selbst zur historischen Figur

Im Oktober 2005 besuchte der russische Präsident Wladimir Putin die Niederlande. Als Putin dort nach den Verbindungen zwischen beiden Staaten befragt wurde, verwies er auf die Geschichte: Die Beziehungen reichten bis ins Jahr 1697 zurück, als Peter der Große in den holländischen Werften als Zimmermann angeheuert habe. Anstelle einer Handwerksausbildung kümmere er, Putin, sich heute um die Wirtschaftskontakte. Die Bemerkung des Präsidenten war mehr als ein Bonmot. Sie schlug eine Brücke zwischen den beiden populärsten Figuren der russischen Geschichte.

Auch der G-8-Gipfel unter russischer Präsidentschaft tagte Mitte Juli nicht in Moskau, sondern in St. Petersburg, der Stadt Peters des Großen – für zwei Tage wurde der Konstantin-Palast, von Peter als „Fenster nach Europa“ erdacht, doch erst 100 Jahre nach ihm vom Großfürsten Konstantin zu Ende gebaut, zum Sitz einer prunkvollen Inszenierung, der „Weltregierung“ unter russischer Führung.

Putin sieht in Peter einen modernen Autokraten, der das Imperium stabilisiert und modernisiert hat, für den Bildung und Professionalität keinen Gegensatz zu Selbstherrschaft und Gewalt darstellten. Aus Russland wieder einen „großen Staat“ zu machen, lautete Putins Credo bei seinem Amtsantritt 1999. Russland sei ein „normaler Staat“, dessen Geschichte Teil der europäischen Geschichte sei.1 Die neue Ideologie, die an die Stelle der untergegangenen Sowjetideologie trat, war der Patriotismus. „Patriotismus, unsere Geschichte und Religion“ – so Putin 1999 – sollten die „grundlegenden Werte der Gesellschaft“ bilden.2 Sein Geschichtsbild tritt heute, nach sieben Jahren der Modernisierung Russlands und zugleich des gewaltsamen Zusammenhaltens des Imperiums, klar zutage.

Nach der klassischen Ressorttrennung zwischen Politischer Wissenschaft und Geschichtswissenschaft bildet die heutige Welt der Politik (wie auch der Wirtschaft, der Gesellschaft) das Material der Historiker von morgen. Politik ist jedoch die Gegenwart der Geschichte. Geschichtspolitik strebt die Deutungshoheit über die Vergangenheit an. Die Mittel der Geschichtspolitik sind symbolische Formen, ihre Instrumente sind Medien, ihre Verlaufsform ist die öffentliche Kommunikation. Geschichtspolitik ist symbolische Politik. Politik wird stets in der „Doppelrealität“ von Ereignis und Deutung vermittelt und wahrgenommen. Politik besitzt einen Nenn- und einen Symbolwert. Geschichtspolitik hat drei Funktionen: Der symbolische Ausdruck ermöglicht erstens eine Reduktion von Komplexität, zweitens zielt er auf die Deutungsmacht, drittens bietet er ein Orientierungsangebot zur Sinnvermittlung und Identitätsstiftung.3

Die „Erinnerungsin-stitutionen“ Diskurs, Symbol, Zeremonie werden im Russland Putins homogenisiert. Das „Funktionsgedächtnis“ (Aleida Assmann) der Gesellschaft wird besetzt durch die Traditionen des ausgreifenden Imperiums vor und nach 1917. Die historische Kraft Russlands als imperiale Großmacht, die 1991 ausgezehrt war, soll durch die Politik der Putin-Regierung wiedererweckt werden. Geschichtspolitik ist insofern auch Realpolitik, das Handeln in überkommenen historischen Koordinaten: Die Zurückdrängung der Zivilgesellschaft, der Krieg im Kaukasus, der Führungsanspruch im postsowjetischen Raum – wie zuletzt im Konflikt mit der Ukraine – können als Manifestation historisch bedingten Handelns aufgefasst werden.

Geschichtspolitik als Symbolpolitik

Die Geschichte der Staatssymbolik der Russischen Föderation nach 1991 ist zugleich eine Geschichte des russischen Präsidenten. Während die neunziger Jahre eine Abkehr von der sowjetischen Symbolik mit sich brachten, waren sie zugleich von Übergangslösungen geprägt. Präsident Boris Jelzin führte die Gebeine der Zarenfamilie von Ekaterinburg nach St. Petersburg über, machte die Musik Michail Glinkas zur Staatshymne, ließ die zarische weiß-blau-rote Trikolore hissen, die auch von der Provisorischen Regierung Kerenskijs 1917 und der demokratischen Bewegung zur Zeit der Gorbatschowschen Perestrojka benutzt worden war und ordnete am 30. November 1993 an, den Doppeladler als Staatswappen zu verwenden.4 Jelzins Russland suchte nach neuen Ordnungsmustern kollektiver Identität. Einen Dumabeschluss oder ein Gesetz gab es für keines der drei Symbole. Putin setzte dieser Entwicklung auch in der Symbolpolitik ein Ende. Im Dezember 2000 wurde die Symbol- und Geschichtspolitik des neuen Präsidenten in feste Formen gegossen.

Staatsflaggen sind ikonographische Symbole.5 Die Streitkräfte bedienen sich nach der Entscheidung Putins wieder der Roten Fahne; 2002 kehrte der Stern als Symbol der Russischen Armee ebenfalls zurück. Die Flotte hingegen nutzt die Fahne mit blauem Andreaskreuz auf weißem Grund.6 Jelzins Russland knüpfte an die Symbolwelt der Zaren an. Putins Geschichtspolitik hob sich bald von der romantischen Phase des Vorgängers ab. Anders als Jelzin berief sich Putin in seiner ersten Amtszeit vor allem auf die Symbole der sowjetischen Zeit.

Die Staatshymne

Am 25. Dezember 2000, nachdem Jelzin anstelle der Sowjethymne zehn Jahre Glinkas Zarenlied hatte spielen lassen, machte der junge Präsident Putin die Hymne Stalins von 1943 bzw. Breschnews von 1977 wieder zur Staatshymne der Russischen Föderation.7 Nachdem sie 46 Jahre lang die Orchestrierung der Sowjetgeschichte geboten und Putins gesamtes bisheriges Leben begleitet hatte, schien die Rückkehr nur folgerichtig.

Die Textgrundlage, die die Duma am 8. Dezember 2000 zur Hymne erhob, stammte von keinem anderen als dem inzwischen 87-jährigen Michailkow, Stalins Hofdichter. Zwar erinnert der Text nur noch in Bruchstücken an die Fassung von 1944; -jedoch blieb die erste Refrainzeile „Ruhm unserem Freien Vaterland“ (Slavsja Oteestvo naše svobodnoe) wie ein Leitmotiv unverändert.8 Putins Begründung für die alte neue Hymne,9 vorgetragen während einer dreistündigen Sondersendung von „Itogi“ am 10. Dezember 2000, war schlicht und wirkungsvoll: Man könne diese Phase der Geschichte nicht einfach ausklammern. „Das würde bedeuten, dass unsere Väter und Mütter umsonst gelebt hätten.“ Die Hymne symbolisiere außerdem auch die „Errungenschaften und den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg“.10 Putin verschwieg, dass die öffentliche Debatte bedeutungslos und die Entscheidung längst gefallen war. Eindeutiger hätte Putin zu Beginn seiner Amtszeit kaum die ideologischen Prämissen seiner Regierungszeit vorwegnehmen können.

Alte und neue Feiertage

Der 7. November ist nicht mehr Revolutionstag in Russland. Nachdem bereits 1996 das Revolutionsgedenken in einen „Tag der Verständigung und Anteilnahme“ umgegossen worden war, wird seit 2005 die Emanzipation Russlands von den westlichen Eroberern des 17. Jahrhunderts gefeiert: von den Schweden und vor allem Polen-Litauen. 1610 waren die Polen in den Moskauer Kreml eingezogen, Nowgorod fiel an die Schweden. Als sich der Sohn des polnischen Königs Sigismund III. um den verwaisten Zarenthron bewarb und die Bojaren zu gewinnen suchte, schien es, als ob die Autokratie als Herrschaftsform in Frage stehe. Vertrieben wurden sie, folgt man den Bildern der heroisch aufgeputzten vaterländischen Geschichte, durch ein Heeresaufgebot, das, gedeckt von der Autorität der Kirche, unter Führung zweier Heldenfiguren stand: des Fürsten Poscharskij und des aus Nischnij Nowgorod stammenden Stadtältesten Minin.11

Ein Denkmal der beiden steht heute noch in Moskau auf dem Roten Platz; in Nowgorod wurde am 7. November 2005 ein neues Denkmal eingeweiht. Mit dem Sieg über die „polnischen Interventen“ 1612 war der Weg frei, die Autokratie in neuer Weise zu restituieren.12 Die „Zeit der Wirren“ ist als nationale Katastrophe in Erinnerung geblieben, der Aufstieg der Romanows zur Dynastie als Neubeginn bewertet worden: 1812 im Vaterländischen Krieg gegen die napoleonischen Truppen, 1913 zur 300-Jahrfeier der Dynastie, im Zweiten Weltkrieg im Kampf gegen die Besatzer und jetzt unter Putin. Putin nutzte den Anlass zu wortreichen Erläuterungen seines Geschichtsbilds: Das Ereignis von 1612, das die Romanows auf den Thron brachte, habe „den Weg zur Wiedergeburt und Festigung der russischen Staatlichkeit eröffnet“. Die jahrhundertealte Geschichte Russlands zeige, dass das Land nur mit vereinten Kräften den Herausforderungen der Zeit begegnen könne. „Solange wir die Einheit in uns spüren, wird Russland unbesiegbar sein.“ Putins Hinweise auf die gefährdete Einheit im Kaukasus waren unüberhörbar.13

Der militärische Feiertagskalender, den Putin durch die Aufnahme zahlreicher neuer Jubiläumstage erweitert hat, macht keinen Unterschied zwischen Siegen der russischen Großfürsten, der zarischen Generale oder der Roten Armee. Ebenso wie die Russische Armee 2002 mit großer Unbekümmertheit den 200. Jahrestag des Bestehens des Ministeriums für Verteidigung beging und mit einer bilderreichen Broschüre begleiten ließ, stehen Heerführer, Befehlshaber der Roten Armee und der Russischen Streitkräfte in einer Ahnenreihe. Hier wird des Volkskommissars für militärische Angelegenheiten ebenso gedacht wie Generalissimus Stalin, Kriegsmarschall Schukow, Afghanistan-Marschall Ustinow, Verteidigungsminister Boris Jelzin (März bis Mai 1992) und dem amtierenden Minister Iwanow.14 Die Geschichte wird bruchlos präsentiert. Zarische, sowjetische und russische Armee gelten unter Putin als gemeinsame historische Streitmacht.

Der 60. Jahrestag bestätigte die Wende in der Feiertagspolitik des Präsidenten.15 Putin nahm die aufwendige Symbolik der Sowjetzeit vorsichtig zugunsten der vorsowjetischen Erinnerungskultur zurück. Eine veränderte Semantik des Tages der Befreiung deutete sich bereits früher an. Im Februar 2003, anlässlich des Jubiläums der Schlacht von Stalingrad, verglich Putin die Terroristen des 11. September und in Tschetschenien mit den „Nazis der dreißiger und vierziger Jahre“. Diese geschichts- und realpolitische Rochade erlaubte es Putin, die europäische und Weltgemeinschaft aufzufordern, Meinungsverschiedenheiten zurückzustellen und den Kampf gegen gemeinsame Feinde zu führen. Die Aktualisierung der Vergangenheit, die Unterordnung der historischen Verschiedenartigkeit unter den Pragmatismus der Gegenwart, – diesem Ziel sah sich Putin angesichts des fortdauernden Krieges im nördlichen Kaukasus verpflichtet. Die Inszenierung des Zweiten Weltkriegs als „Generalprobe“ für die Allianz gegen die Achsen des Bösen wurde von den patriotischen Intellektuellen als „gestohlener Sieg“ kritisiert.16 Die Privatisierung des Feiertags durch das Regime, die Funktionalisierung der Vergangenheit gehören zu den wesentlichen Veränderungen der Feierlichkeiten zum 9. Mai.

An einer Umbenennung Wolgograds in Stalingrad, die im Vorfeld des 60. Jahrestags der Schlacht von Stalingrad 2002 erwogen worden war, hatte Putin jedoch dezidiert kein Interesse. Dies würde „Vermutungen über die Rückkehr der Zeiten des Stalinismus wecken“.17 Daneben hat sich Putin immer wieder gegen eine Rückkehr Stalins in das kommunikative Gedächtnis der Menschen gewandt: Putin ist der erste Herrscher nach Stalin, den zu Lebzeiten eine ähnliche Woge der Sympathie – selbst in Zeiten von Krisen und Katastrophen – trägt. Putin sieht sich in einer Popularitätskonkurrenz mit dem Sieger des Großen Vaterländischen Krieges. Daher ist auch die Erinnerung an den Sieg vor 60 Jahren eher als Triumph Putins inszeniert worden denn als überschwängliches Gedenkritual.

Die Veranstaltung 2005 war ein politischer Akt vor historisierter Kulisse. Putins Minimalismus ersparte den internationalen Gästen Gesten martialischer Erinnerungskultur. Die Parade war letztmals den Veteranen des Krieges gewidmet, die an der -Ehrentribüne vorbeigefahren wurden. Das Putinsche Feiertagsarrangement sah eher eine Inszenierung des Präsidenten als des Sieges vor. Der Präsident selbst besetzt das kollektive Gedächtnis.

Das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg hatte für Putin von Beginn an eine funktionale Bedeutung. Die erste Inauguration als Präsident Russlands erfolgte am Vorabend der Feierlichkeiten zum Tag des Sieges, im Mai 2000. Abgesehen von der symbolstarken Umgebung des Kremls, die an die Krönungsfeierlichkeiten der russischen Zaren erinnerte, war der Termin keineswegs zufällig. Das – wie wir heute wissen – nur vorläufige Ende der Kampfhandlungen in Tschetschenien sollte in zeitlicher Nähe zum Siegestag gefeiert werden, Putin als entschlossener siegreicher Oberster Heeresführer erscheinen. Diese Wahrnehmung wurde begleitet von der Verabschiedung der ersten Militärdoktrin Russlands vom April 2000.18 Ein vergleichbares Dokument war in der Reichsgeschichte vor und nach 1917 niemals erlassen worden.

Die zweite  Inauguration des Präsidenten im Jahr 2004 vermied wegen der erfolglosen Operation in Tschetschenien jede inhaltliche Verknüpfung mit dem Siegestag. Stattdessen verstärkte sich die Historisierung des Präsidenten zum Kremlherrscher. Die Festparade der Leibgarde des Präsidenten auf dem Sobornaja-Platz des Kremls erfolgte in historischer Uniform, beritten und zu Fuß. Putin selbst stand im Zentrum der Macht und der Aufmerksamkeit. Die Funktionalisierung der Vergangenheit geriet zum Historiendrama. Die dekorierte Staatlichkeit sollte eine Imperialität des neuen Russlands abbilden, von der die wirtschaftlichen Kapazitäten und die innere Verfasstheit des Landes weit entfernt waren.

Geschichtsschreibung als Meistererzählung

Geschichtspolitik ist Erziehungspolitik. Im Russland Putins wird die russische Geschichte in den Schulbüchern des Landes als nationale Meistererzählung präsentiert. Russische Geschichte ist hier Reichsgeschichte, vom Zentrum her gedacht und geschrieben. Die Peripherie figuriert allenfalls als historischer Ring, der sich von jeher freiwillig um das Zentrum gelegt hat. Die Historiographien der nichtrussischen Ethnien unterliegen im Emanzipationsstreit mit der imperialen Perspektive.19 Das „Föderationsprogramm zur Entwicklung der Bildung in Russland für 2000 bis 2005“ oder die „Nationale Bildungsdoktrin der Russischen Föderation“ sind normative Akte, die nicht zuletzt das an den Schulen des Landes zu vermittelnde Geschichtsbild vorgeben. Liberale Darstellungen der russischen Geschichte haben im Geschichtsbild Putins keinen Platz. Ilgor Doluzkijs „Vaterländische Geschichte des 20. Jahrhunderts“ wurde vom Bildungsministerium 2003 verboten, nachdem dort ein Zitat des liberalen Politikers Jawlinskij gefunden worden war.

In den Lehrerkollegien der Provinz herrscht daher Alarmstimmung. Die Akademie der Wissenschaften der Republik Tatarstan etwa befasste sich 2003 mit dem Unterricht im Fach Geschichte des tatarischen Volkes. Mit Sorge stellte man fest, dass sich in den aktuellen Lehrmitteln zur Geschichte des Vaterlands die Autoren „wie früher auf die Fragen nach Entstehung und Entwicklung der Staatlichkeit der Slawen konzentrieren“. „Die Geschichte der anderen Völker, darunter derjenigen, die über alte Traditionen eigener Staatlichkeit verfügen, wird praktisch nicht berücksichtigt oder aber fragmentarisch und tendenziös dargestellt.“20

Die 1000-Jahrfeier von Kazan 2005 wurde zum Arrangement reichsherrlicher Inszenierung. Die gewaltsame Eroberung Kazans durch Iwan den Schrecklichen 1552 wurde zum Befreiungsakt vom Osmanischen Khan stilisiert. Kein Wort von „den Bergen der Toten“ in Kasan, kein Wort von Massenvergewaltigungen und den Leichen, die noch tagelang die Wolga abwärts trieben.21 Das Autonome Gebiet Kalmückien feiert 2009 nach einem schon jetzt erlassenen Ukaz des Präsidenten den  „freiwilligen Eintritt des kalmückischen Volkes in den Bestand des Russischen Staates“.22 Kein Wort davon, dass das buddhistische Volk an der Wolga unter der Integrationspolitik der Zaren zu leiden hatte, was 1771 zur Flucht von 170 000 Kalmücken aus Russland führte. Das Imperium bleibt auch heute auf die Sichtbarmachung der Reichseinheit angewiesen, wie Jürgen Osterhammel dies treffend für das British Empire beschrieben hat.

Realpolitik als Geschichtspolitik

Putin ist ein Petersburger in Moskau. Er sieht Russland als das moderne, nach Westen hin offene Imperium, das als Kontinentalmacht zwischen Ost und West steht. Eurasismus und Nationalismus sind ihm ebenso fremd wie traditionsbeladenes Moskowitertum. Putins Russland ist eine moderne Balancemacht, die Stärke des Imperiums zugleich seine Existenzgarantie. Während Jelzin nach der Russischen Idee suchen ließ,23 gab Putin sie vor. Der „patriotische Konsens“, der in den neunziger Jahren das neue Russland erfasst hatte, wurde von Putin in einen Staatspatriotismus verwandelt. Während Memorial in den neunziger Jahren die Schreckenszeit des Stalinismus erforschte, sind die Möglichkeiten der Nichtregierungsorganisationen unter Putin massiv eingeschränkt worden. Geschichte wird zentral verwaltet. An einer Pluralisierung besteht kein staatliches Interesse.

Die Ideologie des Putinschen Russlands ist in den Kampagnen erkennbar, die von der Putin-Jugend „Idušie vmeste“ (Weggenossen) organisiert worden sind. „Schlechte Bücher gegen gute Bücher“ sollten etwa die Moskauer Bürger 2002 tauschen. Die postmoderne russische Literatur wurde vor dem Bolschoj-Theater eingesammelt und zerrissen und gegen Klassiker der russischen und sowjetischen Literatur, darunter Puschkin, Dostojewski, Tolstoj getauscht.24 Inzwischen führt Naschi einen „Befreiungskampf“ gegen die „Nicht-Unsrigen“, wie die Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland. Der Publizist Klaus Mehnert beobachtete Anfang der fünfziger Jahre eine Ausdehnung der Sowjetgeschichte, die als Zentralgeschichte der gesamten Weltgeschichte dargestellt wurde.25 Seit der Patriotischen Wende von 1934, vor allem aber nach dem Großen Vaterländischen Krieg war die Heimat (Rodina) als dasjenige „Gefäß“ entdeckt worden, in dem der menschliche Fortschritt von Anbeginn der Zeiten wohnte.26 Über das Heimatgefühl  die Verbindung zur „guten“ Geschichte der vorsowjetischen Zeit wiederzubeleben, ist das Ziel der Putin-Jugend.

Ihr Vorbild dabei ist Putin selbst. Dieser inszeniert Russland in seinen öffentlichen Wortmeldungen seit 2000 als „starken Staat“,27 als „Großmacht – in jedem Fall als atomare Großmacht“28 oder einfach als „bemerkenswerte Großmacht“.29 Seine eigene historische Mission sieht Putin im „Erhalt Russlands als wirklicher Großmacht“.30

Die Untergangsgeschichte der Sowjetunion ist das Trauma, aus dem sich das Weltbild des Präsidenten speist. Dagegen setzt er seither die Größe seines Landes als Symbol der Stärke. Der Raum spricht trotz aller Schwächen des Landes für sich selbst. Hier scheint das Element der Wahrnehmung Russlands als Raummacht durch, das zur Grundausrüstung der zarischen und sowjetrussischen Weltsicht gehörte. „Russland ist das größte Land der Welt“, ließ er sich im Frühjahr 2005 im israelischen Fernsehen zitieren,31 Russland war, ist und wird „eine der wichtigsten europäischen Nationen“ sein.32 Neben der Größe ist für Putin zugleich die „Normalität“ des russischen Staates ein geschichtspolitisches Anliegen.

Die Historisierung Putins

Putin ist bereits selbst Teil der Geschichte geworden. Wenn er sich an sein Volk wendet,33 ist dies das Fernsehereignis des Jahres. Die Menschen hängen an seinen Lippen. Über seine Antworten hinaus gilt jede Bewegung des Präsidenten als bedeutungsschwer. Putins Popularität trägt kultische Züge. Sie begann sofort nach seinem Amtsantritt. Zunächst war Putin populär, weil Jelzin unpopulär geworden war.34 Dann trug die Inszenierung von Erfolgen in Tschetschenien ihm den Ruf als starker Herrscher ein.35 Die Gleichstellung des Nordkaukasus-Krieges mit der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus erfolgte zuerst weltöffentlich anlässlich der Rede im Deutschen Bundestag am 25. September 2001: „Terrorismus, nationaler Hass, Separatismus und religiöser Separatismus haben überall dieselben Wurzeln und bringen dieselben giftigen Früchte hervor.“36 Putin wuchs eine ähnliche Anerkennung zu, wie sie Stalin nach dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg zuteil geworden war. Im Februar 2001 ließ der Gouverneur des Gebiets Rostow am Don, Tschub, in dem Dorf Krasnyj Sad eine „Kirche zu Ehren der Mitglieder der Familie Romanow und zum Andenken an die Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten“ errichten. Am 20. August 2002 befahl der Gouverneur des Primorsker Gebiets, Darkin, Banner mit der Aufschrift „Mit Putin siegen wir“ und „Putin – Kraft Russlands“ aufzuhängen.

Putin profitiert, so der russische Soziologe Jurij Lewada bereits 2000, von einem strukturellen Defizit positiver Integrationsfiguren in der russischen Geschichte und der Realität. Seine Historisierung ergibt sich aus seiner Einordnung in die Geschichte: die Parallelen zu Peter dem Großen, dessen Porträt Putins Arbeitszimmer schmückt, die Verehrung als erfolgreicher Militär, die Inszenierung der Nachfolge als Suche nach einem geeigneten Thronfolger.37 Die Abwesenheit Putins aus dem politischen System Russland kann und will sich in Russland niemand vorstellen. Das Wort vom „Problem 2008“ ist zur Chiffre für die befürchtete Führungslosigkeit Russlands geworden. Der Präsident, der die russische Geschichte nach den eigenen biographischen Koordinaten ausgerichtet hat und selbst zahlreiche Büsten ziert, gilt als nicht zu ersetzen.

Wenn Putin sich wie im Herbst 2005 im Kloster des Hl. Panteleimonow auf dem Berg Athos zeigt,38 umweht ihn bereits die Aura des Heiligen. Kult und Verehrung verschwimmen vor der historischen Kulisse des Lenin- und Stalinkults zu einem neuen Führerbild. Putin selbst hat tatkräftig daran mitgewirkt. Die Inszenierung der Vergangenheit dient der Stabilisierung der Gegenwart. Russische Geschichtspolitik ist Symbolpolitik und Realpolitik gleichermaßen. Daran werden wir uns gewöhnen müssen. Das sollte auch die westliche Russland-Politik in Rechnung stellen.

PD Dr. phil. habil. RAINER LINDNER, geb. 1966, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Russland/GUS bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

  • 1 Richard Sakwa: Putin. Russias Choice, London 2004, S. 163.
  • 2 Ebd.
  • 3 Otfried Jarren, Ulrich Sarcinelli und Ulrich Saxer (Hrsg.): Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil, Opladen 1998, S. 729 f. Jens Meifert: Bilderwelten. Symbolik und symbolische Politik im Prozeß der politischen Kommunikation, Duisburg 1998; Thomas Meyer: Die Inszenierung des Scheins: Voraussetzungen und Folgen symbolischer Politik, Frankfurt a.M. 1992. Die klassische Studie: Murray Edelman: Politik als Ritual: die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns, Frankfurt a.M. u.a. 20053.
  • 4 Paul Roth: Russland. Neue Staatssymbole aus alter Zeit, Stimmen der Zeit, 2001, S. 186–197.
  • 5 Jean Gottmann: Élémentes de géografie politique, Paris 1955 [Le cours de Droit, Fascicules II], S. 2000.
  • 6 Sergej Matjunin: The new state flags as the iconographic symbols of the post-Soviet space, Geojournal. An international Journal on human geography and environmental sciences, Bd. 4, Jg. 52, 2000, S. 311–313; Sakwa (Anm. 1), S. 165 ff.
  • 7 Martin Daughtry: Russia’s new anthem and the negotiation of national identity, Ethnomusicology, Bd. 1, Jg. 47, 2003, S. 42–68.
  • 8 V novyj vek so stalinskim gimnom, www.polit.ru/fullnews.html/date=2000-12-02. Dazu auch das Schwerpunktheft Kak my vybiraem gimn, flag, gerb, Novoe vremja, 26.11.2000, S. 24–33.
  • 9 Isabelle de Keghel: Die Staatssymbolik des neuen Russland im Wandel. Vom antisowjetischen Impetus zur russländisch-sowjetischen Mischidentität, Bremen 2003, Forschungsstelle Osteuropa: Materialien und Arbeitspapiere, Nr. 53.
  • 10 Roth (Anm. 4), S. 186. Vgl. Wladimir Putin in Itogi: www.ntv.ru/itogi/index.html.
  • 11 Vgl. Detlef Jena, unter Mitarbeit von Rainer Lindner: Die russischen Zaren in Lebensbildern, Graz u.a. 1996, S. 101f.
  • 12 Michail Alekseev: Prazdnik vojny i mošny, Kommersant Vlast, 7.11.2005, S. 30–32.
  • 13 Putin pozdravil nižegorodcev s Dnem narodnogo edinstva, in: vesti.ru, 4.11.2005 sowie Wladimir Putin vozložil cvety k pamjatniku Mininu i Požarskomu, in: vesti.ru, 4.11.2005, beide: www.integrum.ru.
  • 14 Ministerstvo oborony Rossijskoj Federacii (Hrsg.): 200 let Voennomu Vedomstvu Rossii, Moskau 2002, S. 8f. Für diesen Hinweis danke ich meinem Kollegen Hannes Adomeit.
  • 15 Dmitrij Andreev i Gennadij Bordjugov: Protstranstvo pamjati. Velikaja pobeda i vlast’, Moskau 2005.
  • 16 Andreev und Bordjugov (Anm. 15), S. 49.
  • 17 Zitiert nach Sakwa (Anm. 1), S. 166.
  • 18 Ausführliche Bewertung bei Hannes Adomeit: Russische Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter Putin. Neue Akzente oder gewohnte Großmachtnostalgie?, SWP, S. 434, Ebenhausen 2000.
  • 19 Helmut Altrichter: GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas. München 2006.
  • 20 M.M. Gibatdinov: Prepodavanie istorii Tatarskogo naroda i Tatarstana v obšeobrazovatel’noj škole: istorija i sovremennost, Kazan 2003, S. 3f. Diesen Hinweis verdanke ich Dr. Robert Maier, Braunschweig.
  • 21 Vgl. Detlef Jena (Anm. 11), S. 41.
  • 22 Prezident Rossijskoj Federacii Wladimir Putin podpisal Ukaz „O prazdnovanii 400-letija dobrovol’nogo vchoždenija kal’myckogo naroda v sostav Rossijskogo gosudarstva“, http://kalm. ru/news/article.php?lang=ru&item_id=577.
  • 23 Gerhard Simon: Auf der Suche nach der „Idee für Rußland“, Osteuropa 12/1997, S. 1169–1190.
  • 24 Ulrich Schmid: Naši: Die Putin-Jugend. Sowjettradition und politische Konzeptkunst, Osteuropa, Nr. 56/2006, S. 5–19.
  • 25 Klaus Mehnert: Weltrevolution durch Weltgeschichte. Die Geschichtslehre des Stalinismus, Kitzingen-Main o.J.
  • 26 Mehnert (Anm. 25), S. 70.
  • 27 Wladimir Putin: Botschaft an die Föderalversammlung der Russischen Föderation (05/2003), zitiert nach www.kremlin.ru/appears/2003/05/16/1259_type63372_44623.shtml. Eine Analyse der Putin- Reden findet sich bei Artiom Malgin, Jaroslav Skvortsov und Alexandr Tchechevishnikov: Aims, Priori- ties and Tasks: Attempt of a Systematic Analysis of the Presidential Speeches in Russia (2000 – 2005) [XV Economic Forum, Krynica 7.–10.9.2005], Warsaw 2005, hier S. 42, www.forum-ekonomiczne.pl/docs/Analizy_Putin.pdf.
  • 28 Wladimir Putin: Gespräch mit den Finalisten des Wettbewerbs „Mein Haus, meine Stadt, mein Land“ (06/2003), zitiert nach www.kremlin.ru/appears/2003/06/05/2055_type63381_ 46848.shtml; außerdem bereits Rede Wladimir Putins anlässlich einer Sitzung des Ministeriums für Atomenergie der Russischen Föderation (03/2000), zitiert nach www.kremlin.ru/text/ appears/2000/03/28606.shtml.
  • 29 Wladimir Putin: Rede anlässlich der Verleihung des Staatpreises der Russischen Föderation auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik (04/2000), zitiert nach www.kremlin.ru/text/ appears/2000/04/59551.shtml.
  • 30 Wladimir Putin: Rede auf einer Sitzung des Staatsrats (04/2004), zitiert nach www.kremlin. ru/text/appears2/2004/04/28/97302.shtml.
  • 31 Wladimir Putin, www.kremlin.ru/eng/speeches/2005/04/20/1149_type82916_87008.shtml und www.kremlin.ru/text/appears/2005/04/86991.shtml.
  • 32 Wladimir Putin: Rede vor der Föderalversammlung der Russischen Föderation (04/2005), zitiert nach www.kremlin.ru/appears/2005/04/25/1223_type63372type82634_87049.shtml.
  • 33 Vier Sendungen Telemost (Fernsehbrücke) wurden bereits ausgestrahlt (24.12.2001, 19.12.2002, 18.12.2003, 27.09.2005). Zuletzt gingen 1.087.000 Fragen ein; 60 davon wurden von Putin beantwortet.
  • 34Jurij Levada: Ljudi vidjat v Putine to, to chotjat uvidet, Russkaja mysl, Nr. 4310, www.integrum.ru.
  • 35 Kinder schrieben an den Präsidenten Briefe wie eine Schülerin der 3. Klasse: „Guten Tag, lie- ber Wladimir Wladimirowitsch Putin. Vielen Dank dafür, dass Sie in den Krieg fahren, um ihn zu beenden und unsere Soldaten zu unterstützen.“ Russkaja mysl’ ...; Natal’ja Tarenko: V Rossii formiruetsja kul’t linosti Putina, Korrespondent.net, www.integrum.ru.
  • 36 Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin vor dem Deutschen Bundestag am 25. September 2001, www.bundestag.de/geschichte/gastredner/putin/putin_wort.html.
  • 37 Dmitrij Kamyšev, Nikolaj Gul’ko: Gladkij putënok, Kommersant Vlast, 21.11.2005, S. 17–20.
  • 38 Zaistka v svjašennych gorach, Kommersant Vlast, 10.10.2005, S. 48.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 8, August 2006, S. 112‑120

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