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27. Apr. 2018

Putins Achillesferse

„Londongrad“ zog viel russisches Geld an. Damit soll nun Schluss sein

Seit der Vergiftung von Doppelspion Sergei Skripal und seiner Tochter Julia müssen reiche Russen in London um ihre Privilegien fürchten. Die Regierung verschärft die Gesetze. Wie weit die britische Premierministerin Theresa May dabei gehen wird, ist allerdings offen. Denn an der lange florierenden „Geldwaschanlage“ hängen viele Jobs.

160 000 britische Pfund (184 000 Euro) kostet ein Tennismatch mit dem britischen Außenminister Boris Johnson. Nur 30 000 Pfund (34 000 Euro) dagegen ein Dinner mit Gavin Williamson. Den Verteidigungsminister gibt es billiger, er ist erst neu in der Regierung und daher noch nicht so viel wert.

Zu diesem Schluss darf man zumindest kommen, wenn man betrachtet, wie viel Geld für welche Tory-Prominenten die Ehefrau des früheren russischen Vizefinanzministers Wladimir Tschernuchin, Ljubow Tschernuchin, bei einem „Black & White Fundraising Dinner“ der konservativen Partei im Jahr 2017 ausgegeben hat. Allerdings war vom enfant terrible Johnson auch mehr Einsatz gefragt, als er sich mit der Gattin auf grünem Rasen traf. Williamson dagegen musste Tschernuchin nur durch Churchills Kriegsbunker führen.

Die Geldspenden von russischen Neu-Londonern an britische ­Parteien sind seit einigen Wochen ins Zen­trum der Aufmerksamkeit gerückt. Wie viel politischen Einfluss haben diese Russen, die oft mit britischen Pässen ausgestattet sind, auf die Politik des Vereinigten Königreichs? Und: Spricht etwas dagegen?

Bisher hat Großbritannien betuchte „Investoren“ aus aller Welt mit offenen Armen empfangen – auch und gerade aus Russland, sodass man die britische Hauptstadt auch „Londongrad“ nennt. Seit der ehemalige Doppelspion Sergei Skripal und seine Tochter Julia am 4. März 2018 mit dem Nervengas Nowitschok vergiftet wurden, sind die britisch-russischen Beziehungen allerdings in eine tiefe Krise geraten. Die britische Regierung bezichtigt den Kreml, hinter dem Mordversuch zu stecken. Moskau weist den Vorwurf von sich.

Es sind nicht nur die diplomatischen Beziehungen, die unter der hochgiftigen Affäre leiden. Auch die etwa 300 000 Russen in Großbritannien können sich nicht mehr sicher sein, dass sie im Vereinigten Königreich noch so willkommen sind wie früher. In London wohnt ein breites Spektrum an russischen Einwanderern. Es reicht von Ex-Spionen und ehemaligen Kreml-Oligarchen, die vor dem russischen Präsidenten Wladimir Putin geflohen sind, über russische Geschäftsleute und ihre Familien, die nichts mit Politik zu tun haben wollen, bis zu einigen von Putins engsten Vertrauten und Mitarbeitern, die sich in London Zweitwohnsitze leisten.

Anreize für Ausländer

Seit die Londoner City 1986 liberalisiert und zu einem international bedeutenden Finanzzentrum ausgebaut wurde, hat sich die alte britische Hauptstadt an der Themse in eine glitzernde Metropole verwandelt. Als Anreiz für reiche Ausländer, sich hier niederzulassen, gibt es eine Reihe von steuerschonenden Maßnahmen: Man kann in London über Off-Shore-Firmen in den „Crown Territories“ und den „British Overseas Territories“ wie den Jungferninseln nach wie vor relativ unbehelligt Immobilien kaufen. Außerdem gibt es die Möglichkeit, ab einer Million Pfund ein so genanntes Investorvisum nach Großbritannien zu kaufen.

Das könnte sich jetzt ändern. Premierministerin Theresa May will im Zuge der Skripal-Affäre der Gefahr aus Moskau mit einer „Fusion-Doktrin“ die Stirn bieten: Der Plan wird Gegenmaßnahmen für Geheimdienste, Armee, Wirtschaft und Diplomatie umfassen. Dabei werden sich die Briten auch an die eigene Nase fassen müssen. Denn seit Jahren steht der Vorwurf im Raum, dass London der „Geldwäscheautomat des russischen Regimes ist“, wie es Roman Borrisowitsch ausdrückt.

Der Antikorruptionsaktivist zeigt auf einer „Kleptokratie-Tour“ Londoner Nobeladressen mit zwielichtigen Besitzern – das Stadtpalais des russischen Geschäftsmanns Oleg Deripaska auf dem Belgrave Square in Sichtweite der deutschen Botschaft zum Beispiel. Noch darf der Aluminium-Magnat, Chef der an der Londoner Börse gelisteten Holding En+, in seine prachtvolle Stadtvilla kommen, aber wie lange noch?

Nach Amerika darf der Putin-freundliche Oligarch bereits nicht mehr einreisen. Am 6. April hat die US-Regierung den 2017 angenommenen Gesetzesakt „Countering America’s Adversaries through Sanctions Act“ (CAATSA) um sieben Putin-nahe Oligarchen, darunter Deripaska, und 17 hohe russische Beamte erweitert. Neben einem Visa-Bann können die USA das Vermögen der Gelisteten einfrieren. Deripaskas Name steht neben Kirill Shamalovs, Putins Ex-Schwiegersohn.

Deripaska hatte gerade wieder wegen seiner Verbindungen zu Donald Trumps ehemaligem Wahlkampfmanager Paul Manafort Schlagzeilen gemacht. US-Sonderermittler Robert Mueller durchleuchtet Deripaskas finanzielle und politische Verbindung zu Manafort, der unter anderem PR-Kampagnen für den später geflohenen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch entwarf – Ermittlungen, die auch Trump in Bedrängnis bringen könnten.

Die Verbindungen Deripaskas zu hochrangigen britischen Politikern haben den bekannt einsilbigen Russen bereits 2008 ins Gerede gebracht: Er hatte den Tory-Politiker und ­späteren Schatzkanzler George Osborne auf seine Yacht in Korfu eingeladen. Und Osborne hatte die Einladung ­angenommen.

Im Unterschied zum Vereinigten Königreich haben die USA bereits seit 2012 ein Gesetz, auf dessen Grundlage Personen die Einreise verwehrt und deren Besitz beschlagnahmt werden kann. Dieses „Magnitsky-Gesetz“ nahm der Kongress auf Betreiben von William Browder an. Browder, ehemals Amerikaner, heute Brite und einst größter Auslandsinvestor in Russland, musste 2009 miterleben, wie einer seiner Wirtschaftsprüfer im Gefängnis in Moskau zu Tode kam. Unerbittlich betreibt Browder seitdem seine Kampagne „Gerechtigkeit für Sergej Magnitsky“. All jene Russen, die direkt oder indirekt am Tod des Anwalts beteiligt waren, stehen auf dieser Liste.

In Amerika hatte Browder bisher mehr Erfolg als in Europa. Auch mangelte es unter David Cameron und Theresa May an politischem Willen, die seltsamen Morde – der bekannteste war die Vergiftung des ehemaligen FSB-Agenten Alexander Litwinenko durch hochradioaktives Polonium 2006 – und Todesfälle unter Russen in Großbritannien aufzuklären und zu ahnden.

Seit dem Anschlag auf die Skripals sieht Browder eine eindeutige Veränderung. Eine britische Version des „Magnitsky Act“ geht gerade zügig durch Unter- und Oberhaus in Westminster. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass das gesamte Gesetz wie in den USA und in Kanada und in den drei baltischen Staaten angenommen wird“, sagt Browder, und das bedeutet: „Einreiseverbot, Einfrieren von Eigentum und öffentliche Namenslisten“. Zum britischen „Magnitsky Act“, der in das neue Gesetz zu „Sanktionen- und Anti-Geldwäsche-Gesetz“ integriert ist, gehört auch, dass er für neue Fälle offen ist – die Liste kann um Namen von korrupten Beamten und Kriminellen aus aller Welt in neuen Fällen erweitert werden. „Damit haben wir die Achillesferse des Putin-Regimes gefunden“, ist sich Browder sicher.

Viel Geld aus dunklen Kanälen

Nach Recherchen der Deutschen Bank aus dem Jahr 2015 fließen jährlich rund 750 Millionen Dollar aus dunklen russischen Kanälen nach Großbritannien. Mit Blick auf das Verteidigungsministerium im Regierungsviertel Whitehall hat sich nach den Informationen von Korruptionsjäger Roman Borrisowitsch Russlands stellvertretender Premierminister Igor Schuwalow niedergelassen. Offiziell verdient Schuwalow umgerechnet 115 000 Euro im Jahr. Davon kann er sich die teure Wohnung im Whitehall Court nicht leisten.

Will Großbritannien aber den korrupten Sumpf im eigenen Land trockenlegen, bedarf es mehr als eines Magnitsky-Gesetzes. Im Unterhaus kämpfen einige Abgeordnete schon seit Jahren dafür, anonyme Immobilienkäufe zu verbieten, um Geldwäsche und Korruption Herr zu werden. Rund 10 000 Gebäude sind allein im zentralen Londoner Bezirk Westminster in den Händen Unbekannter.

„Wir können das korrupte Vermögen direkt angreifen. Das ist eine der Waffen, zu denen wir bisher nicht gegriffen haben“, meint der Schattenminister für Digitales Liam Byrne. Der Labour-Abgeordnete hatte der Regierung schon Ende 2017 vorgeworfen, beim Thema russischer Einflussnahme „am Steuer eingeschlafen“ zu sein. Er erwartet, dass das britische Parlament innerhalb der nächsten sechs Monate entscheidende Schritte unternimmt.

Beifall von russischer Seite

Diese Idee gefällt auch jenen Russen gut, die nach London gekommen sind, um politische Zuflucht vor Putin zu suchen. Die britische Hauptstadt – das entspricht der gastfreundlichen Tradition aus Zeiten des Empire – dient bis heute eben auch als Auffanglager für Oppositionelle aus aller Welt. London vereint gewissermaßen die besten und die schlechtesten Exilanten auf sich. Manche Neu-Londoner sind auch beides.

„Sanktionen gegen Russland wären kontraproduktiv“, erklärt etwa Michail Chodorkowski, „konkrete Maßnahmen gegen einzelne Personen aber können abschrecken.“ Einst war Chodorkowski selbst der reichste Russe der Welt, der sich mit zweifelhaften Methoden große Reichtümer verschafft hatte. 2003 aber wurde der damalige Chef der Ölfirma Yukos zu Putins Gefangenem – nach einem politisch motivierten Prozess landete Chodorkowski zehn Jahre in russischen Straflagern. Seit 2015 lebt er in London und leitet von hier aus die Bürgerrechtsorganisation „Open Russia“: „Wenn wir Putin treffen wollen“, sagt er, „dann müssen wir den kriminellen Gruppen um ihn herum das Handwerk legen.“

Einer, der in den vergangenen Monaten interessiert zugesehen hat, wie die Realität die Fiktion überholt, ist Misha Glenny, der Autor des Bestsellers „McMafia – die grenzenlose Welt des organisierten Verbrechens“. Sein Buch wurde gerade als Fernsehserie von der BBC verfilmt. In der ­Serie wird ein in England aufgewachsener Banker von der russischen Mafia-­Geschichte seiner Familie eingeholt. „Die Figur des Vaters ist an Boris Beresowski angelehnt“, erzählt Glenny.

Der legendäre Oligarch Beresowski, der Boris Jelzin unterstützte und nach eigenen Angaben Putin ins Amt hievte, flüchtete Ende 2000 nach London. Wie in der „McMafia“-Serie trug er am Ende juristische Querelen mit Landsleuten vor Londoner Gerichten aus. 2011 zerrte er seinen ehemaligen Geschäftspartner Roman Abramowitsch, vor allem als Eigentümer des FC Chelsea bekannt, vor den Kadi. Es ging um fünf Milliarden Euro, um die Abramowitsch Beresowski beim Verkauf der einst gemeinsamen Firma Sibneft betrogen haben sollte. Die beiden hatten Sibneft 1996 für 100 Millionen Dollar übernommen, ­Abramowitsch gewann später die Kontrolle und 2005 verkaufte er 75 Prozent der Firma an den vom Kreml kontrollierten Gazprom-Konzern – für 13 Milliarden Dollar.

Der High Court urteilte am Ende zugunsten Abramowitschs, der in Großbritannien längst zur High Society gehört. In den FC Chelsea hat er etwa eine Milliarde Euro investiert und ihn zu einer Spitzenmannschaft hochgeputscht. Derzeit lässt er einen Palast gleich neben Prinz William in den Kensington Palace Gardens renovieren. Abramowitsch steht aber auch mit Präsident Putin in gutem Einvernehmen; von manchen Experten wird er sogar als möglicher Vermittler zwischen seinen beiden Heimatländern gehandelt.

Auch andere russische Oligarchen erkaufen sich gerne gesellschaftliches Ansehen. Der reichste Brite Leonard Blavatnik etwa, der ursprünglich aus dem ukrainischen Odessa stammt, ziert sich nicht, wenn es um auffällig großzügige Geldspenden geht. Für den Anbau der zeitgenössischen Kunstgalerie Tate Modern legte er 58 Millionen Pfund (65 Millionen Euro) auf den Tisch. Für die Blavatnik School of Government in Oxford gab er gleich 75 Millionen (86 Millionen Euro).

Beresowski dagegen war 2012 endgültig ruiniert. Ein Jahr später fand man ihn erhängt im Anwesen seiner Exfrau. An Selbstmord glaubten die wenigsten, die Polizei ließ den Fall offen. Inzwischen gibt es rund ein Dutzend merkwürdiger Todesfälle unter russischen Geschäftsleuten und ehemaligen Geheimdienstoffizieren im Umfeld Beresowskis, zu denen auch Litwinenko gehörte. Das jüngste Opfer dieser Serie ist Beresowski-Freund Nikolai Gluschkow, der am 12. März erwürgt in seiner Londoner Wohnung aufgefunden wurde.

Keine „innerrussische Sache“

Lange Zeit behandelte die britische Regierung diese Tode als quasi innerrussische Querelen. Die Vergiftung Skripals aber hat alles verändert. Der Anschlag von Salisbury wird von der Regierung als direkte Attacke auf Großbritannien verstanden und als Indiz, dass der Kreml diese Konfrontation mit westlichen Staaten aktiv betreibt. Die wichtigsten europäischen Partner in Berlin und Paris sehen das ebenso.

London muss nun abwägen, ob es sich mehr Transparenz im Finanzsektor leisten will. Und kann. Mit dem Brexit droht dem Vereinigten Königreich kurzfristig finanziell gesehen ein Aderlass, weil der zoll­freie Zugang zum europäischen Binnenmarkt verloren gehen könnte und neue Handelsabkommen mit Drittstaaten Zeit brauchen.

Großbritannien kann sich als Steueroase anbieten, um die Staatskassen zu füllen – aber nicht gleichzeitig den reichen Russen ihre Privilegien abnehmen. Zumal das nicht nur den Geldfluss aus „Putinstan“, wie die Russische Föderation gerne genannt wird, gefährden würde. „McMafia“-Autor Glenny warnt: „Wenn man Putins Günstlingen signalisiert, dass ihr Geld in London nicht mehr sicher ist, werden auch die saudischen Prinzen ihr Vermögen sofort woanders hin verschieben.“

Britische Jobs wackeln

Sollte es eine zweite Staffel von „McMafia“ geben, dann will Glenny nicht nur die ausländischen Syndikate beleuchten, sondern auch die inländischen. In London ist nämlich eine ganze Industrie an Steuerberatern, Anwälten und PR-Agenten entstanden, die als Diener der ausländischen Herren tätig sind. Sollte May gegen zwielichtige Ausländer Sanktionen verhängen, wackeln auch die Jobs ihrer Finanzberater.

Nach dem Brexit drohen ohnehin schon Tausende Jobs im Finanzsektor verloren zu gehen, weil viele Banken und Beratungsfirmen einen Teil ihrer Mitarbeiter auf den Kontinent verschieben werden. Von London aus werden sie nicht mehr zu den gleichen Konditionen in der EU operieren können wie bisher. Ob die ohnehin schwer umstrittene Premierministerin dann noch eine Front aufmachen will und weitere Jobs aufs Spiel setzen kann, wenn sie die Hilfsindustrie für die korrupten Gäste aus aller Welt zusperren würde?

Käme allerdings Labour-Chef Jeremy Corbyn an die Macht, dann wäre es wohl aus mit den Privilegien reicher Ausländer. Denn Corbyn plant eine radikal-linke Regierung, die korrupten Steuerflüchtlingen keine Herberge mehr bieten will. Paradoxerweise sind aber in der politischen Debatte die Konservativen Kreml-kritischer als die Corbynisten. Der Oppositionschef verlangte von May Beweise, dass die russische Führung tatsächlich hinter dem Anschlag von Salisbury steckt. Damit hat er sich auch in der eigenen Partei großer Kritik ausgesetzt: „Zum jetzigen Zeitpunkt ist es immens wichtig, dass wir der Regierung gegenüber loyal sind“, erklärt etwa Ex-Labour-Premier Tony Blair.

Auch in den Medien wurde bisher wenig Kritik an Mays harter neuer Linie gegenüber dem Kreml laut. Selbst der Evening Standard, der dem russischen Oligarchen Alexander Lebedew gehört und dessen Chefredakteur Mays Erzfeind, eben jener Ex-Finanzminister George Osborne ist, verhielt sich loyal. In einem Leitartikel vom 5. April heißt es: „Sag nur das, von dem du weißt, dass es wahr ist. Nimm dir dabei Theresa May zum Vorbild. Und halte den Scheinwerfer auf Moskau.“

Tessa Szyszkowitz ist eine österreichische Journalistin und Autorin, die seit 2010 aus London berichtet. Zuvor arbeitete sie mehrere Jahre in Moskau.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai-Juni 2018, S. 92 - 97

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