Titelthema

20. Juni 2025

„Putin wird nicht warten, bis wir so weit sind“

Die EU ist sich einig: Europa muss seine Verteidigungs
fähigkeit schnell verbessern. Erforderlich sind Investitionen im großem Stil, gemeinsame Beschaffungen und eine Konsolidierung der Industrie. Interview mit EU-Verteidigungskommissar Andrius Kubilius.

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Bild: Porträt von Andrius Kubilius, EU-Verteidigungskommissar
Andrius Kubilius wurde 1956 in Vilnius geboren, entstammt einer Familie von Literaturwissenschaftlern, studierte aber selbst Physik. 1999 bis 2000 und 2008 bis 2012 amtierte der Konservative als Litauens Premierminister, 2019 bis 2024 war er Mitglied des Europaparlaments.
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IP: Herr Kommissar Kubilius, Sie sind der erste EU-Kommissar für Verteidigung und Raumfahrt überhaupt. Gab es Überraschungen für Sie, als Sie diese neue Position antraten?
Andrius Kubilius: Zum EU-Kommissar ernannt zu werden, war eine Überraschung, zumindest für mich. Wenn Sie sich an das Jahresende 2024 erinnern, war die Skepsis groß, ob die EU überhaupt einen Verteidigungskommissar braucht. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, traf diese Entscheidung, und ich glaube, dass sie einige Mitgliedstaaten erst noch überzeugen musste. Ihre Entscheidung beruhte auf ihrem Bewusstsein der Herausforderungen, vor denen die EU in Sicherheits- und Verteidigungsfragen steht.


Was sind die größten Herausforderungen?
Da ist zum einen die Bedrohung durch Russland. Und dann stehen wir zum anderen vor der Herausforderung einer möglicherweise verringerten US-Präsenz auf dem europäischen Kontinent. Das ist der Grund, warum meine Position geschaffen wurde und die EU in Verteidigungsfragen aktiv wird, was bisher nicht der Fall war.


Was sind Ihre Hauptaufgaben?
Unsere Aktivitäten konzentrieren sich klar auf Bereiche, in denen wir sowohl der NATO als auch den EU-Mitgliedstaaten zusätzlichen Nutzen bringen können, um ihre Verteidigung zu stärken. Wir erstellen keine Verteidigungspläne oder Fähigkeitsziele – das machen die NATO und die Mitgliedstaaten. Aber wir prüfen, wie wir die Industriepolitik nutzen können, um unsere Verteidigungsindustrie und die Mitgliedstaaten dabei zu unterstützen, die Verteidigungsbereitschaft so schnell und so gut wie möglich zu erhöhen. Die EU kann einige Instrumente einbringen, die dringend benötigt werden und über die die NATO nicht verfügt. Wir können beispielsweise zusätzliche Mittel bereitstellen oder Sonderregelungen für Verteidigungsprogramme erlassen, die auf alle Mitgliedstaaten zugeschnitten sind, um Fähigkeiten zu entwickeln. Das ist, kurz gesagt, meine Aufgabe.


In ihrem Missionsschreiben an Sie erklärte Präsidentin von der Leyen: „Wir müssen vom ersten Tag an voll durchstarten.“ Welche Fortschritte können Sie nach sechs Monaten verzeichnen?
Wenn man die aktuelle Situation mit der von 2024 vergleicht, kann man mit Fug und Recht behaupten, dass sich die Mentalität der europäischen Bevölkerung ebenso wie die der europäischen Regierungen stark verändert hat. Und wir haben damit begonnen, die Mitgliedstaaten in ihrer Verteidigungsbereitschaft zu unterstützen.

Innerhalb der ersten hundert Tage meiner Amtszeit haben wir das EU-Weißbuch zur Verteidigung erstellt, eine Aufgabe, die in meinem Missionsschreiben vorgegeben wurde. Wir haben das sehr wichtige Programm „ReArm Europe Plan/Readiness 2030“ mit neuen Finanzinstrumenten auf den Weg gebracht. Kurz vor Beginn unseres Interviews erreichte uns die gute Nachricht, dass der Fonds „Security Action for Europe“ (SAFE), der 150 Milliarden Euro an Darlehen für Waffenkäufe vergeben kann, von den EU-Hauptstädten genehmigt wurde. Es geht also schnell, es werden wichtige Entscheidungen getroffen, und die Umsetzung beginnt.

Heute haben wir eine große Veranstaltung ausgerichtet, einen „Umsetzungs­dialog“ mit Vertretern der Verteidigungsindustrie. Wir sind mit mehreren großen Schritten befasst, die vor dem Europäischen Rat im Juni unternommen werden sollen. Es geht um die Vereinfachung von Regulierungen und Produktionsbedingungen. Wir prüfen auch, wie wir ein Bild der aggregierten Nachfrage erstellen können. Wir sind an die Mitgliedstaaten herangetreten, damit sie uns die mit der NATO vereinbarten Fähigkeitsziele mitteilen. Dies wird es uns ermöglichen, uns ein Bild von der Angebotsseite zu machen und mit der Industrie darüber zu sprechen, was sie produzieren kann und wo die Hindernisse liegen – ob bürokratische Hürden oder Probleme in der Lieferkette.

Insgesamt haben wir den Mitgliedstaaten die Möglichkeit gegeben, in den kommenden vier Jahren rund 800 Milliarden Euro zusätzlich für Verteidigung auszugeben. Und wir hoffen, dass wir schon bald konkrete Erfolge sehen werden.


Die meisten europäischen Staaten produzieren und beschaffen ihre Waffen in erster Linie national. Das führt zu mangelnder Interoperabilität und zu Ineffizienz. Welche Schritte unternehmen Sie, um eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern?
Im Weißbuch haben wir unsere Maßnahmen detailliert beschrieben. Ein erster praktischer Schritt, der sehr wirksam sein kann, ist es, Anreize für die Mitgliedstaaten zu schaffen, sich für eine gemeinsame Beschaffung zu entscheiden. Genau das tun wir mit SAFE. Wir wollen dies auch bei der Unterstützung der Ukraine fördern, indem wir gemeinsam militärische Ausrüstung beschaffen, auch von der ukrainischen Rüstungsindustrie.

Dann warten wir, dass sich der Europäische Rat und das Europäische Parlament auf das neue „Programm für die Europäische Verteidigungsindustrie“ einigen. Dieses Programm wird weitere Möglichkeiten nicht nur für gemeinsame Beschaffungen, sondern auch für die gemeinsame Entwicklung von Rüstungssystemen schaffen. Generell wollen wir den Mitgliedstaaten Anreize geben, bei der Verteidigung viel enger zusammenzuarbeiten, auch um Probleme zu überwinden, auf die der Bericht des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi zur Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit der EU hinweist. Derzeit ist unsere Verteidigungsindustrie nicht in der Lage, das volle Potenzial des europäischen Binnenmarktes zu nutzen, auch nicht, wenn es um die Verbesserung ihrer globalen Wettbewerbsfähigkeit geht.


Es geht um eine europäische Produktion in großem Maßstab, weit über das heutige Niveau hinaus. Welche Schritte sind notwendig, um eine solche Skalierung zu ermöglichen?
Zunächst einmal müssen wir uns sehr genau mit den Hindernissen befassen, die heute die Skalierung der Produktion bremsen. Es gibt eine Vielzahl verschiedener Vorschriften, Umweltgenehmigungen und ähnlichem, wo wir wirklich einen ausgewogenen Ansatz brauchen. Ein Vertreter der französischen Rüstungsindustrie hat mir heute gesagt, dass eine Genehmigung für sein Unternehmen manchmal fünf Jahre dauert. Erst dann kann es eine neue Fabrik bauen oder eine bestehende erweitern. Nun, wir können nicht davon ausgehen, dass der russische Präsident Wladimir Putin bereit ist zu warten, bis wir so weit sind, wenn Sie mir eine Portion Ironie erlauben. Wir müssen diese Hindernisse beseitigen.

Zweitens wird der Überblick über die aggregierten Nachfragezahlen auch die Skalierung erleichtern. Er wird der Industrie Anreize zur Konsolidierung geben. Wir sehen bereits Anzeichen dafür, dass dies in Gang kommt.

Die gemeinsame Beschaffung, die ich bereits erwähnt habe, wird ebenfalls hilfreich sein. Die Unternehmen erhalten größere und längerfristige Verträge, was ihnen eine gewisse Sicherheit bietet und die Expansion erleichtert. Auch für die EU-Mitgliedstaaten sind Großaufträge attraktiv, da sie zu niedrigeren Preisen führen.


Die Verteidigung berührt nationale Kernkompetenzen. Erschwert dies die Konsensbildung und Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten?
Wir müssen uns auf jeden Fall an die Vorgaben der EU-Verträge halten. Wahr ist aber auch, dass die europäische Verteidigungsindustrie deswegen so zersplittert ist, weil die EU-Mitgliedstaaten vielleicht etwas zu häufig von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, sich in einigen Bereichen nicht an die Regeln des Binnenmarktes zu halten. Das hatte oft die Folge, dass die Unternehmen nur für ihre jeweiligen nationalen Regierungen da waren. Einige Rüstungsunternehmen begreifen erst jetzt, was es bedeutet, wenn sie ausschließlich im nationalen Rahmen denken: Dann verbauen sie sich die Chance, globale Wettbewerber zu werden. Wir führen jetzt ganz andere Diskussionen, und ich hoffe, dass dies echte Veränderungen mit sich bringt.

„Auf dem europäischen Kontinent ist die kollektive Verteidigung unsere wertvollste Sicherheitsressource“

Diese Fragmentierung der europäischen Industrie und Verteidigungspolitik ist erst in den vergangenen Jahrzehnten entstanden, während wir die sogenannte Friedensdividende genossen und glaubten, die NATO und die Amerikaner würden sich um unsere Verteidigung kümmern. Jetzt ändert sich die Lage, und ich sehe, dass dies zu tieferem Verständnis führt.

Mein Missionsschreiben enthält klare Ziele: Europa muss bereit sein, selbst die Verantwortung für die europäische Verteidigung zu tragen, und wir müssen uns mit einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur befassen. Die Diskussionen darüber werden kommen, und ich hoffe, dass wir dann verstehen, warum wir in der Verteidigung viel mehr Einigkeit innerhalb der EU brauchen, um uns selbst verteidigen zu können. Auf dem europäischen Kontinent ist die kollektive Verteidigung unsere wertvollste Sicherheitsressource. Wir müssen alle bereit sein, uns zu verteidigen; kein einzelnes Land kann seine Verteidigungsfähigkeit allein gewährleisten.


Die EU will im Rahmen der Initiative Readiness 2030/ReArm Europe 800 Milliarden Euro mobilisieren. Dazu gehören, wie Sie sagten, 150 Milliarden Euro an günstigen Krediten aus dem SAFE-Fonds. Glauben Sie, dass dies ausreichen wird, um die europäischen Wiederaufrüstungsziele zu erreichen?
Die Gesamtzahl basiert auf der Annahme, dass die EU-Mitgliedstaaten in den nächsten vier Jahren zusätzlich 1,5 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgeben. Wenn sich der anstehende NATO-Gipfel auf ein Ausgabenziel von – sagen wir mal – 3,5 Prozent des BIP für Kernaufgaben der Verteidigung einigt, würden die europäischen Länder zusammen 600 Milliarden Euro pro Jahr oder 2,4 Billionen Euro über vier Jahre ausgeben. Das ist eine beträchtliche Summe.

Natürlich können wir nicht vorhersagen, in welchem Umfang die Mitgliedstaaten die SAFE-Kredite und die Ausweichklausel nutzen werden, um ihre Verteidigungsausgaben auf 3,5 Prozent zu erhöhen. Als der Europäische Rat das Weißbuch und die vorgeschlagenen finanziellen Maßnahmen zur Kenntnis nahm, war er umsichtig genug, die Europäische Kommission zu bitten, weitere Möglichkeiten zu prüfen. Dazu gehört auch eine wichtige Entscheidung, die die Kommission bereits getroffen hat: Sie erlaubt den Mitgliedstaaten, nicht ausgegebene Mittel aus dem Kohäsionsfonds für Zwecke der Verteidigungsindustrie umzuwidmen. Dies ist jedoch eine freiwillige Entscheidung der einzelnen Regierungen. Wir haben außerdem die Europäische Investitionsbank davon überzeugt, die Definition der sogenannten untersagten Bereiche, in denen sie bisher nicht investiert hat, deutlich einzuschränken. Nun können auch Investitionen in Dual-Use-Güter, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke verwendet werden können, von der EIB mitfinanziert werden.

Es tut sich viel, aber wir wissen, dass wir weit hinter dem zurückliegen, was wir benötigen. Wir müssen unsere Rüstungsproduktion steigern. NATO-Generalsekretär Mark Rutte betont immer wieder: Russland kann heute in drei Monaten mehr produzieren als alle NATO-Mitgliedstaaten zusammen in einem Jahr, die USA eingeschlossen. Wir haben also eine gewaltige Aufgabe vor uns, und ich sage immer, dass ich mir gut vorstellen kann, dass wir noch mehr Geld ausgeben, als wir bisher bereitgestellt haben.


Sind EU-Verteidigungsanleihen oder eine multilaterale Bank für gemeinsame Waffenkäufe eine sinnvolle Option?
Das müssen die Mitgliedstaaten entscheiden. Die Diskussionen laufen. Was die Verteidigungsanleihen betrifft, so dürfen wir nicht vergessen, dass wir ein wirkliches Problem mit der Rückzahlung der Anleihen haben, die die EU während der Coronavirus-Pandemie ausgegeben hat: Es handelt sich um Schulden in Höhe von 750 Milliarden Euro, die teilweise als Zuschüsse an die Mitgliedstaaten ausgezahlt wurden und die bei der Überwindung der schweren Wirtschaftskrise sehr hilfreich waren. Aber jetzt, wo wir über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) der EU, also ihren Haushalt für 2028 bis 2034, diskutieren, müssen wir möglicherweise bis zu 20 Prozent für die Rückzahlung dieser Schulden bereitstellen. Allein vor diesem Hintergrund ist eine höhere gemeinsame Verschuldung ein kompliziertes Thema.


Glauben Sie, dass die europäische Öffentlichkeit diese groß angelegte Aufrüstung, einschließlich der hohen Ausgaben, unterstützt?
Dies hängt stark von der Führung durch die nationalen Regierungen ab. Natürlich sind die Wahrnehmungen von Land zu Land und von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich. Es ist natürlich, dass die EU-Mitgliedstaaten, die näher an Russland und der Ukraine liegen, die Bedrohung durch Moskau stärker wahrnehmen als die weiter entfernten. 2015, als die Mittelmeerländer von der Flüchtlingskrise betroffen waren, haben in meiner Heimat Litauen viele Menschen gesagt: „Das ist nicht unser Problem.“ Doch dann wurden wir zum Ziel von Alexander Lukaschenkos Regime, das Migration zur Waffe machte. Und wir haben verstanden, warum die Solidarität der EU bei der Lösung solcher Probleme so wichtig ist.


Welche Rolle sollte Deutschland bei all dem spielen?
Deutschland geht derzeit mit gutem Beispiel voran, und wir würden uns freuen, wenn alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union diesem Beispiel folgen würden. Die Entscheidungen, hohe Mittel für Verteidigungs- und Infrastrukturinvestitionen bereitzustellen, sind wirklich sehr wichtig. Ich kann der deutschen Regierung nur gratulieren und hoffen, dass sie andere davon überzeugen kann, den Aufbau eigener Verteidigungsfähigkeiten ohne Zögern voranzutreiben.

Das Interview führten Anna Brugger, Henning Hoff und Tim Hofmann.
Aus dem Englischen von Bettina Vestring.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2025, S. 25-29

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