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01. Dez. 2005

Pragmatismus und Parolen

Gefährdet der Nationalismus Chinas friedlichen Aufschwung?

Wenn in China die Bevölkerung mit der Parteiführung eines verbindet, ist es der Nationalismus, der sich aus dem Gefühl speist, in Vergangenheit und Gegenwart vom Ausland gedemütigt worden zu sein. Die Kommunistische Partei versucht die Gratwanderung, durch nationalistische Rhetorik die Bevölkerung an sich zu binden und sich gleichzeitig in internationalen Beziehungen als berechenbarer Partner zu erweisen.

Im Laufe der Auseinandersetzungen um das amerikanische Spionageflugzeug, das 2001 mit einem chinesischen Düsenjäger zusammengeprallt und auf der Insel Hainan vor der Küste Chinas gelandet war, titelte die Washington Post „Neuer Nationalismus befeuert Peking“.1 Eine solche Warnung spiegelt das Gefühl der Beklemmung wider, das der zunehmende chinesische Nationalismus bei manchen Bürgern der Vereinigten Staaten und anderer Länder auslöst. Sie stellen sich die Frage, ob das chinesische „Jahrhundert der Scham und Demütigung“ einen bösartigen Nationalismus hervorgebracht habe, der den Aufschwung Chinas weniger friedlich ablaufen lässt. Anders als manch umsichtige Gelehrte, die die Begrenztheit des chinesischen Nationalismus auszuloten versuchten, sehen diese Leute einen rücksichtslosen Nationalismus am Werk, der von Chinas traditionellem Sinozentrismus sowie von sehr heutigen Bestrebungen nach Status und Macht hervorgerufen werde.

Peter Gries äußert in seinem neuesten Buch zwar Verständnis für die „berechtigten Klagen“ über die Westmächte, zeigt aber auch, dass ein weit verbreiteter Gefühlsnationalismus, der durch „Opfererzählungen“ verstärkt werde, „die chinesische Außenpolitik zu beeinflussen beginnt“.2 Diese Ansicht nimmt den früheren Hinweis Richard Bernsteins und Ross Munros wieder auf, dass „China danach strebe, von nationalistischen Stimmungen, der Sehnsucht nach Erlösung von den Demütigungen der Vergangenheit und dem schlichten Drang nach internationaler Geltung stimuliert, die USA als die dominierende Macht in Asien abzulösen“.3

Es ist in der Tat nicht besonders schwierig, Hinweise zu finden, die diese Warnungen plausibel machen, angefangen bei den zahlreichen gut verkauften antiamerikanischen Boulevardzeitungen, die in den letzten Jahrzehnten erschienen sind, über die Steinwürfe auf die amerikanische Botschaft 1999 – aus Rache für die irrtümliche Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad durch die USA –, bis hin zu den über 20 Millionen chinesischen Unterschriften, die Anfang 2005 im Internet gesammelt wurden, um gegen die Bewerbung Japans um einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu protestieren. Während die chinesische Regierung sich nach Kräften um Prestige, Anerkennung, Ehre und Respekt auf der Weltbühne bemüht, plädieren chinesische Wissenschaftler öffentlich für eine durchsetzungsfähigere und forderndere chinesische Außenpolitik. Im Westen wirkte es auf viele schockierend, als in diesem Frühjahr tausende Demonstranten durch chinesische Großstädte marschierten, Parolen skandierten und Steine, Flaschen und Eier auf die japanischen Konsulate warfen, um gegen die Zulassung japanischer Geschichtslehrbücher, die ihrer Meinung nach die japanischen Kriegsgräuel verharmlosten, sowie gegen die umstrittenen Besuche des Yasukuni-Schreins (in dem japanische Kriegsgefallene geehrt werden) durch den japanischen Premierminister Junichiro Koizumi zu protestieren.

Instrumentalisierung des Nationalismus

Der chinesische Nationalismus ist jedoch ein wesentlich komplexeres Phänomen, als es in den emotionsgeladenen Protestparolen zum Ausdruck kommt. Als Instrument des kommunistischen Staates, um in einer Zeit der schnellen und turbulenten Transformation einer kommunistischen in eine postkommunistische Gesellschaft den Rückhalt der Bevölkerung zu sichern, hat der zunehmende Nationalismus die chinesische Regierung dennoch nicht von vernünftigem außenpolitischen Handeln abgehalten. Da die chinesische Führungsspitze Frieden und Entwicklung zu ihren Hauptzielen erklärt hat und wirtschaftlichen Wohlstand sowohl als Weg zum Machterhalt der Kommunistischen Partei als auch als Grundlage für die zunehmenden nationalen Bestrebungen Chinas betrachtet, kann sie es nicht zulassen, dass nationalistische Aufwallungen das übergeordnete Ziel der wirtschaftlichen Modernisierung gefährden, auf der ihre Legitimation letztendlich beruht. Sie versucht, Konfrontationen mit den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Mächten, die den Schlüssels zu Chinas Modernisierung in der Hand halten, aus dem Weg zu gehen, d.h. es liegt bestimmt nicht in ihrem Interesse, sich die chinesische Außenpolitik von der nationalistischen Rhetorik der Straße diktieren zu lassen.

In der Tat hat der kommunistische Staat den Nationalismus als Kompensation bzw. fast schon als Ersatz für die kommunistische Ideologie ausgeschlachtet, die in der Nach-Mao-Ära an Bedeutung verloren hatte. Nach dem Glaubwürdigkeitsverlust der kommunistischen Ideologie wandten sich etliche chinesische Intellektuelle westlichen liberalen Ideen zu und forderten eine Demokratie nach westlichem Vorbild, was im Frühjahr 1989 zu den riesigen Demonstrationen auf dem Tiananmenplatz führte. Die Legitimation des kommunistischen Regimes wiederherzustellen und den Rückhalt in weiten Teilen der Bevölkerung zurückzugewinnen, erwies sich nach diesen Ereignissen als eine der schwierigsten Aufgaben der Parteiführung.

Zu diesem Zweck wurde der Nationalismus instrumentalisiert. Deng Xiaoping und seine Nachfolger Jiang Zemin und Hu Jintao schwenkten das Banner des Nationalismus, der sich ihnen als das immer noch zuverlässigste Mittel darstellte, die Loyalität des chinesischen Volkes zu gewinnen – und der überdies der einzige Wert war, den das Regime und seine Kritiker miteinander teilten. Pragmatische Parteiführer waren eifrig darum bemüht, sich als Verteidiger von Chinas Nationalstolz und -interessen darzustellen. Der Kampf gegen westliche Sanktionen und für Chinas Beitritt zur WTO, die Verhinderung der Unabhängigkeit Taiwans und der Zuschlag für die Olympischen Spiele 2008 in Peking bestärkten die Nationalisten in ihrem Gefühl, im Recht zu sein.

Um größtmöglichen Nutzen aus dem Nationalismus zu ziehen, initiierte die kommunistische Regierung in den neunziger Jahren eine umfassende Propagandakampagne für patriotische Erziehung. In dieser Kampagne wurde der Nationalismus nicht beim Namen genannt. Man sprach stattdessen von „Patriotismus“, um die Loyalität einer Bevölkerung zu gewinnen, die ansonsten allerlei Grund zur Unzufriedenheit hatte. Der Kern der Kampagne für patriotische Erziehung hieß „guoqing jiaoyu“ (Aufklärung über nationale Eigenarten), womit unzweideutig gesagt werden sollte, dass Chinas nationale Besonderheiten einzigartig und für eine liberale Demokratie nach westlichem Vorbild nicht geschaffen seien. Stattdessen solle das derzeitige Ein-Parteien-System bestehen bleiben, um die politische Stabilität und damit die Voraussetzungen für rasche wirtschaftliche Entwicklung nicht zu gefährden. Die Kampagne erneuerte damit die Legitimität des kommunistischen Regimes auf der Basis politischer Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwungs.

Indem er das chinesische Nationalbewusstsein stärkt und frühere Demütigungen wie gegenwärtige Schwächen in eine treibende Kraft der Modernisierung Chinas umwandelt, erweist sich der Nationalismus als effektives Instrument, um die Legitimität des kommunistischen Staates zu erhöhen; besonders erfolgreich lässt sich die nationalistische Karte bei Schwierigkeiten mit feindlich gesinnten Ländern ausspielen. Wie Liu Ji, ein ehemaliger hoher Beamter, es ausdrückte, wachse die Solidarität unter den Chinesen, sobald sie sich von außen bedroht fühlten, und der Nationalismus sei dann ein nützliches Werkzeug für das Regime, um seine Führungsrolle zu rechtfertigen.4

Äußere Bedrohung ist eine Quelle des chinesischen Nationalismus, weil das Gefühl, in der Vergangenheit von ausländischen Mächten ungerecht behandelt worden zu sein, tief verwurzelt ist und der „qiangguomeng“ (der Traum von einem starken China) in allen chinesischen Gesellschaftsschichten geteilt wird. Die politische Elite Chinas begann moderne nationalistische Lehren erst zu adaptieren, nachdem der Opium-Krieg gegen britische Truppen 1840–1842 mit einer katastrophalen Niederlage Chinas geendet hatte, was schließlich den Zerfall des chinesischen Reiches und den Verlust nationaler Hoheitsgewalt an imperialistische Mächte zur Folge hatte. Seither ist das nationale Bestreben zur Wiederherstellung Chinas, um die imperialistische Demütigung ungeschehen zu machen, ein immer wiederkehrendes Thema der chinesischen Politik. Wer immer China regieren wollte, musste ein Programm zur nationalen Rettung vorlegen und umsetzen. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts einte fast alle mächtigen politischen Führer Chinas, von Sun Yatsen und Chiang Kai-shek über Mao Zedong, Deng Xiaoping und Jiang Zemin bis Hu Jintao, die tiefe Verbitterung über Chinas Demütigungen und die Entschlossenheit, Chinas rechtmäßigen Platz in der Welt der Nationalstaaten wiederzuerlangen.

Ethnischer, liberaler und Staatsnationalismus

Die chinesischen Parteiführer wetteiferten miteinander um das beste nationalistische Programm zum Aufbau eines Nationalstaats nach ihren jeweiligen Vorstellungen. Mindestens drei verschiedene Strömungen des Nationalismus traten im modernen China auf. Eine davon ist der ethnische Nationalismus, der die Nation als politische Form einer bestimmten ethnischen Gruppe betrachtet und häufig zu Bestrebungen führt, einen ethnischen Nationalstaat zu errichten. Bei der zweiten Strömung handelt es sich um den liberalen Nationalismus, der die Nation als einen Verband von Bürgern definiert, die nicht nur die Pflicht haben, ihren Staat zu verteidigen, sondern denen auch individuelle (Mitbestimmungs-)Rechte zukommen. Die dritte Strömung ist die des Staatsnationalismus, der die Nation als territorial-politische Einheit definiert. Ein solcher Staat spricht im Namen der Nation und verlangt von den Bürgern, ihre individuellen Interessen denen des Staates unterzuordnen.

Der chinesische Nationalismus begann als ethnische Befreiungsbewegung, angeführt von der Han-Mehrheit, zum Sturz der Manchu-Minderheit. Seit 1911, nach dem Fall der Qing-Dynastie, definierten sowohl die Kuomintang als auch das spätere kommunistische Regime die chinesische Nation als multiethnisches politisches Gemeinwesen, in dem allein der Staatsnationalismus gebilligt wurde. Ethnischer Nationalismus überwinterte bloß bei den ethnischen Minderheiten an Chinas Landesgrenzen, wie den Tibetern und den Mongolen, denen das Recht auf einen eigenständigen Staat abgesprochen wird. Diese stellen eine ernsthafte Bedrohung für die Einheit des multiethnischen chinesischen Staates dar.

Der liberale Nationalismus war Anfang des 20. Jahrhunderts übernommen worden, um China durch politische und soziale Reformen zu erneuern. Liberale Nationalisten identifizierten sich mit dem chinesischen Staat als Gegenpol zum Imperialismus und drängten auf politische Partizipation, um den autoritären Staat aufzuweichen. Nach der Gründung der Volksrepublik (1949) nutzten etliche liberale Nationalisten die Hundert-Blumen-Kampagne von 1957, um das Machtmonopol der KPCh zu kritisieren. Viele von ihnen fielen grausamen „Säuberungen“ zum Opfer. Die in den Jahren nach Maos Tod erneut in Erscheinung getretenen liberalen Nationalisten forderten die Übernahme liberal-demokratischer Ideale als die beste Option, Chinas nationale Erneuerung auf den Weg zu bringen. Gleichzeitig hatten sie die Westmächte (insbesondere die USA und Japan) im Verdacht, sich gegen China zu verschwören, um ihm den Großmachtstatus streitig zu machen.

Liberaler Nationalismus war es auch, der im vergangenen April die jungen antijapanischen Demonstranten auf die Straßen trieb. Die liberalen Nationalisten verlangten von der Regierung die Einhaltung des Versprechens, die nationalen Sicherheitsinteressen Chinas zu verteidigen, und forderten gleichzeitig ein Mitspracherecht der Bevölkerung bei Regierungsmaßnahmen im Allgemeinen und bei der Ausrichtung der Außenpolitik im Besonderen – ein Gebiet, das bislang Monopol des Staates war. Sie warfen dem Regime vor, es habe in den vergangenen Jahren zu sehr mit Japan geflirtet und sei im Umgang mit den USA zu nachgiebig. Das Regime war ihres Erachtens weder selbstsicher noch kompetent genug, um die lebenswichtigen nationalen Interessen Chinas zu vertreten.

Nativismus, Antitraditionalismus und Pragmatismus

In seinem wachsenden Selbstbewusstsein entwickelt der liberale Nationalismus Ähnlichkeiten mit den außenpolitischen Konzepten des Nativismus früherer Zeiten. In der Vergangenheit löste Nationalismus stets Fremdenfeindlichkeit aus. Gleichzeitig inspirierte er Generationen chinesischer Intellektueller, sich dem Imperialismus zu widersetzen und Modernisierungskonzepte zu entwickeln, die dem Westen nacheiferten. Chinesische Nationalisten waren stets in der Frage entzweit, auf welche Weise China am besten wiederbelebt werden könne, und entwickelten daher mindestens drei verschiedene nationalistische Perspektiven: Nativismus, Antitraditionalismus und Pragmatismus. Diese drei Perspektiven beruhen auf unterschiedlichen Hypothesen über die Gründe für Chinas nationale Schwäche und verfechten eigenständige Ansätze zur Wiederbelebung Chinas.

Der Nativismus hält den Einfluss des Imperialismus auf das chinesische Selbstbewusstsein und die Zerstörung althergebrachter chinesischer Tugenden für die Wurzeln der chinesischen Schwäche und fordert die Rückkehr zur chinesischen Tradition und Eigenständigkeit. Häufig geht er mit aggressiver Fremdenfeindlichkeit einher und reagiert überempfindlich auf vermeintliche Kränkungen durch Fremde.

Der Antitraditionalismus betrachtet im Gegensatz dazu die chinesische Tradition als Quelle der Schwäche, lehnt diese Tradition vollständig ab und fordert die uneingeschränkte Übernahme ausländischer Kultur, Wirtschaftsweise und politischer Entwicklung. Er tritt für die Anpassung an ein „fortschrittliches“ bzw. „modernes“ internationales System ein.

Der pragmatische Nationalismus schlägt einen Mittelweg ein. Er erkennt die ausgebliebene Modernisierung Chinas als den Grund dafür an, dass China überhaupt zu einer so leichten Beute des westlichen Imperialismus werden konnte, und befürwortet daher alles, was die Modernisierung Chinas und die Anpassung an eine sich verändernde Welt voranbringt. Der pragmatische Nationalismus ist eine von nationalen Interessen motivierte Lehre, eine agnostische Ideologie, die sowohl mit dem Marxismus als auch mit dem Liberalismus nichts bzw. nur sehr wenig gemein hat.

Seit dem Beginn der marktorientierten Wirtschaftsreformen in den 1980er Jahren überwiegt in China der pragmatische Nationalismus, wenngleich Nativismus und Antitraditionalismus fortwährend im Hintergrund lauern. Der pragmatische Nationalismus reagiert in internationalen Angelegenheiten eher, als dass er agiert, insofern pragmatische Parteiführer immer dann an den Nationalismus appellieren, wenn empfundener Druck von außen die Interessen Chinas zu gefährden, untergraben oder zerstören droht. Die pragmatischen Parteifunktionäre wissen natürlich, dass der Nationalismus ein zweischneidiges Schwert ist, da er einerseits von der KPCh zur Untermauerung ihres Führungsanspruchs benutzt wird, andererseits der chinesischen Bevölkerung (insbesondere der liberal-nationalistischen Elite) als Richtschnur für die Beurteilung eben dieser Regierung dient. Eine Führungsspitze, die ihre nationalistischen Versprechen nicht hielte, machte sich dadurch sehr angreifbar gegenüber nationalistischer Kritik. Der Nationalismus könnte sich daher als Büchse der Pandora erweisen. Ohne irgendwelche Restriktionen könnte er ungewollte Kräfte auslösen und zu unangenehmen Konsequenzen führen.

Die positiven und negativen Gesichtspunkte behutsam abwägend, versuchten die pragmatischen Parteiführer zu verhindern, dass die nationalistische Stimmung der Chinesen in Kritik an der chinesischen Außenpolitik umschlägt. Obwohl populäre Nationalisten die Regierung zu einem harten Kurs gegen die angeblichen Provokationen von amerikanischer und japanischer Seite aufriefen, vergaßen die pragmatischen Parteiführer nicht, dass der wirtschaftliche Erfolg Chinas stark von seiner Integration in die restliche Welt und vor allem von seiner Zusammenarbeit mit den hochentwickelten westlichen Ländern abhängt. Ausgehend von der Erkenntnis, dass der Niedergang der Sowjetunion im Laufe des Kalten Krieges vor allem auf ihren Konfrontationskurs gegen die USA im Kampf um die Position der Weltsupermacht zurückzuführen war (was die wirtschaftlichen und militärischen Kapazitäten dieses Landes völlig erschöpfte), versuchten die Strategen der pragmatischen Anpassung Chinas nationale Interessen durch den Ausbau der Beziehungen mit den Weltmächten zu verteidigen. Folglich betonten sie die Prinzipien der friedlichen Koexistenz, der friedlichen Ausrichtung, des friedlichen Aufstiegs und der friedlichen Entwicklung, während China zur Supermacht aufstieg.

Auf der Basis dieser Prinzipien nannten die pragmatischen Parteiführer den Nationalismus eine Kraft, die „in Bahnen geleitet“ werden müsse. Das konnte zum Beispiel heißen, antiamerikanische und antijapanische Studentendemonstrationen einzuschränken oder ganz zu verbieten. Denn tatsächlich waren die Funktionäre in Peking von den antijapanischen Demonstrationen Anfang 2005 äußerst beunruhigt, da ihnen klar war, dass solche Leidenschaften ein Spiel mit dem Feuer waren, das nicht nur zu Konfrontationen mit dem Ausland führen, sondern sich auch gegen die eigene Regierung richten könnte. Diesen Drahtseilakt beendete Peking mit dem Verbot der Demonstrationen Ende April. Mehrere Organisatoren von Internetpetitionen und Protestaktionen wurden verhaftet. Während der heiklen Feierlichkeiten zum 4. Mai war die Polizei in sämtlichen Großstädten des Landes in ständiger Einsatzbereitschaft, um einem erneuten Aufflammen antijapanischer Proteste vorzubeugen.

Das erinnert an die anfangs erwähnte Kollision des amerikanischen Spionageflugzeugs mit dem chinesischen Düsenjäger über dem Südchinesischen Meer im April 2001. In Anbetracht der zunehmend nationalistischen Stimmung gab sich Peking damals offiziell besonders kompromisslos, indem es ankündigte, die Flugzeugcrew erst nach einer förmlichen Entschuldigung für den Vorfall durch die amerikanische Regierung freizulassen. Als Außenminister Colin Powell die Worte „very sorry“ im Zusammenhang mit dem verstorbenen chinesischen Piloten und dem zerstörten Flugzeug fallen ließ, akzeptierte Peking dieses „very sorry“ als Äquivalent einer Entschuldigung und ließ die Crew am nächsten Tag frei. Die chinesischen Medien wurden angewiesen, Powells Ausdruck „very sorry“ mit „baoqian“ zu übersetzen – ein Wort, das sich zwar in einem Buchstaben von dem chinesischen Ausdruck für „Entschuldigung“ unterscheidet, aber beinahe die gleiche Bedeutung hat wie das ursprünglich geforderte „daoqian“. Die chinesische Führungsspitze interpretierte dieses „very sorry“ als gültige Abbitte und die amerikanischen Äußerungen des „Bedauerns“ und der „Entschuldigung“, die sich in erster Linie auf den Verlust des Piloten und des Flugzeugs bezogen, als Schuldeingeständnis für den gesamten Vorfall. Zwar behielt die chinesische Führung ihre unnachgiebige Rhetorik für innenpolitische Zwecke bei, tat aber offensichtlich alles von ihrer Seite Mögliche, um während dieser Krise eine Konfrontation mit den USA zu vermeiden und die gute Zusammenarbeit nicht zu gefährden.

Diese scheinbar widersprüchliche Strategie, kompromisslose Reden zu schwingen und gleichzeitig in berechenbarer Art und Weise zu handeln, zeigt, dass der anwachsende Nationalismus die chinesische Außenpolitik nicht außergewöhnlich unkooperativ oder irrational hat werden lassen; das bedeutet natürlich nicht, dass Chinas Bereitschaft zur Zusammenarbeit unbegrenzt ist. Obgleich China ein autoritärer kommunistischer Staat geblieben ist, wird es doch nicht mehr von charismatischen Führern wie Mao Zedong oder Deng Xiaoping regiert, die die Autorität besaßen, Streitfragen innerhalb der Führungsschicht zu schlichten oder die Richtung des Landes persönlich festzulegen. Heute muss die chinesische Spitze auf unterschiedlichste Wählerschichten eingehen und wird von der anwachsenden nationalistischen Gesinnung in der chinesischen Gesellschaft zunehmend in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Durch die Reformen und Liberalisierungen wurden die Politiker abhängig von der öffentlichen Meinung. Der durchschnittliche Chinese verfügt heute durch Telefon und Internet über zahlreiche Informationsquellen und findet Mittel und Wege, seine Meinung zu sagen, auch wenn es eine nationalistische ist. Es bleibt also fraglich, ob die Demokratisierung den Aufstieg Chinas wirklich friedlicher macht.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2005, S. 24 - 30.

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