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01. Juli 2013

Pragmatischer Staatskapitalismus

Das brasilianische Modell war bislang erfolgreich. Aber ist es zukunftsfähig?

Seit zehn Jahren versteht es Brasilien geschickt, orthodoxe und dirigistische Wirtschaftspolitik zu kombinieren: Hochzinspolitik und Haushaltsüberschuss hier, Sozialtransfers, höhere Mindestlöhne, die gezielte Förderung nationaler Unternehmen und der Verbleib von Schlüsselunternehmen und -banken im Staatsbesitz dort. Stößt das Modell jetzt an Grenzen?

Noch bevor Luiz Inácio Lula da Silva zum Präsidenten gewählt wurde, hatte sich die Finanzelite gegen ihn entschieden. Als Mitte 2002 deutlich wurde, dass der linke Metallgewerkschafter die Wahlen gewinnen könnte, stiegen die Risikoaufschläge für brasilianische Staatsanleihen, es kam zu einer massiven Kapitalflucht und die Landeswährung Real verlor an Wert. Bei den Banken ließ man sich allerlei einfallen, um das Risiko des Arbeiterpräsidenten zu kalkulieren. Goldman Sachs wartete mit einem „Lulameter“ auf, das mit Hilfe der Preise von Devisentermingeschäften und Optionen das Wahlergebnis vorauszusagen versuchte. Die Konkurrenz von Morgan Stanley warnte, das Risiko in Brasilien sei „größer als in Argentinien“, wo sich im Jahr zuvor der Staat unter chaotischen Zuständen zahlungsunfähig hatte erklären müssen. „Wird Brasilien zum Staatsbankrott gezwungen sein, wenn die Opposition die Präsidentschaftswahlen gewinnt?“, fragte der Economist.

Nach seiner Wahl sprach Lula seinen berühmten Satz: „Die Hoffnung hat die Angst besiegt.“ Elf Jahre später ist Brasilien ein Vorbild für andere Länder geworden, nicht zuletzt im Kampf gegen den Hunger. 40 Millionen Brasilianer – fast so viele wie die Bevölkerung Spaniens – sind nach Angaben der Regierung aus der Armut in die Mittelklasse aufgestiegen, mit Zugang zu „Gesundheitsversorgung, Bildung, Kredit und formellen Anstellungsverhältnissen“, wie Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff schreibt. Der Economist spricht inzwischen vom „brasilianischen Modell“.

Wodurch zeichnet sich dieses Modell aus? Paradoxerweise ist die brasilianische Wirtschaftspolitik beides: orthodox und dirigistisch – und die Verantwortlichen versuchen stets, einen Ausgleich zwischen beiden Strategien zu finden. In der Geld- und Fiskalpolitik kommt eine orthodox-liberale Politik zum Einsatz, etwa durch die Hochzinspolitik der Zentralbank oder durch das Dogma des Haushaltsüberschusses. In der Industrie- und Sozialpolitik ist jedoch ein stark regulierender Staat zu erkennen. Durch Sozialprogramme und die Erhöhung des Mindestlohns wurde die Nachfrageseite in der Volkswirtschaft gestärkt. Hier ist eine deutliche Abkehr vom „Washington Consensus“ zu erkennen. Nach der ersten Amtszeit von Lula wurden die Privatisierungsprogramme verlangsamt und die Nationale Entwicklungsbank (BNDES) ebenso in staatlicher Hand belassen wie strategisch wichtige Firmen, zum Beispiel Petrobras. Die zweite Regierungszeit von Lula war stärker an entwicklungspolitischen Fragen orientiert, dem Staat wurde eine Steuerfunktion zurückgegeben, die er spätestens mit der Hyperinflation von 1994 verloren hatte. Dilma Rousseff schrieb 2011 hierzu: „Die Selbstregulierung der Märkte ist kein Ersatz für Regulierung seitens der Regierung … Regierungen sollten den Märkten erlauben, was sie am besten können: Innovationen vorantreiben und die Produktivität stärken. Aber Regierungen sollten auch die Instabilität und Einkommensungleichheit vermeiden, die das Ergebnis unregulierter Märkte sind.“ 

Die Wahl Lulas vollzog sich mit einem politischen Wandel auf dem gesamten Kontinent. Nach der neoliberalen Dekade der neunziger Jahre, die in vielen Ländern mit schweren Finanzkrisen (etwa Argentinien 2001/02) zu Ende ging, konnten zu Beginn des neuen Jahrtausends in vielen Ländern linke Parteien oder Wahlbündnisse die Regierungsgewalt erobern (darunter Argentinien, Uruguay, Ecuador, Bolivien, Venezuela, Paraguay). Die größten Hoffnungen auf einen Neuanfang weckte der Wahlsieg von Lula da Silva. Vielleicht auch, weil stimmt, was der frühere US-Präsident Richard Nixon einst befand: „Wohin Brasilien sich wendet, dorthin geht der ganze Kontinent.“ Lulas Wahlsieg war daher, um den Marburger Soziologen und Lateinamerika-Wissenschaftler Dieter Boris zu zitieren, „Ausdruck von sich verändernden Hegemonialverhältnissen“. Die Reaktion fiel in den jeweiligen Nachbarländern unterschiedlich aus, da sich die Ausgangsbedingungen stark unterschieden. In Argentinien wurde ein Siebziger-Jahre-Peronismus mit sehr starken staatskapitalistischen Elementen wiederbelebt. In Venezuela entstand ein Umverteilungsmodell, das die hohen Erdöleinnahmen sozialisiert. Insofern hat das brasilianische Modell wenig Strahlkraft. Andererseits hätten die anderen Linksregierungen in Lateinamerika deutlich weniger Spielraum, wenn in Brasilien die Marktradikalen oder die Entwicklungskonservativen die Kontrolle übernähmen. So hat sich auch die politische Kooperation auf dem Kontinent vertieft, deutlich zu erkennen an der Ablehnung der einst von den USA vorangetriebenen panamerikanischen Freihandelszone.

Aktive Rolle des Staates

Mit Lula verband sich die Hoffnung auf eine politische Wende und stärkeren sozialen Ausgleich. Der Einfluss des Staates auf die brasilianische Wirtschaft ist bis heute vergleichsweise groß. Das Land ist wesentlich stärker industrialisiert als das Nachbarland Argentinien, die Wirtschaftspolitik ist traditionell protektionistischer. Brasilien weist sehr komplette Industriestrukturen auf und kann von den Erträgen aus dem großen Binnenhandel profitieren. Der Staat greift regelmäßig mit Förderprogrammen in die Wirtschaft ein. Das Modell der importsub­stituierenden Industrialisierung war recht erfolgreich. Im Jahr 1990 war Brasilien die am stärksten geschützte Wirtschaft der Region. Erst unter Präsident Fernando Collor de Melho wurde damit begonnen, auf eine orthodoxe Sparpolitik und Weltmarktöffnung einzuschwenken. Diese Öffnungspolitik wurde allerdings ergänzt durch eine weiterhin aktive Rolle des Staates in der Wirtschaft. Im Gegensatz zu Argentinien behielt Brasilien nach der Währungsreform einen relativ flexiblen Wechselkurs zum Dollar,1 ehe das Land 1998 im Zuge einer schweren Finanzkrise seine Währung abwerten musste. 

Als Beispiel für den strategischen Einfluss des Staates kann der Flugzeugbauer Embraer dienen. Die staatlichen Hersteller Fábrica Militar de Aviónes aus Argentinien und Embraer aus Brasilien hatten ein Kooperationsabkommen, das allerdings schon seit Beginn der neunziger Jahre vom damaligen argentinischen Präsidenten Carlos Menem nicht mehr finanziert wurde. Dies hatte zur Folge, dass sich die Fábrica Militar de Aviones aus dem Projekt zurückziehen musste und schließlich an Lockheed Martin verkauft wurde. Im ehemaligen Hauptsitz wurden lange nur noch Flugzeuge gewartet, inzwischen ist das Unternehmen wieder in staatlicher Hand. Embraer hingegen wurde von der brasilianischen Regierung gefördert und ist inzwischen einer der Weltmarktführer für Kurzstreckenjets und der viertgrößte Flugzeughersteller der Welt. Embraer ist heute privatisiert, der Staat hält aber noch eine „goldene Aktie“. Das Unternehmen hatte eine Marktlücke bei mittelgroßen Jets entdeckt und in neue Geschäftsmodelle investiert, was Grundlage des Erfolgs der Firma wurde. Durch die Strategie des „reverse outsourcing“ ist es Embraer gelungen, die Arbeit mit hohem Wertschöpfungsanteil wie Design und Montage von Flugzeugen in eigener Regie zu erledigen und komplizierte Teile von Konzernen wie General Electric herstellen zu lassen.

Zwar baut Brasilien Flugzeuge – doch die Wirtschaft hängt sehr stark vom Rohstoffexport ab. Erze sind laut Regierungsangaben das größte Exportprodukt mit einem Wert von 44,2 Milliarden Dollar im Jahr 2011, gefolgt von Erdöl und Treibstoffen in Höhe von 31 Milliarden Dollar. Das viertwichtigste Exportprodukt ist Soja (Sojabohnen und Öle) mit einem Wert von 24 Milliarden Dollar. Hohe Preise für Rohstoffe heizten in den vergangenen zehn Jahren die Wirtschaft an und bescherten Konzernen wie der mehrheitlich in staatlichem Besitz befindlichen Petro­bras oder der börsennotierten Vale hohe Gewinne. Der Rohstoffboom trieb das Wachstum 2010 auf 7,5 Prozent. Es ist allerdings nicht das erste Mal, dass Brasilien mit hohen Wachstumszahlen von sich reden macht. Zwischen den dreißiger und den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts gelang Brasilien bereits ein großer Entwicklungssprung mit Wachstumsraten von gelegentlich mehr als 10 Prozent. Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre verzeichnete das Land erneut ein starkes Wachstum, doch es folgte, wie für viele lateinamerikanische Staaten, die verlorene Dekade der Schuldenkrise, an die sich das Jahrzehnt der marktradikalen Reformen der neunziger Jahre anschloss.

Ewiges „Land der Zukunft“?

Immer wenn es in Brasilien aufwärts geht, wird Stefan Zweigs Diktum von Brasilien als Land der Zukunft bemüht: „Europa hat unermesslich mehr Tradition und weniger Zukunft, Brasilien weniger Vergangenheit und mehr Zukunft!“ Auch Joe Leahy, der Korrespondent der Financial Times in Brasilien, hat diese Geschichte schon oft gehört. Er schreibt: „Brasilien prosperiert bei jedem Rohstoffboom, und Investoren glauben dann, dass die alte Geschichte vom ‚Land der Zukunft‘ endlich wahr wird.“ Bislang folgte auf derartigen Optimismus oft die Krise. 

Doch diesmal sind es nicht nur Rohstoffe, die Brasiliens Wirtschaft antreiben, wie die Zusammensetzung des Bruttoinlandsprodukts zeigt (siehe Grafik). Brasilien beheimatet einige der größten Unternehmen der Welt. Vale ist der weltweit größte Produzent von Eisenerz. AB InBev ist der größte Getränkehersteller Lateinamerikas, Marcopolo ein großer Produzent von Fahrgestellen für Reisebusse. Und im September 2010 hat Petrobras 67 Milliarden Dollar an Aktienkapital eingesammelt, die größte Aktienemission überhaupt. Brasilien ist darüber hinaus Marktführer bei erneuerbaren Treibstoffen, was Investitionen von Shell und BP anzieht. Die meisten Autos fahren mit einer Mischung aus Ethanol und Benzin. Möglich wurde das durch einen Fahrzeugmotor, der im Land entwickelt wurde.

Hinter dem Aufschwung der vergangenen Jahre steht die Strategie, mit der die staatliche Entwicklungsbank BNDES erfolgreiche Unternehmen fördert. Dass der Staat diejenigen Firmen aussucht, die er für förderungswürdig hält und diesen Prozess nicht dem Markt überlässt, ist nicht unumstritten. Zwar gelten Unternehmen, die subventionierte Kredite erhalten, in der Regel als „gute Performer“. Allerdings haben die subventionierten Kredite nicht notwendigerweise zur Folge, dass mehr investiert wird, wie jüngst eine Studie zeigte.2 Aber die BNDES-Kredite senken die Finanzierungskosten der Unternehmen, die sie erhalten, erheblich.

Schlüsselrolle der Entwicklungsbank

BNDES wurde 1952 gegründet und ist die größte Entwicklungsbank der Welt, sie fördert die Finanzierung inländischer Unternehmen und Projekte. Trotz der Privatisierungswelle der neunziger Jahre blieb BNDES eine wichtige Quelle für Kapital der nationalen Unternehmen. 2010 hat sie Kredite im Wert von 101 Milliarden Dollar vergeben – drei Mal mehr als die Weltbank und 20 Prozent mehr als die chinesische Entwicklungsbank in jenem Jahr verteilt haben. Im Jahr 2010 machten die von BNDES vergebenen Kredite 21 Prozent aller Kredite an den privaten Sektor aus. BNDES darf nur brasilianische Unternehmen fördern. Sie gibt nicht nur Kredite, sondern verfügt mit BNDESPAR über eine eigene Investmenttochter, die als Minderheitenaktionär bei Unternehmen einsteigt. 

Die Förderpolitik durch BNDES hat durchaus Erfolge vorzuweisen. Mit subventionierten Krediten ausgestattet, übernahm der Fleischverarbeiter JBS in den USA und Australien Betriebe und brachte es nach Verkäufen zum größten Rindfleischproduzenten der Welt. BNDES hält an JBS einen Anteil von 23 Prozent. Petrobras erhält ebenfalls BNDES-Kredite, wird die neuen gigantischen Erdölfelder vor der Küste ausbeuten und muss dafür in fünf Jahren mehr als 200 Milliarden Dollar ausgeben. Der Flugzeughersteller Embraer übersteht dank BNDES-Krediten die schwierige Lage auf diesem Markt gegenwärtig ohne größere Turbulenzen. Brasilien hatte immer eine Form von Staatskapitalismus. Und dessen Verteidiger sehen in der Entwicklungsbank eine Möglichkeit, Marktversagen zu korrigieren und Firmen weiterzuentwickeln. Forschungs- und Entwicklungskosten können so reduziert und neue Projekte in Angriff genommen werden. Gerade in einem Land, das seine wirtschaftliche Entwicklung nachholen muss, ist das von großer Bedeutung.

Die Frage ist jedoch, wie lange die BNDES-Strategie noch aufgeht. Im März 2013 wurde die Entwicklungsbank von der Ratingagentur Moody’s herabgestuft. Man fürchtet, sie sei ihren stärksten Gläubigern zu stark ausgesetzt. Die wirtschaftspolitische Strategie der Regierung stellt das vor ein Problem. Denn wegen der hohen Zinsen und der steigenden Inflation von zuletzt 6,5 Prozent sind private Banken oftmals nicht gewillt, langfristige Darlehen zu akzeptablen Zinsen anzubieten. Daher ist die Entwicklungsbank in der Strategie der Regierung besonders wichtig: Sie ermöglicht es den Unternehmen, sich preiswerter als bei den Privatbanken zu finanzieren. Die negativen Folgen der Hochzins­politik können so durch staatliche Intervention umgangen werden. 

Jedoch bringt die Hochzinspolitik für einige Sektoren auch Vorteile. Dem Staat kommen die hohen Zinsen auf seine Schulden teuer zu stehen. Die Banken und Finanzinvestoren jedoch zählen zu den Gewinnern dieser Politik, da sie so lukrative Investitionen tätigen können. Die hohen Zinsen der Zentralbank, 8 Prozent seit Ende Mai 20133 , machen es Konsumenten oder Unternehmen kaum möglich, Investitionen zu finanzieren. Daher gibt es, staatlich subventioniert, zahlreiche Ausnahmen, zum Beispiel reduzierte Zinsen beim Kauf von Autos oder Immobilien; Garantien der öffentlichen Banken an private Banken zur Exportfinanzierung, die anders nicht zu finanzieren sind; protektionistische Maßnahmen, um die lokale Produktion zu schützen; und partielle Steuersenkungen und Subventionen, um den internen Markt zu entwickeln. 

Verlierern helfen

In der Sozialpolitik sind die Veränderungen der Regierungen Lula und Rousseff am deutlichsten zu erkennen. Dabei sind vor allem zwei Maßnahmen von Bedeutung: Das „Null-Hunger“-Programm („Fome Zero“), das zur „Bolsa Família“ wurde. Und die stetige Erhöhung des Mindestlohns. Beide Maßnahmen zusammen haben die Lebensverhältnisse für Millionen Brasilianer deutlich verbessert. Erreicht wurde dies durch Sozialtransfers, höhere Löhne und subventionierte Konsumentenkredite. Die Zahl der Armen sank, aber es stieg auch die Zahl der Millionäre. Die Sozialtransfers und die höheren Löhne erzeugten einen Wachstumsschub. 

Am 1. April 2003, drei Monate nachdem Lula seinen Amtseid geleistet hatte, lag der Mindestlohn bei 250 Reais, am 1. Februar 2009 lag er bei 465 Reais, rund 250 Dollar4 , was eine deutliche Verbesserung der Lage vieler Menschen zur Folge hatte. Parallel dazu entstanden auch mehr formelle Beschäftigungsverhältnisse. Flankiert wurde diese Maßnahme mit Krediten für den Wohnungserwerb, die weiter die Nachfrage ankurbelten, was sich positiv auf die Bekämpfung der Armut auswirkte: 1999 lebten noch 35 Prozent aller Brasilianer in Armut, 2007 waren es 25,1 Prozent.

Auf dem Gebiet der Sozialprogramme gibt es die Bolsa Família, ein Transfersystem für Familien und ein weiteres für Alte und Behinderte. Lula hat das Programm so beschrieben: „Wir entschieden uns dafür, die Bolsa Família durch Bankfilialen auszuzahlen und dafür Magnetkarten zu verwenden, die den Frauen in den Haushalten gegeben wurden, nicht den Männern, die das Geld für Bier hätten ausgeben können, und das war eine Revolution, da Bankkonten für niedrige Einkommensklassen entstanden.“

Mit Hilfe der Bolsa Família werden zwölf Millionen Haushalte unterstützt. Familien, in denen das Einkommen pro Kopf unter 60 Reais beträgt (rund 30 Dollar), erhalten diese Form der Unterstützung. Sie bekommen 60 Reais vom Staat, die ihnen auf eine spezielle Kreditkarte ausgezahlt werden. Zusätzlich erhalten Familien für bis zu drei Kinder unter 15 Jahren zusätzliche 18 Reais pro Kind. Familien, die zwischen 61 und 120 Reais pro Kopf an Einkommen beziehen, haben nur Anspruch auf Hilfszahlungen, wenn sie Kinder haben. Zusammengenommen beliefen sich die Gelder für die Bolsa Família im Jahr 2008 nur auf 0,4 Prozent des BIP, also 12 bis 15 Mal weniger als für den internen Schuldendienst aufgebracht werden musste. Doch gerade in den ländlichen Regionen machen diese Zahlungen einen großen Unterschied, denn sie garantieren armen Campesinos oder Alten ein Existenzminimum. 

Stößt das brasilianische Modell an seine Grenzen?

Die Frage ist, wie zukunftsfähig das brasilianische Modell ist. Die Financial Times berichtete kürzlich über die Sorge von Investoren, dass das „Modell Dilma“ in Auflösung begriffen sei.5 Und tatsächlich sind die Wachstumsziffern bedrohlich niedrig. Im ersten Quartal 2012 wuchs das BIP nur um 0,1 Prozent, im zweiten Quartal um 0,2 Prozent und im dritten Quartal um 0,6 Prozent. Getragen wird das Modell noch von den privaten Haushalten, deren Konsum von 2006 bis 2011 im Schnitt um jährlich 5,4 Prozent stieg. Brasilien verfügt über den fünftgrößten Konsumentenmarkt weltweit nach USA, China, Japan und Deutschland. Doch es ist zu beobachten, dass die Brasilianer weniger einkaufen gehen als früher. Um die Autoproduktion anzukurbeln, hat die Regierung vergangenes Jahr Steuernachlässe für die Fahrzeuge gewährt, was der Produktion noch einmal auf die Beine half. Gute Nachrichten hingegen kommen aus der Landwirtschaft. Die Ernte 2011/12 war in Tonnen gemessen die größte in der Geschichte, obwohl weniger Anbaufläche dafür nötig war.

Doch kurzfristige Erfolge können über ein Grundproblem nicht hinwegtäuschen: Brasilien fehlen Innovationen. Lediglich 1,1 Prozent des BIP werden nach Berechnungen des Economist für Forschung und Entwicklung aufgewendet, verglichen mit 1,4 Prozent in China und 3,4 Prozent in Japan. Selbst nahe liegende Ideen kommen von außerhalb, zum Beispiel Produkte für den Massenmarkt: Whirlpool hat einen Minikühlschrank für den brasilianischen Markt entworfen. AstraZeneca will billige Generika verkaufen. Nestlé hat schwimmende Filialen gebaut, die auf dem Amazons schippern und zu den Kunden kommen.

Ein weiteres ungelöstes Problem der brasilianischen Wirtschaft ist, dass sie nicht in der Lage ist, hochtechnische Produkte – mit Ausnahme von Flugzeugen – herzustellen. Doch es sind gerade diese Produkte, die einem Land einen guten Stand in der Weltwirtschaft sichern. Der Industriesektor ist nicht effizient genug, und das zeigt auch die Zusammensetzung der Exporte. Die starke Währung hilft nicht dabei, hochkomplexe Produkte zu entwickeln und auf dem Weltmarkt zu verkaufen; sie wären schlicht zu teuer. Der Real verteuert die Exporte, mit Ausnahme der Rohstoffausfuhren, die ohnehin in Dollar gehandelt werden. Dennoch sinken die Einnahmen der Exporteure von Soja, Erdöl und Erzen, wenn sie ihre Devisengewinne in die nationale Währung tauschen. 

Hinzu kommt, dass die Kosten aus dem Ruder laufen. So beschwerte sich Carlos Ghosn, der CEO von Renault-Nissan, dass es für sein Unternehmen in Brasilien billiger sei, Eisenerz aus Südkorea zu importieren als brasilianische Produkte zu kaufen. Und in den Häfen kostet die Abfertigung eines Containers 900 Dollar, doppelt so viel wie in China und anderthalb mal so viel wie in Indien.

Scheiterte das brasilianische Modell, hätte das auch für die anderen Linksregierungen in Lateinamerika Folgen – zum einen wirtschaftlicher Art, da Brasilien ein wichtiger Investor und Handelspartner ist; zum anderen für die Integrationsbemühungen auf dem Kontinent. Der größte Schaden wäre jedoch politisch: Die Hegemonialverhältnisse auf dem Kontinent dürften sich erneut verändern, dann wäre ein Modell, das versucht, einen sozial ausgeglicheneren Entwicklungsweg zu ermöglichen, tatsächlich am Ende. Für den brasilianischen Politologen Artmando Boito haben das Finanzkapital, die Industrie- und Agrarbourgoisie das Land in der Hand. In der Tat hat die Arbeiterpartei auch im Unternehmerlager eine breite Basis – durch Subventionen profitieren auch sie von der Wirtschaftspolitik. Unter Lula und Rousseff konnten die reichsten Brasilianer ihren Anteil am Nationaleinkommen vergrößern – aber eben auch die ärmsten 30 Prozent der Bevölkerung ihre Lebenssituation verbessern. Problematisch für die Zukunft könnte die Entwicklung des industriellen Sektors sein. Der Mindestlohn ist seit seiner Einführung unter Lula um 70 Prozent gestiegen. Das hat die Gehälter im Privatsektor mitgezogen, die um 50 Prozent geklettert sind. Der dadurch gesteigerte Konsum führte jedoch nicht zu einer verstärkten Industrieproduktion, sondern zu einem Anstieg der Importe. Dies, zusammen mit der starken Währung, könnte eine Deindustrialisierung zur Folge haben. 

Das brasilianische Modell des Staatskapitalismus setzt auf Wirtschaftsförderung und sozialen Ausgleich. Die orthodox-liberalen Elemente werden durch staatliche Intervention ausgeglichen. Diese Politik folgt einem Ziel, das Rousseff folgendermaßen definiert: „Die Verbesserung der Lebensbedingungen muss immer das Hauptziel wirtschaftlicher Entwicklung sein. Man kann beide Konzepte nicht voneinander trennen. Die Schaffung und Verteilung von Reichtum verbessert den Lebensstandard; umgekehrt führt ein verbesserter Lebensstandard zu wirtschaftlicher Prosperität.“ Die Formel dafür scheint man in Brasilien zumindest in den vergangenen zehn Jahren gefunden zu haben. 

Dr. Ingo Malcher ist Redakteur des -Wirtschaftsmagazins brand eins.

 
  • 1Mit dem „Plan Real“ wurde die Währung zwar zunächst an den Dollar gekoppelt, allerdings wurde in regelmäßigen Abständen und nach vorheriger Ankündigung abgewertet.
  • 2Sergio Lazzarini u.a.: What do development banks do? Evidence from Brazil 2002–2009, 2012.
  • 3„Doubts cloud Brazil outlook after disappointing first quarter“, Financial Times, 30.5.2013.
  • 4Allerdings muss bedacht werden, dass ein großer Teil der Brasilianer nicht den Mindestlohn (aktuell bei 350 Dollar) erhält. Die Armutsgrenze in Brasilien liegt bei 200 Reais monatlich.
  • 5 „Investors worry the Dilma model in unravelling in Brazil“, Financial Times, 20.5.2013.
Bibliografische Angaben

Länderporträt Brasilien, Juli/August 2013, S. 12-19

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