Buchkritik

29. Apr. 2024

Polen: Die Traumata der Vergangenheit

Im berechtigten Jubel über Donald Tusks Wahlsieg darf die Analyse der rechtspopulistischen Erfolge zuvor nicht zu kurz kommen. Gerade in Deutschland wäre man gut beraten, bei einem seiner wichtigsten Partner sehr genau hinzuschauen und hinzuhören. 

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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Nach Jahren, in denen populistische Kräfte in ganz Europa scheinbar unaufhaltsam auf dem Vormarsch waren, bot der Sieg des Oppositionsbündnisses von Donald Tusk bei den polnischen Parlamentswahlen am 15. Oktober 2023 vielen Menschen einen Hoffnungsschimmer, auch weit über die Grenzen Polens hinaus. Liberale Bündnisse, so die Schlussfolgerung, die viele aus Tusks Erfolg zogen, sind sehr wohl imstande, ihre populistischen Widersacher an der Wahlurne zu schlagen. 

Umso erstaunlicher war es, dass dies ausgerechnet in Polen glückte – einem Land, dessen liberaldemokratische Verfasstheit viele schon abgeschrieben hatten. Schließlich hatte die PiS-Partei, die seit 2015 an der Regierung war, lange acht Jahre Zeit gehabt, um eine gezielte Aushöhlung demokratischer Institutionen voranzutreiben und ihre Machtposition so zu festigen, dass für viele Beobachter infrage stand, ob 2023 freie und faire Wahlen überhaupt würden stattfinden können. 


Wunder an der Weichsel

Dass es unter diesen Umständen dennoch gelang, eine Mehrheit gegen die Regierung zusammenzubekommen, war das „demokratische Wunder an der Weichsel“, das in den Tagen und Wochen nach dem 15. Oktober so euphorisch gefeiert wurde. Tatsächlich erlebt Polen mit dem Regierungswechsel eine Wiederbelebung seiner demokratischen Institutionen, und die beeindruckend hohe Wahlbeteiligung, die sogar die der ersten freien Wahlen nach der kommunistischen Herrschaftszeit 1989 übertraf, ist zweifellos Ausdruck des Freiheitswillens sowie der demokratischen Gesinnung weiter Teile der polnischen Bevölkerung. 

Darüber vergisst man aber leicht, dass die PiS trotz erheblicher Verluste mit über 35 Prozent als stärkste Partei aus der Wahl hervorgegangen war. Die PiS bleibt somit eine enorm potente politische Kraft – auch deshalb, weil der amtierende Präsident der PiS angehört und bis zum Ende seiner Amtszeit 2025 der neuen Regierung mit Sicherheit alle möglichen Knüppel zwischen die Beine werfen wird. 

Statt selbstzufrieden die Rückkehr Donald Tusks und mit ihr die Rückkehr Polens in die Mitte Europas zu feiern, besteht Anlass, sich Gedanken zu machen, warum selbsternannte „Antiliberale“ überhaupt Erfolg haben konnten und inwiefern ihre Politik in Polen fortwirken könnte. 


Politischer Tsunami

Einen wichtigen Beitrag zu diesem Verständnis bietet Jarosław Kuisz, ein polnischer Politikwissenschaftler, der die liberale Wochenzeitschrift Kultura Liberalna in Warschau herausgibt und auch immer wieder in deutschen Medien publiziert. 

Sein jüngstes Buch, das 2023 erschienen und vorerst nur in englischer Sprache unter dem Titel „The New Politics of Poland“ erhältlich ist, ist ein Versuch, der Debatte im Ausland über Polen, die nach Einschätzung des Autors intensiv, aber nicht selten oberflächlich geführt wird, Tiefgang zu verleihen. 

Trotz der nicht leicht zu folgenden Struktur des Buches, die weder klar chronologisch noch thematisch angelegt ist, wird ­Kuisz diesem Anspruch gerecht. Zu Beginn bietet er eine kompakte, überzeugende Analyse der tieferliegenden Gründe, weshalb es der PiS, die zwischen 2005 und 2007 schon einmal die Regierung gestellt hatte, ab 2015 gelang, die politische Landschaft in Polen zu dominieren und – anders als in ihrer ersten Amtszeit – auf Grundlage einer breiten Unterstützung in der Bevölkerung große Teile ihrer radikalen Agenda umzusetzen.

Um den erstaunlichen Erfolg der PiS in der Zeit zwischen ihrer Rückkehr an die Macht 2015 und ihrer vorläufigen Abwahl 2023 zu erklären, bemüht Kuisz das Bild eines Tsunami. Dieser hat bekanntlich seinen Ursprung in den Tiefen des Meeres und nähert sich vergleichsweise unscheinbar der Küste, nur um sich dort meterhoch aufzutürmen und mit seiner Urgewalt immense Verwüstung anzurichten. 

So ähnlich verhielt es sich mit dem Aufstieg der PiS, argumentiert Kuisz. Der Unmut über die wachsende soziale Ungleichheit und über das, was Kuisz vorsichtig als „kulturelle Erosion“ und „Identitätsdilemma“ umschreibt – womit natürlich die das vergangene Jahrzehnt maßgeblich bestimmende Migrationsfrage gemeint ist –, schafften über einen längeren Zeitraum die Grundlage, auf der die PiS ihre Wählerschaft mobilisieren konnte. 

Kuisz betont dabei, dass diese Fragen kein polnisches Spezifikum seien, sondern grundsätzlich den Diskurs in einer ganzen Reihe westlicher Demokratien bestimmt hätten, die in diesen Jahren alle dem steigenden Druck des Populismus ausgesetzt gewesen seien. Laut Kuisz habe die PiS auf einer Welle geritten, die ihre Kraft durchaus aus spezifisch innenpolitischen Ursachen gezogen habe, jedoch aufgrund globaler Entwicklungen, die den populistischen Trend weltweit befeuert hätten, ungleich größer geworden sei.


Kein „Schwarzer Schwan“

Stellt man den Aufstieg der PiS jedoch in den von Kuisz angeführten globalen Kontext, so springt ins Auge, dass die PiS nicht so sehr als Reiter der Welle, sondern eher als Vorhut ebendieser betrachtet werden kann. 

So fand der spektakuläre Sieg der PiS im Jahr 2015 vor dem Hintergrund der Kette von Ereignissen statt, die gemeinhin als die maßgeblichen Wegmarken des vermeintlichen Siegeszugs des Populismus genannt werden. Das betrifft etwa die Brexit-Entscheidung im Juni 2016, die Wahl Donald Trumps im November desselben Jahres sowie, im darauffolgenden Jahr, den Durchbruch Marine Le Pens bei den französischen Präsidentschaftswahlen und den Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag. 

Unabhängig davon, ob die von Kuisz angeführte Metapher stimmig ist oder nicht, so überzeugt er den Leser davon, dass der Sieg der PiS nicht als unvorhersehbarer „Schwarzer Schwan“ einzuordnen ist, sondern vielmehr als Folge langfristig angelegter struktureller Faktoren. Somit mahnt er alle zur Vorsicht, die glauben, dass die vergangenen Jahre eine irrtümliche Abbiegung der polnischen Geschichte gewesen seien, die jetzt korrigiert worden sei. 

Um diesen Befund zu untermalen, schürft Kuisz tiefer und lässt auf seine einleitende Analyse des Aufstiegs der PiS zwei weitere Teile folgen. So bringt er die jüngsten politischen Entwicklungen in Polen zunächst in einen historischen Zusammenhang mit den drei Jahrzehnten seit Ende des Kommunismus und ordnet sie anschließend in den Kontext der knapp zweieinhalb Jahrhunderte seit der Aufteilung Polens im Jahre 1795 ein. 

Für Kuisz ist das bestimmende Merkmal polnischer Politik ein, wie er es nennt, „posttraumatisches“ Souveränitätsverständnis, das sich aus der historischen Tatsache ergibt, dass Polens Souveränität im Laufe der Geschichte regelmäßig missachtet wurde. 

Auch wenn eine polnische Identität immer existierte, wurde diese von den anderen europäischen Mächten weder akzeptiert noch überhaupt wahrgenommen – das Land existierte über hundert Jahre schlicht nicht. So zitiert er den Eintrag zu Polen in einem deutschen Lexikon des frühen 20. Jahrhunderts – „Es gab einst ein Land mit diesem ­Namen“ – sowie die berühmte Regieanweisung aus Alfred Jarrys „König Ubu“: „spielt in Polen, das heißt nirgendwo“. 

Die Erfahrung, nicht gesehen, geschweige denn respektiert zu werden, hat nach Kuisz’ Überzeugung tiefe Spuren hinterlassen. Die Angst, buchstäblich von der Landkarte zu verschwinden, argumentiert der Autor, sei so tief verwurzelt, dass politische Kräfte in Polen verlässlich auf die daher rührenden Ressentiments rekurrieren könnten, um sich einen politischen Vorteil zu verschaffen. 

Es ist dieser historisch bedingte Fokus auf die „Maximierung der Souveränität“, der Polen nach Kuisz’ Einschätzung auch von seinen osteuropäischen Nachbarn, die nicht im gleichen Maße das historische Trauma des Souveränitätsverlusts erlebt haben, unterscheidet. Während Viktor Orbán sein ideologisches Projekt der „illiberalen Demokratie“ auch über die Grenzen Ungarns hinaus zu verbreiten versucht, hat Jarosław Kaczyński nie vergleichbare Anstrengungen unternommen. Dies liegt laut Kuisz daran, dass sich Kaczyński von Feinden umzingelt wähnt und die Garantie des Fortbestands der polnischen Nation allein in der Umsetzung seiner rechtskonservativen Agenda im Inland sieht.


Neuralgischer Punkt

Den Deutungsansatz, dass die unzureichend verheilten Narben tatsächlicher oder fingierter Kämpfe um die eigene Existenz die Ausrichtung polnischer Politik entscheidend prägen, hat Kuisz in verdichteter Form gemeinsam mit seiner Frau, der polnischen Soziologin Karolina Wigura, in einem Essay dargestellt, der im vergangenen Jahr bei Suhrkamp unter dem Titel „Posttraumatische Souveränität“ erschienen ist. 

Anlass für die Veröffentlichung war der Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der laut Wigura und Kuisz das historische Trauma Polens reaktivierte, indem er die tiefsitzende Furcht vor der Auslöschung der nationalstaatlichen Existenz aus dem Unterbewusstsein hervorholte und erneut in den Mittelpunkt von Politik und Gesellschaft stellte. 

An seinem neuralgischen Punkt getroffen, reagierte Polen instinktiv auf den Ausbruch des Krieges mit der Erhöhung der eigenen Selbstverteidigungsfähigkeit und übernahm eine europäische Führungsrolle bei der militärischen Unterstützung der Ukraine. Dass diese Entscheidungen ohne Zögern und auf der Grundlage einer breiten Unterstützung der Bevölkerung getroffen werden konnten, ist für Wigura und Kuisz nicht zu verstehen, ohne dass man die von ihnen beschriebenen Komplexe in Rechnung stellt, die aus der Geschichte erwachsen sind. 

Besonders anregend ist der insgesamt sehr lesenswerte Essay mit seiner Postulierung der These, dass Polens „posttraumatisches Souveränitätsverständnis“ angesichts der akuten Bedrohung durch Russland auf eine Mehrheit der europäischen Staaten übertragen werden könnte und somit zum prägenden Merkmal nicht nur polnischer, sondern auch europäischer Politik werden könnte. 

Ob es tatsächlich so kommt, hängt maßgeblich davon ab, wie sich die Mentalität im größten europäischen Land – Deutschland – in den kommenden Jahren wandelt. Kuisz und Wigura wagen keine konkrete Prognose, weisen aber darauf hin, dass die bisweilen aufkommenden Unstimmigkeiten zwischen Berlin und Warschau nicht zuletzt daher rühren, dass im deutsch-polnischen Verhältnis zwei unterschiedliche Traumata aufeinandertreffen. 

Während Polen historisch bedingt in erster Linie den Verlust von Souveränität durch Okkupation fürchtet, ist Deutschland nach seinen Erfahrungen im 20. Jahrhundert vor allem durch die Angst vor Krieg geprägt. Im Kontext und unter dem Druck des russischen Angriffskriegs in der Ukraine ist die Unvereinbarkeit dieser beiden historisch gewachsenen Mentalitäten noch einmal deutlich geworden. 


Historisches Glück

Zu dieser Erkenntnis gelangt auch Rolf Nikel in seinem Buch „Feinde Fremde Freunde: Polen und die Deutschen“. Anders als Kuisz und Wigura schreibt Nikel aber nicht aus der Warte des beobachtenden Intellektuellen, sondern aus der des Praktikers. Nikel diente von 2014 bis 2020 als deutscher Botschafter in Warschau und war entscheidend an der Gestaltung der deutsch-polnischen Beziehungen in den kritischen Jahren der PiS-Regierung und im Vorlauf des Krieges in der Ukraine beteiligt. 

Nikel beschreibt, wie er als Botschafter regelmäßig die Frustration seiner polnischen Gesprächspartner über den in ihren Augen zu Moskau-freundlichen Kurs der deutschen Außenpolitik zu spüren bekam. Andererseits schildert er die Schwierigkeit, einen konstruktiven Umgang mit einer PiS-Regierung zu finden, die bewusst antideutsche Ressentiments schürte und Nikel zufolge Außenpolitik als „Funktion der Innenpolitik“ betrachtete. 

Trotz aller Differenzen betont Nikel die Notwendigkeit, sich stets darum zu bemühen, Brücken zwischen Warschau und Berlin zu schlagen. Das dürfte jetzt leichter werden als zu Zeiten der PiS-Regierung. Konkret fordert Nikel eine deutliche Aufstockung der deutschen Verteidigungsausgaben, weil das gegenüber Polen Deutschlands Entschlossenheit demonstrieren würde, die gemeinsamen sicherheitspolitischen Herausforderungen zu bewältigen. Außerdem geht es ihm um eine Neukalibrierung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik um das von Paris, Berlin und Warschau getragene Weimarer Dreieck. 

Diese Schritte gilt es, im Kontext einer sich zuspitzenden Sicherheitslage in Europa zu unternehmen. Der Versuch Russlands, die europäische Sicherheitsarchitektur zu zerschmettern, mag die Gegensätzlichkeit deutsch-polnischer Traumata akzentuiert haben. Er hat jedoch noch viel mehr die Tatsache bestätigt, dass Deutschland und Polen, wie Nikel schreibt, auf „der gleichen Seite der Geschichte stehen“. 

Dies, so die Quintessenz seines Buches, gilt es als historisches Glück zu feiern, aber auch als Anlass zu nehmen, zusammen für die gemeinsamen Werte einzustehen. 


Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Die Traumata der Vergangenheit" erschienen.  


Jarosław Kuisz: The new politics of Poland. A case of post-traumatic sovereignty. Manchester University Press 2023. 376 Seiten, 25,00 US-Dollar

Jarosław Kuisz und Karolina Wigura: Posttraumatische Souveränität. Berlin: Suhrkamp 2023. 184 Seiten, 18,00 Euro

Rolf Nikel: Feinde, Fremde, Freunde.  Polen und die Deutschen. München:  Langen Müller Verlag 2023. 288 Seiten, 24,00 Euro


 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 2, Mai/Juni 2024, S. 132-135

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Lukas Paul Schmelter ist Zeithistoriker und war zuletzt Ernest May Fellow am Belfer Center for Science and International Affairs der Har­vard Kennedy School (2021–2022).

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