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01. Nov. 2005

Piraten unter grüner Flagge

Islamisten haben das marititime Transportwesen im Visier

Komplexe Staatensysteme sind durch einen Anschlag global organisierter Terrorgruppen extrem verwundbar. Nach dem 11. September haben sich Regierungen und Geheimdienste auf den Schutz des internationalen Flugverkehrs konzentriert. Der Welthandel ist aber weit abhängiger vom maritimen Transportwesen. Eine Attacke auf See könnte die Weltwirtschaft daher massiv beschädigen. Genau deshalb ist sie äußerst wahrscheinlich.

5,8 Milliarden Tonnen Güter wurden im Jahr 2001 auf dem Seeweg gehandelt, stellte die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) fest. 2003 waren es bereits 6,17 Milliarden Tonnen .1 Das macht mehr als 80 Prozent des Welthandelsvolumens aus. Über 46 000 Schiffe, die global fast 4000 Häfen bedienen, tragen die Hauptlast dieses Warenverkehrs. Seit dem 11. September wurden einige Maßnahmen zum Schutz des Seehandels getroffen. Dennoch bleibt dieser Sektor extrem verwundbar für Terror-attacken. Experten halten einen Anschlag für äußerst wahrscheinlich; Osama bin Laden selbst bestätigte in einem Video vom Oktober 2004, dass er sich weiterhin auf Ziele konzentrieren wolle, die für die Weltwirtschaft wichtig sind.

Ausdehnung, leichte Zugänglichkeit und großstädtische Lage vieler Hafenanlagen gewährleisten freien Handels- und Reiseverkehr. Dieselben Faktoren, die den maritimen Transportverkehr zum Wohlstand beitragen lassen, machen ihn aber auch verwundbar für Terrorismus. Kreuzfahrtschiffe und Fähren sind dabei ebenso betroffen wie der Container- und Massengüterverkehr, Öltanker und Kriegsschiffe, von den Hafenanlagen selbst ganz zu schweigen. Die Liste der Anfälligkeiten ist beträchtlich und reicht von potenziellen Anschlägen auf Häfen, Schiffe und Ladungen bis hin zu Dokumentenfälschung und illegaler Mittelbeschaffung für terroristische Vereinigungen, Handel mit und/oder Gebrauch von Waffen, Sprengstoff oder sogar von Massenvernichtungswaffen. Jeder Zusammenbruch des maritimen Transportsystems könnte ungeheure Kosten verursachen: an Menschenleben, und weil dadurch die Fundamente des Welthandels angegriffen werden.

Leitfaden für Operationen auf See

Piraterie ist so alt wie die Seefahrt selbst. Doch in den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl verzeichneter Angriffe von Piraten weltweit verdreifacht. Zu den riskantesten Gebieten gehören Indonesien (die Anambas-Inseln, die Gelasa-Straße), Bangladesch (Chittagong, Mongla), Indien (Chennai, Chochin, Haldia), Malaysia (Bintulu, Sandakan), Somalia und Nigeria.2

Wir wissen, dass Al-Qaida über einen Leitfaden für militärische Operationen auf See verfügt. 3 Hier werden Möglichkeiten des Angriffs auf Schiffe, verschiedene Schiffstypen, deren Schwachstellen und die benötigte Menge von Sprengstoff angegeben. Obendrein hat Al-Qaida eine Geschichte maritimer Anschläge vorzuweisen. Die taktische Ausrichtung des Netzwerks deutet darauf hin, dass es sich in Zukunft auf Schiffs- und Hafengerät konzentrieren will, um ökonomisch relevante Ziele zu treffen. Geheimdienste haben bereits Frachter identifiziert, die Al-Qaida vermutlich zur Verschiffung von Aktivisten, Bomben, Geld oder Waren auf hoher See nutzt.4

Der Bereich maritime Sicherheit wird noch immer zugunsten der Sicherung des Flugverkehrs vernachlässigt, weil Objekte an Land oder in der Luft als wahrscheinlichste Ziele des Terrorismus gelten. Dabei rammte bereits im Jahr 2000 im Jemen ein mit Sprengstoff beladenes kleines Boot die USS Cole; im Oktober 2002 wurde der französische Supertanker Limburg im Persischen Golf Ziel eines ähnlichen Angriffs. Im Februar 2004 sank eine Fähre mit insgesamt 1050 Passagieren an Bord vor der Küste der Philippinen, nachdem eine in einem Fernseher versteckte und nur vier Kilogramm schwere TNT-Bombe im Unterdeck explodiert war. Aktuelle Geheimdiensterkenntnisse und das Muster der Attacken der vergangenen Jahre legen den Schluss nahe, dass Terroristen verstärkt auf Anschläge auf den Schiffsverkehr im Mittleren Osten sowie auf Seehäfen und die im Mittelmeer stationierten Koalitionstruppen setzen könnten. Staaten, die der von den USA geführten Koalition im Irak angehören, erscheinen – kurzfristig – stärker bedroht als die übrigen Länder.

Ungeachtet der von Regierungen weltweit getätigten Investitionen im Bereich Sicherheit auf See stellt diese Bedrohung immer noch eine unmittelbare Gefahr dar. Sogar in den Vereinigten Staaten, wo vielleicht das größte Budget für maritime Angelegenheiten zur Verfügung gestellt wurde, sind die Häfen alles andere als sicher. Das Hafensicherheitsprogramm hat laut dem Generalinspekteur des Heimatschutzministeriums „noch nicht die angestrebten Ergebnisse in Form einer tatsächlichen Verbesserung der Hafensicherheit erzielt“. Infolgedessen hatte das Ministerium „keine Gewissheit, dass das Programm tatsächlich die kritischsten und verwundbarsten Bestandteile der Hafeninfrastruktur und der Hafenvermögenswerte schützt“.5

Die Ernennung von Saud Hamid al-Otaibi zum neuen Befehlshaber von Al-Qaida in Saudi-Arabien – die er zum großen Teil seiner Expertise im Bereich Terror auf See verdankt – hat viele Sicherheitsexperten dazu veranlasst, dem Bedrohungsniveau im Bereich maritime Sicherheit mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Zu Hamid al-Otaibis „Erfahrungsschatz“ zählt seine aktive Rolle bei der Explosion der USS Cole im Oktober 2000 und beim Anschlag auf den französischen Tanker Limburg zwei Jahre später. Nach al-Otaibis Ernennung warnten die Vereinigten Staaten eine Reihe von Mittelmeerstaaten, dass Anschläge auf See auch unter Einsatz chemischer Kampfstoffe unmittelbar bevorstehen könnten.

Container als Waffen

Der Katalog an möglichen Vorgehensweisen für Terroristen reicht weit: Sie könnten ein Schiff entführen, es in einem „Billigflaggenland“ registrieren lassen und für terroristische Aktivitäten gebrauchen oder ganz offiziell eine Reederei und deren Schiffe erwerben und für terroristische Anschläge nutzen, ohne in Verdacht zu geraten. Diese Schiffe könnten mit explosivem Material beladen werden und dann andere Schiffe, Hafenanlagen oder Bevölkerungszentren an der Küste rammen.

Auch Öltanker oder Schiffe mit Gefahrengut an Bord können als Waffen dienen. Neben den bereits genannten Schiffsarten würden auch große Häfen, an der Küste gelegene Öldepots, Kraftwerke oder Brücken ideale Ziele für Anschläge bieten. Bei Angriffen auf See wäre auch der Einsatz von kleinen U-Booten oder motorbetriebenen Unterwasserschlitten denkbar.6 Einige terroristische Gruppen haben bereits mit solchen Methoden experimentiert. Geheimdienstberichte weisen darauf hin, dass Aktivisten der Jemaah Islamiah, einer hauptsächlich in Südasien tätigen und mit dem Al-Qaida-Netzwerk in Verbindung stehenden Gruppierung, in Guerillatak-tiken auf See trainiert wurden. Dazu gehörten etwa Selbstmordtauch- und -rammmanöver, wie sie von den srilankischen Liberation Tigers of Tamil Eelam entwickelt wurden.7

Terroristen könnten sich auch unautorisierten Zugang zu Schiffen und Hafenanlagen verschaffen, um dort Sprengstoff zu platzieren. Von mindestens einem Al-Qaida-Aktivisten ist bekannt, dass er versuchte, sich eine interna-tionale Kapitänslizenz zu besorgen, die ihm ohne Visum Einlass in jeden Hafen der Welt verschaffen würde.8 Eine der beängstigendsten Bedrohungen für die maritime Sicherheit auf See besteht darin, dass Terroristen Frachtcontainer benutzen könnten, um Sprengstoff oder Massenvernichtungswaffen (vor allem „schmutzige Bomben“) in ein souveränes Land einzuschmuggeln und sie dort zum Einsatz zu bringen. Ein solches Szenario erscheint plötzlich weniger fiktiv, wenn man hört, wie italienische Sicherheitskräfte im Oktober 2001 in Gioia Tauro auf ungewöhnliche Geräusche aus einem Frachtcontainer aufmerksam wurden. Als die Polizei den Container aufbrach, entdeckte sie einen Kanadier ägyptischer Herkunft. Der gut gekleidete Mann, der später den Spitznamen „Container-Bob“ erhielt, war gerade damit beschäftigt, Luftlöcher zu bohren. Zur Ausstattung seines Containers gehörten Bett, Toilette, Wasservorräte, ein Satellitentelefon, Laptop, Kameras und Karten. Er besaß auch Sicherheitspässe für verschiedene Flughäfen in Nordamerika.

Eine in einem Container geschmuggelte Waffe könnte bei der Ankunft im Hafen oder an jedem strategischen Punkt auf der Route des Containers gezündet werden. Mögliche Ziele wären strategische Transportknoten, symbolische Wahrzeichen oder große Bevölkerungszentren. Zusätzlich zu Tod und Zerstörung hätte solch ein Anschlag mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen sicher eine traumatische Wirkung auf die Psyche der betroffenen Nation – ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf die regionale und globale Wirtschaft.

Einige Regionen sind anfälliger für Anschläge auf See als andere. Eine der Hauptvariablen für die Verwundbarkeit eines Landes ist naturgemäß dessen geographische Lage. Zu den wahrscheinlichsten Zielen einer Attacke gehören jene Länder, die leicht von Staaten aus erreicht werden können, die – wie vermutlich der Libanon, Syrien oder Libyen – terroristische Organisationen in den eigenen Hoheitsgewässern operieren lassen.

Sicherheitskodex für Schiffe und Hafenanlagen

Nur offene und dauerhafte internationale Zusammenarbeit kann Terror erfolgreich verhindern. Im Fall maritimen Terrors ist eine globale Kooperation ohne Frage von noch größerer Bedeutung. Verbesserte physische Sicherheit der Hafenanlagen, intensivere Überwachung der Wasserwege, Häfen und Küstenanlagen, Containersicherheit und Schutzvorkehrungen gegen Sprengstoff sowie die Errichtung von Datenbanken, um den Weg von Fracht, Schiffen und Seeleuten verfolgen zu können, stellen unbedingt erforderliche Maßnahmen zur Abschwächung der Bedrohung dar. Doch sie wären fast alle vergebens, wenn internationale Übereinkünfte und Kooperation nicht aufrechterhalten werden.

Der Internationale Sicherheitskodex für Schiffe und Hafenanlagen (ISPS-Code) steht in diesem Zusammenhang für eine wichtige internationale Sicherheitsinitiative, die von der 148 Mitgliedstaaten zählenden Internationalen Schifffahrtsorganisation (IMO) entwickelt wurde. Der Kodex enthält sicherheitsrelevante Anforderungen an Regierungen, Hafenbehörden und Reedereien sowie eine Reihe von Richtlinien, wie diese Erfordernisse erfüllt werden können. Der Kodex sollte bis Juli 2004 umgesetzt worden sein; viele große und potenziell anfällige Häfen müssen jedoch den internationalen Vorgaben erst noch nachkommen. Dieser Mangel in der Einhaltung der Anforderungen führt dazu, dass die gesamte Schifffahrtsindustrie verwundbar für Anschläge bleibt.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2005, S. 28 - 31

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