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28. Febr. 2014

Pfad der Krieger

Syriens Kurden steuern im Bürgerkrieg einen Mittelkurs – Richtung Autonomie

Neben Rebellen und Regierung sind die syrischen Kurden die dritte Fraktion im Bürgerkrieg. Lange Zeit strebten sie ihre Ziele nur politisch an – doch die Angriffe extremistischer Islamisten zwangen auch sie, zu den Waffen zu greifen. Auf dem Weg zu einer schleichenden Unabhängigkeit sind sie seitdem ein gutes Stück vorangekommen.

Es sind kleine Festungen am Straßenrand, Sandhaufen und Betonblöcke kündigen sie aus mehreren hundert Metern Abstand an: Die Checkpoints der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) säumen die Landstraße von der Großstadt Qamischli entlang der syrisch-türkischen Grenze in Richtung Ras al-Ayn. Hier, im Nordosten des Landes, liegt Rojava, das Gebiet der syrischen Kurden; Rojava, das zwei Jahre lang vom Bürgerkrieg verschont blieb; das hunderttausende Binnenflüchtlinge aufnahm; Rojava, dem es gelang, die jahrzehntelang verfeindeten kurdischen Parteien an den Verhandlungstisch zu holen, um mit Baschar al-Assad eine politische Lösung des Konflikts zu finden.

Doch der Frieden in Rojava ist nicht mehr. Viele der Checkpoints, an denen sich die jugendlichen Milizionäre verschanzt haben, hinterließ die syrische Armee, als sie sich Mitte Juli 2012 aus zahlreichen kurdischen Städten zurückzog. Längst geht es nicht mehr darum, den Verkehr zu regeln und erfolgreiche kurdische Selbstverwaltung zur Schau zu stellen – die Kämpfer starren die staubige Straße hinunter, in jedem der zahllosen Pickups und Lastwagen könnte ein Selbstmordattentäter sitzen. Es sind radikale Teile der syrischen Opposition, die Nusra-Front und der Al-Kaida-nahe Dawlat al-Islamiyya, unkontrollierbar für die politische Führung der Rebellen im fernen Istanbul, die ihren eigenen Krieg gegen die Kurden ausgerufen haben.

Dschihad gegen „gottlose“ Kurden

Sie seien gottlos, sozialistisch, ein Ableger der türkischen PKK und wollten den syrischen Staat zerteilen, argumentiert Scheich Hamad, Kommandeur der Ahrar-al-Dschasira-Brigade, einer kleinen Rebelleneinheit, die sich seit Januar 2013 an Scharmützeln mit YPG-Einheiten in verschiedenen Ortschaften der Ostprovinz Hasaka beteiligt. Sein Hass auf die kurdische Autonomiebewegung ist nicht vorgeschoben; für ihn, der aus Tell Kocer, einer syrisch-irakischen Grenzstadt nahe der Provinzhauptstadt Hasaka stammt, ist die Eindämmung der kurdischen Selbstverwaltung ein ebenso wichtiger Bestandteil des Aufstands wie der Kampf gegen Baschar al-Assad. In der Provinz liegt ein Großteil der schwindenden syrischen Ölreserven, und schon Hafez al-Assad verstand es, den Anspruch der Kurden auf diese strategisch wichtigen Gebiete zu minimieren, indem er gezielt arabische Siedlungen im Niemandsland zwischen kurdischen Dörfern errichtete. Die daraus entstandenen lokalen Konflikte sind bis heute präsent und prägen den Bürgerkrieg.

Die Kurden selbst sahen ihre Position lange Zeit weit weniger klar: Ihr Aufstand begann, so sagen es heute viele ihrer politischen Vertreter, bereits im März 2004. Damals eskalierten in Qamischli, der mit rund 200 000 Einwohnern größten kurdischen Stadt Syriens, Krawalle zwischen kurdischen und arabischen Fußballfans, es folgten Demonstrationen, mehr als 30 Anwohner wurden von Sicherheitskräften erschossen, hunderte Aktivisten landeten im Gefängnis. Für zahlreiche junge Kurden war das der Beginn eines politischen Erwachens: Neue Bewegungen wie die Azadi-Partei drängten die etablierten kurdischen Parteien zu einem entschiedeneren Auftreten gegenüber der Regierung in Damaskus, manche ihrer Vertreter sprachen schon Jahre vor dem Aufstand von Daraa im Frühjahr 2011 von der Notwendigkeit einer Revolution.

Sollten sich die kurdischen Parteien der oppositionellen Nationalen ­Koalition, gar der Freien Syrischen Armee (FSA), offen anschließen? Oder sollten sie lediglich auf eine politische und kulturelle Gleichstellung mit der arabischen Bevölkerungsmehrheit hinarbeiten, Assad aber weiter als Präsidenten akzeptieren? Der Prozess der Meinungsbildung war zäh: Im Herbst 2012 fanden sich die beiden wichtigsten kurdischen Parteibündnisse – Partei der Demokratischen Union (PYD), 2003 als syrischer Ab­leger der PKK gegründet, und der vom irakisch-kurdischen Präsidenten Masud Barzani wenige Monate zuvor ins Leben gerufene Kurdische Nationalkongress (KNK) – im Obersten Kurdischen Rat zusammen. Der Plan war, bis zum Herbst 2013 flächendeckende Wahlen durchzuführen, mit den Asayish-Milizen nichtmilitärische Polizeieinheiten aufzubauen und eine funktionierende Übergangsverwaltung unter Einbindung des gesamten politischen Spektrums zu etablieren.

Lavieren zwischen FSA und Assad

Dass es die kurdische Führung sorgfältig vermied, sich zwischen Regierung und FSA klar zu positionieren, verhalf ihr zu leidenschaftlichen Unterstützern wie Gegnern. Noch im März 2013 starben bei Zusammenstößen zwischen PYD-Milizen und Vertretern der Azadi-Partei drei Menschen – letztere warfen der PYD daraufhin vor, in Rojava eine quasi-diktatorische Herrschaft errichtet zu haben und die eigene Neutralität auf Kosten der syrischen Bevölkerung zu wahren.

Im Frühjahr 2013 sah es sogar kurzzeitig danach aus, dass eben jene kurdischen Kräfte, die für ein entschiedeneres Eingreifen im Bürgerkrieg plädierten, sich durchsetzen könnten. Die Kämpfe in Ras al-Ayn wurden nach einem vom christlichen Politiker Michel Kilo vermittelten Friedensabkommen eingestellt, in mehreren Ortschaften bemannten YPG und FSA erstmals gemeinsam die Checkpoints. Die unter enormem militärischem Druck stehende syrische Opposition war dringend auf kurdische Unterstützung und frische Rekruten angewiesen. Im von den YPG kontrollierten Stadtteil Aschrafiya in Aleppo hätte ein Kriegseintritt der YPG eine neue Front an kritischer Stelle eröffnet; die seit eineinhalb Jahren andauernde Belagerung der Altstadt hätte endlich entschieden werden können

Privatkriege an entlegener Front

Doch der Frieden stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Noch während die Friedensverträge von Ras al-Ayn ausgehandelt wurden, plante die Syrische Islamische Front, eines jener Rebellenbündnisse außerhalb der FSA, die nächsten Operationen gegen kurdische Gebiete. Dominiert wird die Gruppierung von der salafistisch geprägten Organisation Ahrar al-Sham. Bei einem ihrer Planungstreffen im März 2013 in der Ortschaft Al-Schedadeh nahe der irakischen Grenze konnte der Autor miterleben, wie einer der Kämpfer eine Präsentation auf seinem Laptop vorführte, die mögliche Angriffsrouten auf Qamischli zeigte. Sämtliche Ortschaften um die Großstadt Qamischli herum waren in Tabellen aufgeführt und klar nach politischen Loyalitäten und kurdischem Bevölkerungsanteil sortiert. Die Organisation solcher Privatkriege an entlegenen Fronten kann die FSA nur schwer unterbinden – was den Aufstand in den syrischen Kernprovinzen zwischen Aleppo und Damaskus empfindlich schwächt.

Als islamistische Kämpfer im Juli 2013 mehrere hundert kurdische Zivilisten nahe Afrin als Geiseln nahmen und wenige Tage darauf der kurdische Oppositionspolitiker Isa Huso durch eine Autobombe getötet wurde, eskalierte die Lage. Die YPG-Milizen starteten ihre bislang umfassendste Mobilisierungskampagne: „Jeder, der in der Lage ist, eine Waffe zu tragen, ist aufgefordert, sich den Volksverteidigungskomitees anzuschließen.“ In den Wochen darauf folgte eine beispiellose Offensive kurdischer Kämpfer und Kämpferinnen (die YPG unterhalten derzeit zwei reine Frauenbataillone) gegen Islamisten nahe Ras al-Ayn, die kurdischen Stellungen nahe der Öl-Stadt Rumeylan wurden verstärkt und die kurdischen Ortschaften zu Festungen ausgebaut.

Das Aufflammen der Kämpfe bedeutete aber gleichzeitig neue Unsicherheit für die tausenden Flüchtlinge, die bis dahin in den kurdischen Gebieten Obdach gefunden hatten. Offiziell verneinen PYD-Vertreter, dass Menschen aus den kurdischen Gebieten fliehen mussten. Doch allein in den letzten beiden Augustwochen überquerten mehr als 47 000 Menschen die Grenze zum kurdischen Autonomiegebiet im Norden Iraks. Das zwang die dortige Regierung, die bislang geschlossenen Übergänge zumindest für Flüchtlinge zu öffnen. Mehr als 140 000 Menschen leben gegenwärtig in UNHCR-Lagern oder Privathäusern im Nordirak.

Größere kurdische Einigkeit

Politisch haben die Kämpfe den syrischen Kurden zu mehr Stabilität verholfen. Das klare Feindbild der Islamisten stärkt den Zusammenhalt; die für Herbst geplanten Wahlen wurden auf unbestimmte Zeit verschoben, ohne dass dies zu Verstimmungen zwischen den verschiedenen Lagern geführt hätte. Mit jedem weiteren gefallenen YPG-Kämpfer steigt das Verlangen nach einer umfassenden politischen Selbstverwaltung. Dass die Nationale Koalition (SNC) im unwahrscheinlichen Falle eines Sieges über Assad die kurdischen Minderheitenrechte achten würde, daran glauben die führenden PYD-Politiker nicht. Nachdem die Nationale Koalition die YPG-Milizen in einer Pressemitteilung vom 13. November 2013 als ­„Assad-Unterstützer“ brandmarkte, warf ihnen PYD-Parteichef Salih Muslim vor, die Kurden spalten und eine Selbstverwaltung verhindern zu wollen. Gegenwärtig gibt es keine offiziellen Kontakte zwischen SNC und Oberstem Kurdischen Rat.

Obwohl die YPG-Milizen auf dem Papier vom Obersten Kurdischen Rat kontrolliert werden, ist die Dominanz von PYD- und PKK-Symbolen in ihren Reihen doch auffällig. Es sind eben keine Barzani-Plakate, die die Wände ihrer Hauptquartiere zieren, sondern Porträts Abdullah Öcalans. Bei ihrer Ausbildung zum YPG-Kämpfer bekommen die Jugendlichen auch eine gehörige Portion Ideologie mit auf den Weg. Das iraknahe Parteienbündnis KNC agiert aktuell am Rande der Bedeutungslosigkeit.

Der PYD kommt zugute, dass die Offensive der Islamisten gegen kurdische Ortschaften für erstere katastrophal verläuft. Zwar sind die von der PYD veröffentlichten kurdischen Opferzahlen nicht sehr zuverlässig, fest steht jedoch, dass die der Dschihadisten deutlich höher sind. Zudem haben sie die Kontrolle über viele Ortschaften in der Provinz Hasaka verloren. Der politische Schaden für die syrische Opposition ist ohnehin immens. Insbesondere Salih Muslim kann sich durch die erfolgreiche Verteidigung kurdischer Städte als Vaterfigur inszenieren; Anfang Oktober starb einer seiner Söhne bei Gefechten in Tal Abiad.

Anerkennung der Autonomie

Den syrischen Kurden ist eminent wichtig, sich von den dominanten politischen Kräften und Anführern der türkischen und irakischen Kurden zu distanzieren und eine eigene Identität zu entwickeln. Die Rivalitäten zwischen Öcalan und dem Barzani-Clan, ganz zu schweigen von den blutig ausgetragenen Fehden der irakischen Kurden, spalteten auch die Kurden Syriens. Ein aus Teilen der Türkei, Iraks, Irans und Syriens bestehendes unabhängiges Kurdistan ist dabei nicht zwingend im Interesse vieler syrisch-kurdischer Politiker. Zwar wird die langfristige Perspektive eines eigenen Staates vor allem propagandistisch genutzt; die aktuell angestrebte pragmatische Lösung umfasst jedoch vor allem eine Selbstverwaltung Rojavas, die kulturelle Gleichstellung und ja, auch die Anerkennung der kurdischen Selbstverwaltung durch die Regierung in Damaskus.

Bislang stoßen die Kurden nur zaghaft in Gebiete vor, in denen keine klare kurdische Bevölkerungsmehrheit lebt – und wenn, wie im Falle der Eroberung Tell Kocers im Oktober 2013, nur mit Unterstützung lokaler arabischer Stammesmilizen. Nur mit leichten Waffen ausgerüstet, könnten sie Hinterhalten kaum etwas entgegensetzen, ein langsames Zerfasern ihres eng gespannten Netzes aus Kontrollposten und Straßensperren würde es islamistischen Kämpfern erlauben, die kurdischen Rekruten vom Nachschub abzuschneiden. Noch wichtiger ist es für die Milizen aber, die Moral hochzuhalten und den Zivilisten in Qamischli und anderen Orten eine stabile Sicherheitslage zu bieten.

Teil dieser Taktik ist es, auch die assyrischen Christen der Provinz Hasaka auf die kurdische Seite zu ziehen und sich als Schutzmacht aller ethnischen Minderheiten Syriens zu inszenieren. Vehikel dieser Politik ist die Syriac Union Party, die sich im Gegensatz zu den mehr Assad-nahen christlichen Parteien eben nicht religiös als christlich, sondern ethnisch als „assyrisch“ definiert. Das ist eine politische Kampfansage an Damaskus, da in den Augen der Baath-Partei sämtliche syrischen Christen Araber sind. Um die Assyrer stärker an sich zu binden, gestand die kurdische Selbstverwaltung der Syriac Union Party ebenfalls das Recht zu, eigene Polizei- und Militäreinheiten aufzustellen.

Je stärker der Bürgerkrieg ethnisch bestimmt wird, Dörfer aufgrund ihrer religiösen Zusammensetzung von syrischer Armee oder Rebellen angegriffen werden, desto effizienter kann sich die YPG als neutrale Schutzmacht der syrischen Minderheiten darstellen. Einerseits hat der kurdische Norden tatsächlich vielen Menschen Zuflucht geboten, gleichzeitig lässt sich mit dem Anspruch, eine Schutzzone zu unterhalten, der schleichende Machtgewinn kurdischer Gruppen vorantreiben.

Strategie vom irakischen Nachbarn

Dabei greifen die syrischen Kurden auf eine Strategie ihrer irakischen Nachbarn zurück: Seit einigen Jahren erleben die christlichen Gemeinden von Mosul und Kirkuk einen Exodus – Tausende irakische Christen verlassen aus Angst vor Anschlägen und interreligiöser Gewalt das Land. Beide Städte liegen geografisch außerhalb der kurdischen Selbstverwaltungszone, haben beide jedoch eine große kurdische Minderheit und werden politisch von Erbil beansprucht. In den vergangenen Monaten baute Barzsani die Präsenz der nordirakischen Peschmerga-Milizen im Umland von Mosul stetig aus. Insbesondere die Gemeinschaft der Schabak, eine rund 100 000 Menschen umfassende Volksgruppe, die sich mehrheitlich als kurdisch definiert, setzte sich für eine Angliederung Mosuls an den Nordirak ein.

Für den Aufbau einer Selbstverwaltung müssten die syrischen Kurden zwingend ihr Territorium auf die Dörfer im Nordosten ausweiten, die über keine kurdische Bevölkerungsmehrheit verfügen, so die PYD-Parteilinie. Den Flickenteppich in ein echtes Staatsgebiet zu verwandeln, das sorgt im Nachbarland Türkei für Aufregung; verhindern kann Ankara diesen Prozess allerdings nicht. Eine Emanzipation der kurdischen Kultur und Sprache in einem Vielvölkerstaat Syrien wäre für die Türkei ohne weiteres zu tolerieren. Das Entstehen einer kurdischen Selbstverwaltung versucht sie zwar durch je nach Lesart mal aktivere, mal nur passive Unterstützung islamistischer Kampfgruppen hinauszuzögern. Letztlich wird die Türkei aber auch zu Rojava ein pragmatisches Verhältnis entwickeln – wie sie es mit dem autonomen Nordirak bereits seit einiger Zeit unterhält; die Anfang Dezember unterzeichneten Lieferverträge für kurdisches Erdöl unter Ausschluss der Zentralregierung in Bagdad sind bester Beleg dafür. Deutlich spannender und offener ist da die Frage, ob die tribal geprägte arabische Bevölkerung im Nordosten eine kurdische Herrschaft akzeptieren wird.

Mitte Januar verkündete Salih Muslim eine vollständig von der PYD dominierte kurdische Übergangsregierung. Akram Hossum, früher Mitglied im KNC-Sekretariat und nicht einmal Kennern der kurdischen Politik ein Begriff, ist neuer Regierungschef. Zwar sind er und weitere Regierungsmitglieder auf dem Papier unabhängige Politiker, faktisch sind sie aber an die Vorgaben der PYD gebunden. Im Interview gibt es der zukünftige Regierungssprecher Joan Mohammad offen zu: „Wenn Muslim einen vernünftigen Vorschlag macht, dann handelt die Regierung. Wir brauchen uns da keine Illusionen zu machen, die PYD dominiert die Politik.“

Nils Metzger 
ist Redakteur der Zeitschrift Zenith in Berlin.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar/März 2014, S. 92-97

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