Essay

30. Dez. 2024

Pazifismus als Tarnkappe

„Nie wieder Krieg“: Das klingt wie ein durch und durch ehrenwertes Ziel. Doch nur allzu oft hat der Pazifismus das Gegenteil von Friedenssicherung bewirkt. Nicht selten endeten radikale Pazifisten sogar in einer Liaison mit dem Totalitarismus. Und was sich heute in Deutschland als konsequente Friedensliebe ausgibt, ist in Wahrheit meist ein pseudomoralisch drapierter Nationalegoismus. 

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Dass Pazifismus grundsätzlich eine ehrenwerte Position sei, gilt selbst unter jenen als ausgemacht, die ihn für illusionär, naiv oder unter Umständen sogar gefährlich halten. Doch kann es einen authentischen, gleichsam unschuldigen Pazifismus nach den Erfahrungen mit dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts und angesichts der aktuellen kriegerischen Bedrohung der demokratischen Welt durch aggressive Autokratien überhaupt noch geben? Aktuell jedenfalls dient das pazifistische Label vor allem einem monströsen Täuschungsmanöver. 

Als etwa die Anhängerschaft der Kreml­propaganda-Lautsprecherin ­Sahra Wagenknecht am Tag der deutschen Einheit 2024 auf den Straßen der Hauptstadt zusammenströmte, um gegen Waffenlieferungen an die Ukraine Stimmung zu machen, gab sie das als „Friedens­demonstration“ aus. In der Medienberichterstattung wurde diese Falschdeklaration weitgehend un­hinterfragt übernommen. So hieß es in den Meldungen meist, es hätten in Berlin mehrere Zehntausende Menschen „für den Frieden“ demonstriert.

Dabei konnte man sich durch genaueres Hinsehen leicht davon überzeugen, dass hier in der großen Mehrheit auf Feindschaft gegen das westliche Verteidigungsbündnis eingeschworene Verharmloser des russischen Vernichtungskriegs gegen die Ukraine zusammenströmten, um die Schuld daran der NATO in die Schuhe zu schieben. Stark vertreten waren neben „Friedens“-Aktivisten aus dem Dunstkreis kommunistischer Sekten wie DKP und MLPD auch Unter­stützer der palästinensischen Terrororganisation Hamas sowie anderer militanter „antiimperialistischer“ Gruppierungen. Als der SPD-MdB Ralf Stegner, der sich durch seinen Auftritt bei dieser Kundgebung der dort vermeintlich aufkeimenden „Friedensbewegung“ anbiedern wollte, in seiner Rede den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine völkerrechtswidrig nannte, wurde er von der Menge ausgebuht.

Doch auch wenn sich Kremlagenturen wie die Wagenknecht-Partei BSW noch so schamlos auf die Seite eines Aggressors schlagen, der einen Genozid mitten in Europa verübt – die Behauptung, es ginge ihnen um nichts als den Frieden, sichert ihnen in der Öffentlichkeit gleichsam reflexhaft moralisch mildernde Umstände. Ihren vermeintlichen Friedenswillen lässt sich das BSW sogar von SPD und CDU in Präambeln zu Landeskoalitionsverträgen kodifizieren. Das aufgesetzte pazifistische Ideal wirkt wie eine Tarnkappe, unter der Kräfte, die ganz anderes im Sinne haben als die gewaltfreie Regelung der menschlichen Verhältnisse, ihre wahren Absichten verbergen können.

Das ist freilich alles andere als neu – auch wenn hierzulande nur wenigen im Gedächtnis ist, dass sich auch die Nationalsozialisten in den ersten Jahren ihrer Herrschaft als inbrünstige Verteidiger des Weltfriedens ausgaben. „Käme ein Krieg, er wäre das größte Unglück für die Welt“, heuchelte etwa Propagandaminister Joseph Goebbels 1933 mit tief besorgter Unschuldsmiene in die Kamera. Mit dieser verlogenen „Friedens“-Rhetorik gelang es der NS-Propaganda, den Westen derartig einzulullen, dass er auf rechtzeitige Aufrüstung verzichtete und Hitler die „friedliche“ Annexion Österreichs, des ­Sudetenlands und schließlich des restlichen tschechischen Gebiets erlaubte. 

Noch konsequenter als das NS-Regime machte der sowjetische Totalitarismus den Ruf nach „Frieden“ zum Kernstück seiner ideologischen Vernebelungsstrategie. Ob es der Pakt mit Hitler 1939 mit der daraus folgenden Annexion Ostpolens und des Baltikums oder die Niederschlagung der Aufstände in Ungarn 1956 und Prag 1968 sowie der Bau der Berliner Mauer 1961 waren – stets gaben die kommunistischen Führer ihre Gewaltpolitik als „Friedenssicherung“ gegen finstere Kriegsabsichten des westlichen „Imperialismus“ aus. Dementsprechend unterwanderten sie im Kalten Krieg systematisch „Friedensbewegungen“ in den westlichen Demokratien. Ganz in diesem Sinne spekulieren heute Putin-Apologeten von links bis rechts mit wachsendem Erfolg auf pazifistische ­Reflexe in weiten Teilen der demokratischen Öffentlichkeit, um die Widerstandsbereitschaft der westlichen Gesell­schaften gegen Russlands kriegerischen Expansionismus zu ­unterminieren.


Die dunkle Seite des Pazifismus

Meist wird indes angenommen, dass es sich bei diesen Machenschaften um einen Missbrauch des wahren pazifistischen Credos handelt. Doch gegenüber einer solchen pauschalen Nobilitierung „authentischen“ pazifistischen Gedankenguts ist Skepsis angebracht. Angesichts der zahlreichen bekennenden Pazifisten, die als Sympathisanten oder sogar aktive Kollaborateure totalitärer Regime endeten, stellt sich die Frage, inwieweit der Pazifismus selbst nicht eine dunkle, abgründige Seite in sich trägt, und ob sich hinter der radikalen Friedfertigkeit nicht oft eine untergründige Faszination für totalitäre Gewalt verbirgt.

Als der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler 1983 erklärte, der Pazifismus der 1930er Jahre habe „Ausch­witz erst möglich gemacht“, brach vonseiten der Linken eine Empörungswelle über ihn herein. Selbst Willy Brandt ließ sich zu der Invektive hinreißen, Geißler sei „seit Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land“. Dabei hatte der Christdemokrat mit seinem pointierten Satz sowohl Thomas Mann, der 1938 den Pazifismus als eine Kraft bezeichnete, die „den Krieg herbeiführt, statt ihn zu bannen“, als auch den demokratischen Sozialisten George Orwell auf seiner Seite, der 1942 den Pazifismus als „objektiv profaschistisch“ bezeichnete. Tatsächlich hatte Geißler Recht: Hätten die Westmächte Hitlers Expansionismus nicht jahrelang tatenlos zugesehen, hätte er wohl nie den Zweiten Weltkrieg vom Zaun brechen können, und es wäre in der Konsequenz nicht zum Holocaust gekommen. Zwar trägt nicht ausschließlich der Pazifismus die Verantwortung für die westliche Beschwichtigungspolitik – führende Appeaser wie Neville Chamberlain waren keine Pazifisten, sondern hofierten den deutschen Diktator mit einer Mischung aus Furcht, Opportunismus und Berechnung.

Doch es trifft zu, dass der Pazifismus im 20. Jahrhundert eine überwiegend verheerende Rolle gespielt hat. Denn eine konsequente pazifistische Haltung ließ sich nur unter Ausblendung der Frage durchhalten, wie man sich Mächten unbewaffnet erwehren soll, die Krieg, Vernichtung und Unterwerfung anderer Völker als ihren eigentlichen Daseinszweck betrachten, wie dies heute bei Putins Russland der Fall ist. 

Aus dieser Erkenntnis heraus sind Pazifisten wie Albert Einstein von ihrer Position abgerückt, als sie mit dem Vordringen des absoluten Bösen konfrontiert waren. Angesichts der nationalsozialistischen Machtergreifung erklärte Einstein in den 1930er Jahren: „Bis 1933 habe ich mich für die Verweigerung des Militärdienstes eingesetzt. Als aber der Faschismus aufkam, erkannte ich, dass dieser Standpunkt nicht aufrechtzuerhalten war, wenn nicht die Macht der Welt in die Hände der schlimmsten Feinde der Menschheit geraten soll. Gegen organisierte Macht gibt es nur organisierte Macht; ich sehe kein anderes Mittel, so sehr ich es auch bedaure.“ 

Wer hingegen selbst angesichts dieser ultimativen Bedrohung an den eigenen pazifistischen Maximen keine Abstriche machen wollte, dem blieb nichts anderes übrig, als sich die totalitären Aggressoren systematisch schönzureden. In ihrem Eifer, die Bedrohung durch den Totalitarismus herunterzuspielen, verstrickten sich etliche Pazifisten immer tiefer in dessen Propagandalügen, um sich oftmals sogar ganz mit ihm zu identifizieren.

Ein berühmtes Beispiel dafür ist der Automobilbau-Pionier Henry Ford, der als grundsätzlicher Kriegsgegner zum radikalen Antisemiten und frühen Förderer Hitlers und der NSDAP wurde. 1915 brach Ford mit einem „Friedensschiff“ nach Europa auf, wo er sich als Vermittler zwischen den Kriegsparteien des Ersten Weltkriegs anbieten wollte. Sein Versuch, sich als privater Friedensstifter zu betätigen, scheiterte jedoch kläglich. Nach dem Krieg entpuppte sich Ford als fanatischer Antisemit, der in seinem Buch „Der Internationale Jude“ das Judentum für alle Weltübel verantwortlich machte. In den 1930er Jahren wurde der Industrie-Tycoon Teil der isolationistischen Strömung, die unter dem Slogan „America First“ gegen den Kriegseintritt der USA an der Seite der europäischen Demokratien agitierte.

Nach der Kapitulation Frankreichs 1940 lief diese Gruppierung übrigens nicht nur gegen eine amerikanische Kriegsbeteiligung Sturm, sondern auch gegen weitere ­Waffenlieferungen an Großbritannien. Diese seien sinnlos, da die Briten den Krieg gegen Hitler ohnehin verlieren würden – ein „Argument“, das auch von heutigen „Kriegsgegnern“ in Bezug auf die Ukraine verwendet wird. Die Wortführer des damaligen Isolationismus, darunter neben Henry Ford auch Charles Lindbergh, bezichtigten zudem das „­Weltjudentum“, die USA in den Krieg treiben zu wollen.


Liaison zwischen Pazifismus und Totalitarismus

Der Gedanke, dass zwischen Pazifismus und Antisemitismus eine untergründige Verbindung bestehen könnte, scheint auf den ersten Blick befremdlich. Doch auf eine perverse Weise bot auch der Nationalsozialismus eine latente pazifistische Botschaft an. Hitler wurde nicht müde, das Judentum für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verantwortlich zu machen und es zu bezichtigen, es wolle die Völker erneut in einen großen Krieg stürzen. Damit suggerierte er, dass, wären die Juden erst einmal beseitigt, „die Völker“ in friedlicher Harmonie würden zusammen­leben können. Das scheint auf manche Pazifisten nicht seine Wirkung verfehlt zu haben.

So auf Pierre Laval, der zu einem führenden Repräsentanten der Vichy-Kollaborationsregierung avancierte und noch radikaler als Marschall Pétain die Angleichung des französischen Staates an das Vorbild des Nationalsozialismus propagierte. Seine politische Karriere hatte Laval als Vertreter des pazifistischen Flügels der französischen Sozialistischen Partei begonnen. Als fanatischer NS-Kollaborateur wurde er nach dem Krieg hingerichtet.

Viele andere französische Handlanger der NS-Besatzung ab 1940 stammten ursprünglich aus der pazifistischen Linken. Der Politikwissenschaftler Yves Willers hat kürzlich auf ­LinkedIn eine Reihe von ihnen porträtiert und dabei frappierende Ähnlichkeiten mit dem heutigen Wagenknecht-Bündnis festgestellt. So veröffentlichte der linkspazifistische Politiker Marcel Déat 1939 einen Leitartikel unter der Schlagzeile „Mourir pour Dantzig?“ („Sterben für Danzig?“), die bald als Slogan der Gegner eines französischen Kriegseintritts gegen Hitlerdeutschland berühmt und berüchtigt wurde. Déat schuf eine ganz auf seine Person zugeschnittene links-rechts-gestrickte Partei, die ab 1940 zur bedingungslosen Zusammenarbeit mit den NS-Besatzern aufrief. Anhänger Déats beteiligten sich schließlich als Freiwillige an der Jagd auf französische Juden, die zur Deportation in die Vernichtungslager zusammengetrieben wurden.

Aber auch auf Vorläufer des verlogenen „Pazifismus“ der AfD weist Willers hin – etwa auf Jacques Doriot, den Führer der rechtsextremen Partei PPF, die, erstaunlich „unpatriotisch“, aus Hingabe an den deutschen Diktator für die Entwaffnung Frankreichs plädierte.

Dass es zu dieser Liaison zwischen Pazifismus und Totalitarismus gekommen ist, war nicht unbedingt vorauszusehen. Führt die Suche nach den Quellen des modernen Pazifismus doch eigentlich direkt in die Epoche der Aufklärung und des entstehenden Liberalismus. Die Abscheu vor dem Krieg ist eines der wertvollsten Bestandteile ihres Erbes. Aus ihr folgt eine Neigung zum Pazifismus, der eigentlich die konsequente Schlussfolgerung aus der liberalen Vision ist, den Krieg als vor­aufklärerisches Relikt aus den zwischenstaatlichen Beziehungen zu verbannen. Den Maßstab hierfür setzte Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“, die das Stiften und die Gewährung des Friedens als Aufgabe der Politik definierte: „Das Recht der Menschen muss heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten.“

Eine Frucht der bürgerlich-liberalen Antikriegstradition war der Pazifismus Bertha von Suttners. Ihre Forderungen nach einem internationalen Gerichtshof oder nach einer Friedensunion aller Staaten, die jeden Angriff eines Staates gegen einen anderen mit gemeinschaftlicher Kraft zurückweisen müsse, waren visionär. Wie eine solche Zurückweisung funktionieren könnte, ohne gegen den Friedensbrecher im äußersten Fall Gewalt anzuwenden, blieb allerdings offen. Den Ausbruch des Weltkriegs 1914 erlebte Bertha von Suttner nicht mehr. Und im Ersten Weltkrieg prinzipieller Kriegsgegner zu sein, war etwas wesentlich anderes als im Zweiten Weltkrieg. Denn während das Gemetzel der Jahre 1914 bis 1918 die europäische Zivilisation in Trümmer legte, trat im zweiten großen Krieg eine Macht auf, die das Fundament der Zivilisation schlechthin vernichten wollte und ab einem bestimmten Punkt nur durch Krieg aufzuhalten war. Die Lehre daraus war, dass zur Sicherung des Friedens die Garantie eines Daseins in Menschenwürde treten muss. 

Auf diesem Weg haben die liberalen Demokratien im vergangenen dreiviertel Jahrhundert enorme Fortschritte erzielt. Namentlich die Europäische Union gründet auf der obersten Maxime, dass es zwischen den Staaten des Kontinents nie wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen darf und dass eine demokratische Ordnung dafür die Voraussetzung ist. Doch diese Friedensliebe kann für freiheitliche Gesellschaften auch zur Gefahr werden. Dann nämlich, wenn ihnen das Bewusstsein dafür abhanden kommt, dass der Frieden gegen Mächte, die ihn gewaltsam brechen wollen, notfalls bewaffnet verteidigt werden muss. 


Gewaltlosigkeit nicht per se erfolgreich

Doch hat die Politik der Gewaltlosigkeit im 20. Jahrhundert nicht enorme Erfolge zu verzeichnen? Der wohl spektaku­­lär­ste ist der Sieg der indischen Unabhängigkeitsbewegung unter Führung von Mahatma Gandhi über den britischen Kolonialismus. Doch Gandhis Strategie des friedlichen Widerstands konnte nur funktionieren, weil er es mit einer Kolonialmacht zu tun hatte, deren repressiver Gewaltanwendung durch eine demokratische Öffentlichkeit im Mutterland Grenzen gesetzt wurden. Als der britische Kolonialismus bezwungen war, brachen die bis dahin unter der Decke gehaltenen Gewaltpotenziale innerhalb der antikolonialen Bewegung mit exzessiver Brutalität auf. Dem ethnischen und religiösen Hass, der sich nun Bahn brach und zur Teilung der ehemaligen Kolonie in Indien und Pakistan führte, hatte Gandhi mit seinem Glauben an die Erlösung der Menschheit durch die innere Bekehrung zur Gewaltfreiheit nichts mehr entgegenzusetzen.

Die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA hielt sich in ihrem Kampf gegen die diskriminierenden Rassengesetze in den Südstaaten strikt an Martin Luther Kings Strategie des gewaltfreien zivilen Ungehorsams, obwohl sie massiver staatlicher Repression und brutaler rassistischer Gewalt ausgesetzt war. Sie triumphierte, weil sie zunehmend Rückendeckung durch die Zentralregierung in Washington sowie die bundesstaatliche Justiz erhielt – und den wachsenden Konsens der US-Öffentlichkeit auf ihrer Seite hatte, dass Rassentrennung mit den Grundwerten der amerikanischen Demokratie unvereinbar ist. Der Civil Rights Act von 1964 setzte der Segregation dann ein endgültiges Ende. Und Nelson Mandela gelang der friedliche Übergang Südafrikas zur Demokratie, als das Apartheidregime jegliche internationale Unterstützung verlor. 

Zahlreiche Beispiele wie das Tiananmen-Massaker in Peking 1989 zeigen dagegen, dass gewaltloser Widerstand nichts gegen Regime ausrichten kann, die bei der Niederschlagung von Protesten keinerlei Skrupel und rechtliche Begrenzung kennen. Dies hat sich an der Zerschlagung der belarusischen Demokratiebewegung durch die von Moskau gesteuerte ­Lukaschenko-Diktatur gezeigt. Dagegen setzten sich die Demonstranten auf dem Maidan in Kyjiw mit Selbstverteidigungstrupps erfolgreich gegen die Gewalt des Regimes zur Wehr. Und jüngst konnte das Assad-Regime in Syrien nur durch Waffengewalt gestürzt werden. Das zeigt, dass die Angemessenheit begrenzter Gegengewalt keine metaphysische, sondern eine situativ zu entscheidende Frage ist.


Gewaltfrei, aber nicht pazifistisch

In diesem Sinne waren osteuropäische Dissidenten­bewegungen wie die Solidarność in Polen und die Charta 77 in der Tschechoslowakei gewaltfrei, aber nicht pazifistisch. Ihre Entscheidung, sich im Widerstand gegen den kommunistischen Totalitarismus nur friedlicher Mittel zu bedienen, hinderte später etwa Václav Havel nicht daran, als Präsident der Tschechischen Republik sein Land in das westliche Bündnis zu führen, dem es 1999 beitrat. Und auch die Köpfe der Solidarność um Lech Wałęsa strebten, nachdem sie in der wiederentstandenen polnischen Demokratie Verantwortung übernommen hatten, zügig die Mitgliedschaft in der NATO an. Dass Friedenssicherung verlässlich nur auf der Basis militärischer Verteidigungsfähigkeit möglich ist, stand für sie außer Frage.

An dem unblutigen Ende des Kalten Krieges hatte die militärische und namentlich die nukleare Abschreckung einen maßgeblichen Anteil. Dies wird in Deutschland gerne übersehen, wo der Kollaps des Sowjetkommunismus mit Vorliebe allein dem beharrlichen „Dialog“ im Zuge der ­Entspannungspolitik zugeschrieben wird.


Antiamerikanisch eingefärbter Neutralismus 

Dass das pazifistische Element in den hiesigen Diskursen eine besonders prägende Rolle spielt, hat allerdings nicht nur mit dem lobenswerten Gebot zu tun, nie wieder in den Militarismus der deutschen Vergangenheit zurückzufallen. Der Pazifismus diente im Deutschland der Nachkriegszeit auch als Mittel der Entlastung von eigener Mitverantwortung und Mitschuld an der NS-Herrschaft. 

Exemplarisch dafür steht der protestantische Pastor Martin Niemöller, der in den 1950er und 1960er Jahren zu einer ikonischen Gestalt der „Friedensbewegung“ aufstieg. Obwohl Befürworter des Nationalsozialismus, landete Niemöller 1938 wegen seiner theologischen Positionen im Kontext der Bekennenden Kirche als „persönlicher Gefangener“ Hitlers im Konzentrationslager, ohne grundsätzlich mit der NS-Ideologie – und seinem eigenen Antisemitismus – zu brechen. Aus der Haft heraus richtete er bei Kriegsausbruch 1939 ein Gesuch an den „Führer“, wie im Ersten Weltkrieg als U-Boot-Kommandant Dienst tun zu dürfen, was ihm jedoch verweigert wurde. Nach dem Krieg trat Niemöller als radikaler Pazifist auf, der sich vehement gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und insbesondere ­gegen die Atomrüstung aussprach, wobei er keine Berührungsängste mit dem kommunistischen Totalitarismus zeigte. 1966 erhielt er sogar den Lenin-Friedenspreis der UdSSR.

Gegen „den Krieg“ an sich zu sein, bot Nationalkonservativen wie Niemöller, die durch ihre Nähe zum Nationalsozialismus diskreditiert waren, die Möglichkeit, von dem singulären verbrecherischen Charakter des NS-Vernichtungskriegs ab­zulenken und sich dabei noch pseudomoralisch über die westlichen Alliierten zu erheben – vor allem über die USA, die gerne als besonders kriegswütig dargestellt ­wurden. Eine zentrale symbolische Bedeutung kam dabei dem Atombombenabwurf auf Hiroshima zu, der in deutschen Friedenskreisen bevorzugt als ein mindestens so großes Verbrechen wie die von NS-Deutschland begangenen dargestellt wurde.

Der antiamerikanisch eingefärbte Neutralismus blieb das Grundelement der „Friedensbewegung“ bis zu ihrem Höhepunkt, den Massenprotesten gegen die NATO-Nachrüstung Anfang der 1980er Jahre. Zwar gab es durchaus auch aufrichtige Pazifistinnen wie Petra Kelly, die sich dieser ideologischen Schlagseite widersetzten und ihre Stimme nicht nur gegen die NATO-Mittelstreckenwaffen, sondern auch gegen die sowjetischen SS 20 erhoben. De facto jedoch hätte der von der „Friedensbewegung“ geforderte Verzicht des west­lichen Bündnisses auf die Stationierung der Pershing 2 einen strategischen Triumph der Sowjetunion bedeutet.


Nie wieder (vom) Krieg (behelligt werden)

Insgesamt kulminierte die deutsche Aufarbeitung der Vergangenheit in der Maxime „Nie wieder Krieg“. Doch in Wahrheit war damit primär gemeint, dass die Deutschen nie wieder vom Krieg behelligt werden sollten. Aus Kriegen, von denen andere Völker betroffen waren, sollte sich das geläuterte Deutschland daher heraushalten – auch wenn diese mit genozidalen Akten verbunden waren. So stellten sich führende Intellektuelle wie Jürgen Habermas und Günter Grass im Balkan-Krieg seit 1992 gegen eine westliche Intervention zum Schutz der von einem Völkermord bedrohten Bosnier. Ihre Argumente waren mit denen der heutigen Gegner von Waffenlieferungen an die Ukraine weitgehend identisch. Bestand ihre Hauptsorge doch da­rin, eine zu „einseitige“ Parteinahme des Westens könnte zu einer „Eskalation“ des Konflikts führen. Die Furcht davor, dass etwas so Archaisches wie der Krieg wieder in die eigene Oase zivilisierter Friedfertigkeit eindringen könnte, stand über der Empathie gegenüber den Opfern einer genozidalen Aggression. Woran sich zeigte: Was sich in Deutschland als „Pazifismus“ ausgibt, ist in Wahrheit meist ein national­egoistischer Abstentionismus, der sich mit einem hohen Moralanspruch tarnt. Das hat sich bis heute nicht geändert.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2025, S. 106-111

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Dr. Richard Herzinger arbeitet als Publizist in Berlin. Seine Website „hold these truths“ finden Sie unter www.herzinger.org.

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