Titelthema

18. Nov. 2022

Pakt von Drache und Löwe

Zur Annäherung zwischen China und Iran

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Bild: Zeichnung einer Sattelitenansicht einer Iranischen Atomanlage
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Fariba Adelkhah wurde im Jahr 2019 unrechtmäßig im Iran verhaftet und der Gefährdung der nationalen Sicherheit sowie der Verbreitung regimefeindlicher Propaganda beschuldigt. Die französisch-iranische Anthropologin ist Forschungsdirektorin am Institut d’études politiques de Paris. Sie wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt und sitzt mit zahlreichen politischen Gefangenen im berüchtigten Evin-Gefängnis am Rande Tehe­rans. Berichte und Videos belegen, dass Häftlinge dort gefoltert werden. Ihr Schicksal ist kein Einzelfall. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft Iran die Geiselnahme Unschuldiger vor, um politische Ziele zu erreichen.



Drei Jahre später, Sommer 2022. Die iranisch-amerikanische Menschenrechtsaktivistin Masih Alinedschad entging einem Anschlag: Ein schwer bewaffneter Mann versuchte, in ihr Haus in Brooklyn einzudringen und wurde festgenommen. Bereits im vorherigen Jahr hatte der iranische Geheimdienst versucht, Alinedschad in den Iran zu entführen und ihre feministische Kritik an der Unterdrückung der Frauen und dem Schleier­zwang in der Islamischen Republik zu beenden. Dieses grausame Schicksal traf den Journalisten Ruhollah Zam, der aus seinem französischen Exil in den Irak gelockt, entführt und 2020 im Iran hingerichtet wurde.



Sprung in die Gegenwart. 13. September 2022. Die 22-jährige Kurdin Jina Mahsa Amini wurde in Teheran von der Sittenpolizei in Gewahrsam genommen und ins Koma geprügelt. Drei Tage später stirbt sie. Der Grund: ihr nicht korrekt sitzendes Kopftuch. Kurz darauf brechen Proteste aus, die sich aus den kurdischen Gebieten über das ganze Land ausbreiten. Videos zeigen, wie Frauen ihre Kopftücher in der Öffentlichkeit abnehmen – eine direkte Herausforderung des iranischen Regimes. Wie 2009 und 2019 reagiert das Regime mit Gewalt auf die Proteste. Um dieses Vorgehen vor der Welt zu verschleiern und die Vernetzung der Protestierenden zu erschweren, wird erneut das Internet abgeschaltet. Dennoch halten die Proteste an und die Forderungen weiten sich aus. Frauen und Männer fordern gemeinsam das Ende der Islamischen Republik, während Bilder von Repräsentanten des Regimes zusammen mit Kopftüchern verbrannt werden.



Bei der Meinungsfreiheit ganz hinten

Angesichts der Menschenrechtsverletzungen im Iran überraschen diese Fälle nicht. Ulrike Becker, Forschungsleiterin beim Mideast Freedom Forum Berlin, verweist darauf, dass der Iran zu den repressivsten Staaten der Welt gehört. Das Land steht bei der Meinungsfreiheit im Bericht von Reporter ohne Grenzen auf Platz 178 von 180 Staaten – gefolgt nur von Eritrea und Nordkorea. Im Iran werden Frauen systematisch unterdrückt, ebenso ethnische und sexuelle Minderheiten. Religiöse Minderheiten wie die Bahai werden systematisch verfolgt. Auf homosexuelle Handlungen steht die Todesstrafe. Proteste gegen den Klerus, gegen Korruption und Willkürherrschaft oder gegen den Schleierzwang werden mit dem Vorwurf der Islamfeindlichkeit diskreditiert und gewaltsam niedergeschlagen. Laut dem World Justice Project belegte der Iran im Jahr 2021 den letzten Platz aller 139 analysierten Staaten im Hinblick auf die staatliche Achtung von Menschenrechten.



Das erste Opfer des Regimes ist die Bevölkerung; seine Gewalt erstreckt sich jedoch weit über die Landesgrenzen hinaus. Neben der Terrorunterstützung auf quasi der ganzen Welt destabilisiert der Iran seine Nachbarschaft. Iranische Stellvertretergruppen untergraben oder beeinflussen die Staatlichkeit im Libanon, Irak, in Syrien und ­Jemen. Die Verbindung aus Irans revisionistischer Außenpolitik und seinem Atomprogramm wird in der ­MENA-Region (Middle East and North Africa) als derartige Bedrohung wahrgenommen, dass sie sogar die Annäherung zwischen Israel und arabischen Staaten im Rahmen der Abraham-Abkommen ermöglichte. Als Folge seiner atomaren Bestrebungen wird der Iran vom Westen isoliert und sanktioniert. Seitdem die USA unter Präsident Trump 2018 das umstrittene Atomabkommen (JCPOA) verlassen haben, ist der Sanktionsdruck immens. Die Bevölkerung leidet unter hoher Inflation. Iran befindet sich in einer prekären politischen und wirtschaftlichen Lage, bei der Suche nach neuen Partnern orientiert sich Teheran ostwärts.



China strebt nach Kontrolle der MENA-Region

China hat sein Engagement in der MENA-Region zuletzt erheblich ausgeweitet. Zwei Jahre, nachdem US-Präsident Obama 2011 den vielzitierten „pivot to Asia“ (etwa: Schwenk nach Asien) angekündigt und somit perspektivisch Räume in der MENA-Region geöffnet hatte, präsentierte Chinas Präsident Xi seine Belt and Road Initia­tive, die zahlreiche Projekte in knapp 70 Ländern einschließt. Ausgelöst durch den gigantischen Bedarf an Ressourcen und Absatzmärkten vergrößerte Peking seine Investitionen auch in den Staaten der MENA-Region und entwickelt sich dort von einem ökonomischen zu einem geopolitischen Akteur, der die Kontrolle über die Region von den USA schrittweise übernehmen möchte.



Im Gegensatz zu zahlreichen europäischen Staaten ist Peking in der Region nicht durch eine koloniale Vergangenheit belastet. Es beruft sich auf ein strikt westfälisches Verständnis von staatlicher Souveränität, das Nichteinmischungsprinzip und die territoriale Integrität von Staaten sind absolut. Diese Umstände machen chinesische Investitionen attraktiv für autoritäre Staaten wie den Iran. Im Gegensatz zur EU sind chinesische Investitionen an keinerlei Konditionalität bei Menschenrechten oder Umweltschutz geknüpft.



Das kommt Peking gelegen. In erwähntem Ranking liegt China in Sachen Menschenrechte nur drei Plätze vor dem Iran auf Platz 136 von 139 und richtet (gefolgt vom Iran) weltweit die meisten Menschen hin. Wenn chinesische Investitionen angelockt werden sollen, ist Kritik an der Ein-­China-Politik vis-à-vis Taiwan, am sogenannten „Sicherheitsgesetz“ für Hongkong, am Umgang mit den Uiguren, an der orwellianischen Massenüberwachung der Bevölkerung oder am aggressiven Vorgehen im Südchinesischen Meer tabu. Zahlreiche Staaten geraten so in eine asymmetrische Abhängigkeit von China. Peking verlangt politischen Rückhalt, um die lauter werdende Kritik demokratischer Staaten abzuschwächen. Dieses Kalkül geht auf: Trotz ihrer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung unterstützen die meisten Staaten der MENA-Region beispielsweise das ­chinesische Vorgehen gegen die Uiguren in Xinjiang.



China ist Irans größter Handelspartner und wichtigste Quelle ausländischer Investitionen. Beide Staaten teilen eine autoritäre Ideologie und die Ablehnung der von den Vereinigten Staaten geprägten internationalen Ordnung. Außerdem sehen sich beide Staaten als Großmächte, die durch den Westen kolonialisiert wurden und nun ihren „rechtmäßigen“ Platz in der internationalen Arena zurückfordern. China ist der wichtigste ­Abnehmer von iranischem Erdöl. Insbesondere seit dem US-Sanktionsregime gegen den Iran von 2018 waren die Exporte nach China überlebenswichtig für Teheran. Als Folge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine verliere der Iran jedoch aktuell Marktanteile, da China aufgrund der vorteilhafteren Konditionen verstärkt Öl aus Russland kaufe, sagt Azadeh Zamirirad, stellvertretende Forschungsgruppenleiterin Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik, im Gespräch.



Annäherung zu beiderlei Nutzen

Zuletzt haben sich die beiden Regime weiter angenähert, siehe ihr langfristiges Kooperationsabkommen, den iranischen Antrag auf Mitgliedschaft in der BRICS-Staatengruppe sowie den Beitrittsprozess Teherans zur Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, der größten Regionalorganisation der Welt. Das Kooperationsabkommen wurde im März 2021 unterzeichnet und schreibt die politische, strategische, wirtschaf­t­liche und militärische Kooperation beider Länder für die nächsten 25 Jahre fest. Während China sich langfristig Öl zu günstigen Konditionen sichert, will es im Gegenzug 400 Milliarden Dollar in iranische Infrastrukturprojekte investieren. So soll ein Wirtschaftskorridor zwischen Zentral- und Ostasien entstehen, der die Geopolitik in der Region langfristig verändert. Das Abkommen ist in der iranischen Bevölkerung allerdings umstritten, es wird als Ausverkauf von Interessen kritisiert.



Keine Scheu vor Konfrontation

Der Beitritt zur Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit ist bedeutsam, da diese die (wenn auch eingeschränkte) militärische Kooperation der Mitgliedstaaten einschließt; bislang fehlt Iran die Einbindung in ein System kollektiver Sicherheit. Der Beitritt war ein lange gehegter Wunsch Irans, der bislang von Peking abgelehnt wurde – wohl, um die USA nicht zu brüskieren. China scheut sich nun aber weniger, den Konfrontationskurs mit US-Interessen in der MENA-Region zu suchen. So kam es jüngst vermehrt zu chinesisch-iranischen Militärübungen, häufig unter Einbeziehung Moskaus. „China, Russland und Iran bilden eindeutig einen Block, der sich gegen die Hegemonie der USA stellt. Die Ukraine-Krise hat die Beziehungen zwischen Peking, Moskau und Teheran weiter gestärkt“, sagt Dost Mohammad Barech vom Institute of Strategic Studies Islamabad. 2017 eröffnete Peking seine erste ausländische Militärbasis in Dschibuti, die den unter Xi gewachsenen Machtanspruch Chinas symbolisiert.



Für China ist der Iran ein trefflicher Partner. Dies gilt nicht nur aufgrund der unmittelbaren materiellen Vorteile für China, vielmehr ist der Iran ein geopolitisches Ass für Peking. China hält das schwache iranische Regime auch am Leben, weil Teheran samt seiner regionalen Verbündeten ein potenzieller Unruheherd in der MENA-Region ist, der die USA fernab von chinesischem Territorium beschäftigen kann. Gleichzeitig stabilisiert diese Rückendeckung das iranische Regime. Sie hilft ihm, die westlichen Sanktionen abzufedern und vergrößert das Selbstvertrauen im Hinblick auf sein Atomprogramm. So schränkte Teheran im Juli 2022 seine Kooperation mit der Internationalen Atomenergie-Organisation weiter ein, erhöhte den Anreicherungsgrad seines Urans weiter über die im JCPOA erlaubten und für eine friedliche Nutzung erforderlichen 3,67 Prozent und installierte modernere Zentrifugen. Parallel wurden Kameras in den Nuklearanlagen abgeschaltet, sodass eine Kontrolllücke entsteht. Die sogenannte ­Breakout-Zeit (die Zeitspanne, die der Iran benötigt, um eine Atombombe herzustellen) ist in der Folge besorgniserregend kurz. Eine Rückkehr zum JCPOA müsste zwingend den Rückbau iranischer Kapazitäten beinhalten.



Azadeh Zamirirad betont die Relevanz der Beziehungen zwischen Iran und China und Tehe­rans zentrale Position in der BRI, will aber jüngste Entwicklungen nicht überbewerten. Obgleich die Beziehung als strategische Partnerschaft dargestellt werde, fehlten doch bedeutende Bestandteile wie eine militärische Beistandsverpflichtung oder ein koordiniertes Abstimmungsverhalten bei den Vereinten Nationen. Ordnungspolitische Gemeinsamkeiten wie die Ablehnung der unipolaren Weltordnung und die Erwartung eines relativen Machtgewinns in einem künftigen multipolaren System ermöglichten es, ideologische Unterschiede zwischen einem nominell kommunistischen und einem theokratischen System zu überbrücken.



Die Uiguren sind für den Iran kein Hindernis

Einer dieser Unterschiede zeigt sich in der Behandlung der muslimischen Minderheit der Uiguren in China. Iran präsentiert sich als Stimme unterdrückter Glaubensbrüder und -schwestern, besonders im Fall der Palästinenserinnen und Palästinenser. Pekings spätestens seit der Veröffentlichung der Xinjiang-Police-Files nicht mehr zu leugnende Genozid an den Uiguren stellt jedoch kein Hindernis für die chinesisch-iranischen Beziehungen dar. Tatsächlich stellt sich angesichts des lauten Schweigens der Machthaber in Teheran zum Leid der Uiguren die Frage, ob die „Solidarität mit Palästina“ nicht primär ein Vehikel für den Kampf gegen den jüdischen Staat ist.



Die enge Kooperation zwischen China und Iran hält Israel indes nicht davon ab, ebenfalls gute Beziehungen mit Peking zu unterhalten. Angesichts iranischer Vernichtungsdrohungen gegenüber Israel, seiner antisemitischen Staats­ideologie, seiner Unterstützung islamistischer Terrorgruppen und des Cyber-Schattenkriegs ist das nicht selbstverständlich. Nicht nur mit dem Iran, sondern auch mit Israel gute wirtschaftliche Be­ziehungen zu unterhalten, ist charakteristisch für die bisherige chinesische Strategie, sich oberflächlich aus regionalen Konflikten herauszuhalten.



Die Beziehungen zwischen China und Israel unterscheiden sich von denen anderer Staaten der MENA-Region, sagt Doron Ella, China-Experte am Institute for National Security Studies der Universität Tel Aviv, im Gespräch: „Israel ist der Außenseiter im Nahen Osten. Wir sind eine liberale, entwickelte Demokratie, ein Hightech-Land. Viele Länder des Nahen Ostens werden als strategische Partner bezeichnet, aber mit Israel hat China keine strategischen Beziehungen. Das zeigt, was China von Israel will: innovative Fähigkeiten, Know-how und Technologie erwerben und lernen, so innovativ zu sein wie Israel. Im Gegensatz zu anderen Staaten des Nahen Ostens, wo China Öl, Märkte und politische Unterstützung sucht.“



Wirtschaft und Diplomatie werden getrennt

Die Wirtschaft ist der Schwerpunkt der israelisch-chinesischen Beziehungen. China ist der zweitgrößte Handelspartner Israels. Relevante sicherheitspolitische Zusammenarbeit gibt es aufgrund des amerikanischen Drucks nicht, zudem gibt es zahlreiche politische Differenzen. Doron Ella betont: „In diplomatischer Hinsicht ist China meistens gegen uns. Wir versuchen, wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen zu trennen und weiterhin Geschäfte mit China zu machen, während wir seine diplomatische Haltung gegenüber Israel weitgehend ignorieren.“



Israel setzt auf die Chancen der Belt and Road Initiative und versucht, chinesische Investitionen in Hightech-Sektoren wie Agrar- und Medizintechnologie und Infrastruktur anzuziehen. Zudem sollen Chinas Investitionen das Wirtschaftswachstum in der Nachbarschaft verbessern, könnte dies – gemäß der liberalen Schule der Internationalen Beziehungen – dort doch zu mehr Frieden, Stabilität und Wohlstand führen, zum allseitigen Nutzen. „Abgesehen von Iran und Syrien hat Israel kein Problem mit Chinas verstärktem Engagement im Nahen Osten“, sagt Ella.



Die ungewisse Zukunft der US-Präsenz in der MENA-Region zwingt Israel, sich mit China zu ­arrangieren. Doron Ella verweist jedoch auf eine Ausnahme: „Was Israel beunruhigt, ist Chinas zunehmende Annäherung an den Iran.“ Dies gelte natürlich vor allem mit Blick auf das iranische Atomprogramm, das in Israel angesichts der Vernichtungsdrohungen des Teheraner Regimes parteiübergreifend als existenzielle Bedrohung betrachtet wird. Diese Sorge bekräftigt Ella: „Das ist unser Hauptanliegen: Wir wollen keinen nuklearen Iran, keinen aggressiveren Iran, der aufgrund seines gestiegenen Selbstbewusstseins durch die verstärkten Beziehungen zu China aggressiver wird. Israel hat dies China gegenüber mehrmals zum Ausdruck gebracht, aber wir haben keinen großen Einfluss.“



China investiert langfristig und strategisch

Ebenso wie die Gaspipeline Nord Stream 2 nie ein rein wirtschaftliches Projekt war, ist es auch die BRI nicht. Chinesische Investitionen und Kredite basieren auf langfristigen geopolitischen Interessen. Ella: „Chinesische Initiativen sind formell bedingungslos, während sie informell Bedingungen stellen wie die Angleichung des Abstimmungsverhaltens an China. Wenn man gute Beziehungen zu China haben will, ignoriert man die Menschenrechte.“ Sigmar Gabriel, ehemaliger deutscher Außenminister, sagte 2018 auf der Münchner Sicherheitskonferenz: „China erscheint derzeit als das einzige Land der Welt mit einer wirklich globalen, geostrategischen Idee, und es verfolgt diese Idee konsequent.“ Zu lange hat die transatlantische Wertegemeinschaft diesem rivalisierenden Weltordnungsmodell nichts entgegengesetzt.



Das ungeklärte Verhältnis zu China wird deutlich im Dreiklang der EU: Peking sei zugleich Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale. Die bequeme Ambivalenz von Partnerschaft und Rivalität ermöglichte die Trennung von Wirtschaft und Politik. Daraus entstanden für Länder wie Deutschland und Israel große wirtschaftliche Vorteile durch den Handel mit China. Diese Aufteilung in autonome Sphären ist angesichts der Weltlage nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Legitimierung des Handels mit Autokratien durch die Formel vom „Wandel durch Handel“ ist spätestens mit der russischen Invasion der Krim im Jahr 2014 gescheitert. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine und die militärischen Droh­gebärden Chinas gegenüber Taiwan markieren das Ende der Illusion einer quasi automatischen Demokratisierung und Integration in die regelbasierte Weltordnung durch wirtschaftliche Verflechtung.



Keine Kritik der BRICS-Staaten

Anfang März 2022 enthielt sich China bei der UN-Resolution gegen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, teilweise unterstützt es den Krieg offen. Aus den BRICS-Staaten kommt keine Kritik am russischen Vorgehen; das Nichteinmischungsprinzip gilt für China und Russland anscheinend nur für westliche Staaten. Teheran wiederum unterstützt ausdrücklich die Aggressionen beider Staaten. Nun gilt es, der chinesischen Version von Wandel durch Handel, die für Wohlstand die Aufgabe mühsam erkämpfter universeller Menschenrechte und globaler Ordnungsprinzipien verlangt, etwas entgegenzusetzen.



Das auf dem NATO-Gipfel von Madrid im Juni 2022 beschlossene neue strategische Konzept ist ein Schritt in die richtige Richtung, wenn es klarstellt: „Die von der Volksrepublik China erklärten Ziele und ihre Politik des Zwangs stellen unsere Interessen, unsere Sicherheit und unsere Werte vor Herausforderungen.“



Die Demokratie muss verteidigt werden

Nun wäre es erforderlich, den Wettbewerb mit ­China anzunehmen, den Staaten des Globalen Südens Alternativen zum chinesischen Modell anzubieten und Pekings Einfluss global zurückzudrängen. Der „Build Back Better World“-Plan der USA und die „Global Gateway“-Initiative der EU sind überfällige Maßnahmen. Hierzu Ella: „Westliche Alternativen wie Global Gateway hätten schon vor fünf Jahren gestartet werden sollen. Es ist zwar zu spät, aber besser spät als nie.“



Derartige Projekte verfolgen nicht nur wirtschaftliche und geopolitische Eigeninteressen westlicher Staaten, sie beeinflussen auch die Lebensqualität der MENA-Region. Dies ist kein Plädoyer für eine unkritische Lobhudelei des Westens, keine Apologetik seiner Menschenrechtsverletzungen. Dennoch existiert ein entscheidender Unterschied zwischen dem unvollkommenen demokratischen Modell des Westens, das zumindest den Anspruch erhebt, Menschenrechte zu achten, und den systematischen Menschenrechtsverletzungen von Diktaturen wie China, Iran und Russland. Das demokratische Modell ist zweifellos gegen jegliche Angriffe zu verteidigen. Aus dieser Überzeugung kämpfen die iranische Opposition ebenso wie Menschen in Taiwan, der Ukraine, in Belarus und zahlreichen anderen Ländern für ein demokratisches Staatswesen, westliche Werte und bürgerliche Freiheiten. Ein noch größerer chinesischer Einfluss in der MENA-Region würde der regelbasierten internationalen Ordnung und den Menschen vor Ort verheerenden Schaden zufügen.



„Wenn man die Menschenrechte aus einer westlichen Perspektive betrachtet, Menschenrechte als ein individuelles Recht begreift, bedeutet Chinas wachsender Einfluss nichts Gutes für die Menschenrechte im Nahen Osten“, konstatiert Ella. Dies gilt für Masih Alinedschad und die protestierenden Frauen im Iran, deren Unterstützung eine tatsächlich feministische Außenpolitik wäre, ebenso wie für Fariba Adelkhah und all die anderen politischen Gefangenen im Iran und in China.



Auch für deren Freilassung und ihr Recht auf Kritik an den herrschenden Zuständen müssen sich die Länder des Globalen Nordens einsetzen. China und seine autoritären Verbündeten werden es mit Sicherheit nicht tun.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 07, November 2022, S.46-53

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Julian Pfleging studiert European Affairs – Politikwissenschaft im Doppelmaster an der Sciences Po Paris und der Freien Universität Berlin. Zuvor hat er seinen Bachelor in Politikwissenschaft und Arabistik an der Uni Leipzig mit einem Auslandsjahr an der Hebrew University in Jerusalem abgeschlossen. Seine Schwerpunkte liegen auf europäischer Außen- und Sicherheitspolitik und Internationalen Beziehungen in der MENA-Region. Neben seinem Studium absolvierte er Praktika bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, dem Mideast Freedom Forum Berlin und dem Auswärtigen Amt.