Opferkonkurrenz
Brief aus … Warschau
In Warschau tobt ein Krieg der Erinnerungen mit ungewissem Ausgang
Warschau ist laut, hektisch, neurotisch, wie fast alle Hauptstädte der Welt, aber auch geheimnisvoll, melancholisch und oft abweisend. Wer diese im Krieg fast völlig zerstörte Stadt wirklich kennenlernen will, muss sich Zeit nehmen – für einen Spaziergang entlang der Prachtstraßen Nowy S´wiat und Krakowskie Przedmies´cie, einen Blick vom 30. Stockwerk des Kulturpalasts, eine Tour durch das realsozialistische Marszałkowska-Viertel mit seinen überdimensionierten Arbeiterfresken, durch das verlotterte Künstlerviertel Praga auf der anderen Weichselseite. Doch erst in Muranów, mitten im Zentrum dieser so hektisch pulsierenden Stadt, wird klar, was die Warschauer wirklich umtreibt: Dort tobt ein Krieg der Erinnerungen mit offenem Ausgang.
Muranów ist ein seltsam hügeliger Stadtteil. Vor dem Krieg lebten hier die meisten der rund 330 000 Warschauer Juden. Dann bauten die Nazis eine Mauer darum und nannten es „Seuchensperrgebiet“. Vom Bahnhof, dem „Umschlagplatz“, fuhren Züge in zwei Richtungen: die mit den Wertsachen der Juden nach -Berlin, die mit den Menschen nach Treblinka und Majdanek. Nach dem Ghettoaufstand 1943 und dem Warschauer Aufstand 1944 sprengten spezielle Wehrmacht- und SS-Einheiten die Hauptstadt Polens. Haus für Haus, Straße um Straße, bis nur noch ein gigantischer Trümmerhaufen übrig blieb. Die kommunistischen Machthaber entschieden, dass die historische Altstadt und die alten Prachtstraßen wieder aufzubauen wären. In Muranów hingegen sollte ein völlig neues Viertel auf den hügeligen Trümmerfeldern entstehen.
Nach 1989 hatten die Polen einen Gedenk-Nachholbedarf für die „wahren Helden und Opfer“ des Zweiten Weltkriegs. Mitten in der Stadt erhebt sich heute wie eine Festung das Museum des Warschauer Aufstands; hohe Mauern und gusseiserne Tore sichern es. Auf dem neuen Wachturm im Innern ist das zur Ankerform stilisierte P und W, das Symbol für „Polska -Walczaca“, den polnischen Kampf gegen die deutsche und sowjetische Besatzung im Zweiten Weltkrieg, weithin zu sehen.
„Warschau leidet noch immer unter seinem Kriegstrauma“, erklärt Elzbieta Janicka, Autorin des Buches „Festung Warschau“. „Theoretisch gehört Polen zu den Siegern des Krieges, doch Warschau kennt nur Niederlagen, Zerstörungen, gescheiterte Aufstände, Deportationen in Lager oder ins Deutsche Reich zur Zwangsarbeit.“
Die Kommunisten hatten jede Form des Erinnerns an die Gräuel verboten, die den Polen von den Sowjets angetan wurden. Kurz nach Kriegsende wurde ein großes Mahnmal für den Ghettoaufstand 1943 errichtet, aber erst 1989 eines für den Warschauer Aufstand. „Nach 1989 ist etwas Seltsames passiert“, erklärt Janicka. „Überall im ehemaligen Ghetto entstanden Plätze und Mahnmale, die an die von den Sowjets nach Sibirien verschleppten Polen erinnern.“
Ganz besonders sticht die „Muranówska-Achse“ hervor. An deren einem Ende steht mit dem „Umschlagplatz“ das Mahnmal für die Deportation der Warschauer Juden, am anderen Ende das „Mahnmal für die im Osten Gefallenen und Ermordeten“. Zwischen beiden Mahnmalen suggeriert ein Wegweiser eine Opfer-Symmetrie: Hier die deportierten Juden, dort die deportierten Polen.
Doch diese Symmetrie gibt es nicht, betont Janicka. „Die nach Sibirien Deportierten überlebten zum größten Teil und kamen zurück. Die Züge nach Treblinka und Majdanek fuhren in den Tod.“ Die parallel arrangierten Denkmäler für die jüdischen Deportierten und die polnischen Sowjet-opfer zeigen jeweils einen Eisenbahnwaggon. Der des Umschlagplatzes ist abstrakt, der des „Mahnmals für die im Osten Gefallenen und Ermordeten“ gegenständlich. In dem einen sind die Vornamen der Ermordeten eingraviert, vor dem anderen liegen Eisenbahnschwellen mit den Namen der Orte in Ostpolen, in denen besonders viele Polen erschossen wurden. Im „polnischen“ Waggon stehen Hunderte von Kreuzen sowie ein muslimischer und ein jüdischer Grabstein. Das Kreuz für die von den Sowjets in Katyn ermordeten polnischen Reserveoffiziere ragt besonders heraus.
„Von diesem Platz aus wurde kein einziger Pole abtransportiert. Hier war das Ghetto und auf dem Muranówski-Platz fanden die heftigsten Kämpfe während des Ghettoaufstands statt“, erzählt Janicka. Doch daran erinnert heute nur eine Plexiglas-Gedenktafel, die noch dazu von einem Baum überschattet wird.
„Die bewusst-unbewusste Verdrängung des Jüdischen in der polnischen Gedenkkultur nenne ich ‚Festung Warschau‘“, sagt Janicka. „Mental sitzen wir Polen wie im Museum des Warschauer Aufstands mit seinem Wachturm und den hohen Mauern ringsum und verteidigen uns bis heute – gegen die Deutschen, die Sowjets und die Juden.“ Allerdings: In einem Jahr, Ende 2013, soll in Muranów ein weiteres großes Museum eröffnet werden, das Geschichtsmuseum der pol-nischen Juden. Noch ist der Krieg um die Erinnerung nicht entschieden.
Gabriele Lesser lebt als freie Osteuropa- Korrespondentin in Warschau und Berlin. Sie bereist regelmäßig Polen, die Ukraine, die baltischen Republiken und Kaliningrad.
Internationale Politik 1, Januar/ Februar 2013, Seite 130-131