Titelthema

24. Apr. 2023

Offener Handel, bessere Versorgung

Seewege sind beim Transport von Agrarprodukten von zentraler Bedeutung. Kommt es hier zu Störungen, kann das weltweit massive Auswirkungen haben.

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Bild: Ein Inspekteur untersucht das Getreide auf einem ukrainischen Frachter
Eingeschränkte Exporte: Inspektion des mit ukrainischem Getreide beladenen Frachters „Razoni“ an der Küste Istanbuls, Anfang August 2022.
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Die Strukturen des internationalen Agrarhandels sind von zentraler Bedeutung für die Ernährungs­sicherheit von Ländern. Diese speist sich aus unterschiedlichen Quellen wie Import von Nahrung, Dünger und Pflanzenschutzmitteln, aber auch Nahrungshilfen. Zudem beeinflussen Nahrungspreise und Einkommen eine sichere Versorgung.

Preise reagieren sensibel auf gestörten Handel, etwa durch Behnderungen von Seefahrtswegen, wie es jüngst angesichts der gestörten Passage durch das Schwarze Meer zu beobachten war: Getreidepreise explodierten unmittelbar nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Sie sanken dagegen aber auch schnell mit dem Abschluss des sogenannten „Getreideabkommens“, das diese wichtige Passage für internationalen Getreidehandel wieder nutzbar machte. 

Ähnlich wie der Handel ganz allgemein, der heute rund 40 Mal höher liegt als nach dem Zweiten Weltkrieg, wuchs auch der Agrarhandel aufgrund von Bevölkerungsentwicklung und Spezialisierung in der Produktion, sodass sich die Transport­wege zum Verbrauchsort ­verlängerten. Bei Rohprodukten dominieren im internationalen Handel Getreide, Soja, Kaffee und Kakao; allerdings wurden mit der Zeit auch immer mehr verarbeitete Produkte gehandelt.



Wer handelt mit wem und wo?

Grundsätzlich verläuft das Handelsmuster von der Produktionsüberschuss­region hin zur Nachfrageregion. Aber nicht immer sind die großen Produktionsländer auch zugleich große Exportländer, wie das Beispiel Weizen zeigt: Die weltweit größten Weizenproduzenten China und Indien verbrauchen oder lagern viel Weizen und nehmen nur wenig am Exporthandel teil.

Für China als großen Produzenten und Importeur wird sogar geschätzt, dass es etwa die Hälfte der weltweiten Weizenreserven hält. Aber da die Volksrepublik kaum exportiert, steht dieser gelagerte Weizen nicht zur Verfügung, um bedürftige Staaten zu versorgen oder zur preislichen Markt­entlastung in Hoch­preis­phasen beizutragen.

Zu den großen Weizenexportländern der jüngeren Vergangenheit gehören (mit Schwankungen der Bedeutung) bezogen auf die Menge die Europäische Union und Russland, die USA, Kanada, die Ukraine, Aus­tralien und Argentinien. Zu den wichtigsten Importländern zählen Indonesien, die Türkei, China, Ägypten, Algerien und Brasilien. Die globalen Düngemittelexporte erfolgten in den vergangenen fünf Jahren wertbezogen vor allem aus Russland, China, Kanada, der EU, Marokko und den USA. Haupt­importländer von Düngemitteln waren Brasilien, die USA, Indien und die Europäische Union.

Der Großteil des internationalen Agrarhandels erfolgt maritim und vor allem über lange Seewege. Die Transportrichtung hängt dabei vom Handelsmuster des jeweiligen Produkts ab, sodass unterschiedliche Seerouten und Häfen relevant sein können. Für die weltweite Versorgung sind andere Routen und Hafenregionen entscheidend als etwa für die Versorgung der EU: Global wurde zuletzt Getreide vor allem über die türkischen Seerouten importiert, weil aus der Ukraine und Russland hohe Exportmengen kommen. Danach folgen in ihrer Bedeutung der Suezkanal für die Import­regionen Nordafrika und Naher Osten, Bad-el-Mandeb (zwischen Rotem Meer und dem Golf von Aden) und Malakka (Meerenge in Südostasien) vor allem für Importe asiatischer Länder.

Bei Düngemitteln ist für weltweite Lieferungen Gibraltar der dominante Seeweg: Hier entlang erfolgen Exporte aus Marokko, Russland und China.



Störfaktoren für die Versorgung

Störungen des internationalen Handels und Transports sind ein unmittelbares Versorgungsrisiko; sie können in unterschiedlicher Form auftreten.

Politische Exportbegrenzungen erfolgen oft in ohnehin angespannten Marktsituationen. Aus Gründen des tatsächlich relevanten oder als politisches Signal genutzten Versorgungsschutzes ihrer eigenen Bevölkerung schränken viele Regierungen den Export in Phasen hoher Weltmarktpreise ein. Handelt es sich dabei um große Exporteure, verschärft diese Verknappung die Lage und treibt Preise weiter nach oben.

Seit dem russischen Angriff auf die ­Ukraine taten dies nach WTO-Auskunft insgesamt etwa 30 Staaten bei 50 Agrarprodukten inklusive Düngemitteln. Als große und damit preistreibende Akteure sind vor allem Russland bei Getreide und Dünger, Indien bei Reis und China bei Düngemitteln zu nennen.

Wie anfällig die physische maritime Transportstruktur als Basis für Agrarhandel und damit für internationale Nahrungsversorgung ist, zeigen mehrere Ereignisse der jüngsten Vergangenheit. Die Explosion im Hafen von Beirut durch die dort gelagerte explosive Düngemittelkomponente Ammoniumnitrat im August 2020 forderte nicht nur viele Opfer; neben den Düngerlagern wurden dort auch Getreidesilos zerstört. Hierdurch wird bis heute die Versorgungssicherung des ohnehin bereits auf Nahrungshilfen angewiesenen Landes erschwert, da nun ein grundlegend neues Importmanagement erforderlich ist: Die begrenzte Lagerkapazität macht einen verlässlichen, kontinuierlichen Nahrungs- und Hilfezufluss notwendig.

Die Blockade im Suezkanal im März 2021 durch den Frachter „Ever Given“ für fast eine Woche führte zu Verspätungen für rund 370 Schiffe auf beiden Seiten des Kanals. Verspätungen behindern eine zügige Versorgung und führen gerade bei Agrarprodukten auch schnell zu Qualitätseinbußen. Und vor allem führte im Frühjahr 2022 der russische Angriffskrieg in der Ukraine zu erheblichen Störungen der Schiffs­passage über das Schwarze Meer. Dies ist eine wichtige Route für den Agrarhandel, da aus den versorgungsrelevanten Produktionsländern Ukraine und Russland bis dato etwa 30 Prozent des Getreideexports kamen. Hieraus resultierten zumindest anfängliche Versorgungsrisiken für die Länder, die aus dieser Region beziehen – wie etwa Staaten Nordafrikas. Durch den Preisanstieg wurden dann aber alle Importländer belastet.

Maritime Transportrouten und bedeutende Häfen haben unterschiedliche Anfälligkeiten für Risiken, die die Versorgungssicherheit mit bestimmten Produkten reduzieren können. So sind die nordamerikanischen und brasilianischen Ausfuhrhäfen für Soja und Getreide häufig von Naturereignissen wie Unwettern betroffen. Die südostasiatischen Routen hingegen werden häufiger Opfer terroristischer Aktivitäten wie Piraterie. Und russische Häfen galten schon immer als häufig von politischen Entscheidungen etwa zu Exportbegrenzungen belastet.

Wenn es aus den genannten Gründen zu Verzögerungen kommt, trifft es insbesondere Nahrungsmittel, denn ihre hohe Verderblichkeit führt schnell zu Qualitäts- und damit Einnahmeverlusten. Agrarprodukte sind darüber hinaus von zahlreichen Regelungen zur Zollabwicklung und von Sicherheitsprüfungen der Qualität betroffen, sodass auch hierdurch Liefergeschwindigkeit und Versorgungssicherheit beeinträchtigt werden können.

Ein aktuelles Beispiel dafür ist das Getreideabkommen, das von den Vereinten Nationen, der Türkei, der Ukraine und Russland koordiniert wird: Es kommt immer wieder zu enormen Abwicklungsverzögerungen durch Inspektionen der Ladungen, weil nach Waffen gesucht wird. Dies führte zeitweise zu einem Rückstau von mehr als 100 Schiffen. Zudem bedeuten die damit verbundenen immensen Kosten durch Qualitätsverlust, Liegegebühren und Personal abstürzende Erzeugerpreise für Landwirte. Daher leiden die Bauern in der Ukraine nicht nur unter ohnehin schwer beeinträchtigten Produktionsmöglichkeiten, sondern auch unter starken wirtschaftlichen Einbußen durch solche Lieferverzögerungen.



Ausnahmeregeln der WTO

Versorgungsrisiken durch Handels- und Transportstörungen verlangen nach Maßnahmen der jeweiligen Politikbereiche – also Handels- und Transportpolitik –, zugleich aber auch nach mehr und besserer Vernetzung.

Internationale Handelspolitik wird geregelt durch Abkommen der Welthandels­organisation (WTO), die vor allem den offenen Handel unterstützt. Dennoch gestattet sie Ausnahmen, und zwar besonders häufig bei Agrarprodukten: Dies sind essenzielle Versorgungsgüter, die schon bei Unterzeichnung der ersten Handelsvereinbarungen im Rahmen des GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommens) nach dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige politische Rolle in vielen Ländern spielten, um die Bevölkerung zu versorgen.

So sind Ausnahmen für von der WTO untersagte Exportbegrenzung zeitlich befristet dann möglich, wenn diese einen kritischen Mangel an Lebensmitteln oder anderen wichtigen Produkten zu vermeiden helfen. Speziell für Agrarprodukte wird zudem betont, dass die Wirkungen von Exportbegrenzungen auf die Nahrungssicherheit von Importländern zu berücksichtigen seien. Gleichzeitig aber sind Entwicklungsländer, deren Status auf WTO-Ebene durch Selbstdefinition erfolgt (wie bei China oder Indien), von dieser Verpflichtung ausgenommen – es sei denn, sie sind Nettoexporteure des entsprechenden Agrarprodukts.

Auch diese Regelschwäche führt dazu, dass es immer wieder zu preis­treibenden Exportrestriktionen kommt. Seit den großen globalen Agrarpreiskrisen 2007 und 2011 fordern einige politische Initiativen den Verzicht auf diese Maßnahmen. Das Marktinformationssystem AMIS (Agricultural Market Information System) kann hierbei von Nutzen sein. In Phasen mit hohen Preisen kann AMIS die tatsächliche Marktsituation aufzeigen und mehr Informationen bereitstellen zur wahrgenommenen Knappheit, die oft Exportrestrik­tionen auslöst. Größerer Druck könnte auch aufgebaut werden, indem kontinuierlich die vorhandenen WTO-Ausnahmekriterien bei den exportbegrenzenden Ländern angemahnt werden.

Daneben sollten in Krisenphasen verstärkt Maßnahmen zur Handelserleichterung ergriffen werden. So konnte das Aussetzen von Zollbestimmungen der EU an der ukrainischen Grenze, wodurch aufwendige Kontrollen wegfallen, einen schnelleren Export ermöglichen, der zur Preisentspannung beitrug.

Vor allem aber müssten Transportwege und deren Anfälligkeit deutlich mehr als bislang in den Blick genommen werden. Auch hierzu kann das genannte AMIS-System genutzt werden, um unterschiedliche Störfaktoren für einzelne Passagen zu erfassen. Bislang sind Störungen des maritimen Transportsystems nur insofern abgedeckt, als sie sich in globalen Durchschnittsfrachtpreisen auf dem internationalen Agrarmarkt niederschlagen. Hier wären regional ­differenzierte Informationen zu auftretenden und wirkenden Störungen in maritimen Passagen anzustreben.

Viele Staaten definieren Transport, und oftmals auch explizit maritimen Transport, als zu schützende kritische Infrastruktur – so die EU, die USA und Kanada. Diese sollten sich über bestehende Regelungen zu maritimen Infrastrukturen austauschen und Koordinierungsansätze finden, um Krisen gemeinsam schnell abzufangen. Hierzu könnte auch die neue Global-Gate-Initia­tive der EU strategisch genutzt werden, um Investitionspartnerschaften für besonders vulnerable und versorgungsrelevante Transportwege aufzusetzen.

Diese sowohl handels- als auch transportbezogenen Ansätze sollten als verbundenes System verstanden werden, da Handel ohne funktionierenden maritimen Transport per se eingeschränkt ist und umgekehrt Transport immer auch durch Handelsregelungen beeinflusst ist.   

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2023, S. 48-51

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Dr. Bettina Rudloff arbeitet in der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

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