Nukleare Söldner
Expertise ist reichlich vorhanden und geht dahin, wo Geld fließt
Es würde 150 Millionen Dollar kosten und drei Jahre dauern, um Nuklearmacht zu werden: So lautete vor 20 Jahren das Angebot des pakistanischen Atomschmugglers A.Q. Khan an den Irak. Und die Gefahr ist noch lange nicht gebannt: Bis heute gibt es zahlreiche Nuklearwissenschaftler, die weltweit ihre Dienste anbieten.
Im nächsten Jahr wird es in Südkorea einen „Nuclear Security Summit“ geben. Wie bereits beim ersten Nukleargipfel in Washington im April 2010 werden viele Staats- und Regierungschefs anreisen, um über die Sicherheit von nuklearem Material zu diskutieren. Der amerikanische Präsident Barack Obama wird wieder vor den Gefahren des Nuklearterrorismus warnen und für mehr Transparenz beim Umgang mit nuklearem Material werben. Am Ende aber dürfte das koreanische Großereignis genauso viel Ratlosigkeit hinterlassen wie die Veranstaltung in Washington. Dies umso mehr, als der Nuklearterrorismus zwar ein wichtiges Problem der internationalen Politik ist, es aber gegenwärtig keine neuen Erkenntnisse hierüber gibt.
Doch dies ist nicht der einzige Einwand, den man gegen diese Art der Polit-Show geltend machen muss. Die ausschließliche Konzentration auf die physische Sicherheit nuklearen Materials hat auch zur Folge, dass der „human factor“, die Rolle der ebenfalls vagabundierenden nuklearen Expertise durch einschlägige Wissenschaftler, nicht einmal angesprochen wird.
Wo immer spaltbares Material verwendet werden soll, ist die Verfügbarkeit von hochqualifizierten Nuklearexperten unabdingbare Voraussetzung. Dies gilt auch für Terrorgruppen und für Staaten, die heimlich ein Nuklearwaffenpotenzial aufbauen wollen. Es ist kein Zufall, dass fast alle derzeitigen Nuklearwaffenstaaten, die ja zunächst mit geheimen Programmen ihre nukleare Reise begonnen hatten, sich ausländischer Spezialisten bedient haben – entweder direkt, durch konkrete Mitarbeit der Ausländer im Programm, oder indirekt, indem das Fachwissen ausländischer Spezialisten durch Spionage abgeschöpft wurde. Selbst das Waffenprogramm der ersten Nuklearmacht, der USA, war ein „internationales“ Programm: Nur ein Viertel der Nuklearwissenschaftler in Los Alamos waren geborene Amerikaner; die Mehrheit bestand aus Europäern, die vor dem Faschismus geflohen waren.
Wenn heute von international verfügbaren Nuklearwissenschaftlern die Rede ist, dann hat das nichts mehr zu tun mit dem Exodus eines großen Teiles der westeuropäischen Elite der Atomphysik, sondern mit dem ideologiefreien Verkauf von nuklearem Monopolwissen zu Marktkonditionen; es geht um eine neue Spezies – die nuklearen Söldner. Öffentlich sichtbar werden sie nur selten. Ihre Tätigkeit, die sich durchgängig in geheimen Programmen abspielt, hat notwendigerweise zur Folge, dass es schwierig ist, sie im Einzelfall zu orten und zu identifizieren. Doch dieses Defizit wiegt nicht allzu schwer, denn immerhin ist es möglich, die Wanderungsbewegung dieser neuen Spezies im Wesentlichen nachzuzeichnen und damit einem Phänomen auf die Spur zu kommen, das bisher nur im Halbdunkel internationaler Geheimdienstarbeit eine Rolle gespielt hat.
Auch wenn es schwierig ist, eine Struktur in die Problematik des nuklearen Söldnertums zu bringen, lassen sich auf der Herkunftsseite einige generalisierende Aussagen machen. Demnach stammen die Vermarktenden aus zerfallenden Nuklearwaffenstaaten (zum Beispiel Sowjetunion), ehemaligen Nuklearwaffenstaaten (zum Beispiel Südafrika), Staaten mit abgebrochenen oder aus anderen Gründen beendeten Nuklearprogrammen (zum Beispiel Irak) und Nuklearwaffenstaaten, die die Kontrolle über ihr wissenschaftliches Personal vernachlässigen und Abwerbung tolerieren (zum Beispiel Pakistan). Ein Sonderfall sind in diesem Kontext die im Regierungsauftrag tätigen Auslandsmitarbeiter, die nicht selten ihren wahren Hintergrund leugnen müssen, um ihrer Regierung die Möglichkeit zu geben, sich von ihnen zu distanzieren (zum Beispiel Russland) und Organisationen, wie zum Beispiel das Firmennetz des pakistanischen Atomschmugglers A. Q. Kahn, die nukleares Wissen selbsttätig vermarkten und, falls erforderlich, auch den Transfer von Nuklearwaffenspezialisten organisieren können.
Die Empfängerseite ist vergleichsweise leicht zu beschreiben: Es sind Staaten oder Organisationen (wie Al-Kaida), die in den Besitz von Nuklearwaffen kommen wollen – entweder auf direktem Weg oder über den Umweg eines zunächst zivilen Programms.
Der erste nukleare Söldner war wohl der ursprünglich deutsche Nuklearphysiker Klaus Fuchs. Nachdem er für die Sowjetunion das amerikanische Nuklearprogramm in Los Alamos ausspioniert hatte und dafür zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden war, verkaufte er sein Wissen 1959 an China. Es spricht alles dafür, dass die Produktion der ersten chinesischen Nuklearwaffe und insbesondere die vergleichsweise kurze Entwicklungszeit für die chinesische Wasserstoffbombe wesentlich auf einschlägige Kenntnisse und Erfahrungen zurückgingen, die Klaus Fuchs in Los Alamos erworben hatte.
Klaus Fuchs war ein Einzelfall. Das Phänomen der nuklearen Söldner tritt erst nach 1990 in signifikanter Größenordnung in Erscheinung. Auslöser waren im Wesentlichen zwei Ereignisse: der Zusammenbruch der Sowjetunion und die beginnende internationale Vermarktung nuklearer Materialien durch den „Vater der pakistanischen Atombombe“ A. Q. Khan. Nun war die militärisch-nukleare Option für eine Reihe von Staaten attraktiv geworden, die bisher nur zögerlich – das gescheiterte, äußerst kostspielige Experiment Saddam Husseins vor Augen – die ersten nuklearen Gehversuche in Form von zivilen nuklearen Forschungsprogrammen gemacht hatten.
Überangebot an Expertise
Als die Sowjetunion zusammenbrach, hinterließ sie nicht nur große Mengen nuklearen Materials, sondern auch einen militärisch nuklearen Industriekomplex mit circa 60 000 Beschäftigten; allein in Chelyabinsk-70, dem Zentrum des sowjetischen Atombombenbaus, arbeiteten 16 000 Personen. Für die meisten von ihnen gab es nach 1990 keine Arbeit und daher auch kein geregeltes Einkommen mehr. Als James A. Baker, der amerikanische Außenminister, im Februar 1992 Chelyabinsk-70 besuchte, sah er sich ehemaligen Top-Experten gegenüber, die noch 15 Dollar pro Monat verdienten. Zwar ermöglichte die amerikanische Regierung vielen sowjetischen Nuklearspezialisten auf der Basis von Zeitverträgen in den USA zu arbeiten, doch die Zahl der Antragsteller war um ein Vielfaches größer als die Zahl derer, die vermittelt werden konnten. Für die weniger Glücklichen gab es nur zwei Optionen: den Beruf zu wechseln, was für diese hochspezialisierten, einstmals privilegierten Wissenschaftler nicht einfach war, oder ihr Wissen im Ausland zu vermarkten. David Hoffman hat hierüber in seinem 2009 erschienenen Buch „The Dead Hand: The Untold Story of the Cold War Arms Race and its Dangerous Legacy“ ausführlich berichtet. Dabei schildert er nicht nur den nuklearen Aspekt des postsowjetischen Braindrain, sondern weist auch auf die bisher weitgehend verborgenen Versuche des Iran hin, ehemalige sowjetische Spezialisten für biologische Waffen anzuwerben.1
Diese Information ist hochbrisant, denn der Iran hat bisher nicht nur bestritten, über biologische Waffen zu verfügen, er hat auch den Verzicht auf die Entwicklung und Produktion biologischer Waffen vertraglich zugesichert. Nicht ohne Grund stellte ihm das Londoner IISS noch 2010 diesbezüglich einen entsprechenden Persilschein aus. Doch die reale Lage ist längst eine andere. Als amerikanische Regierungsvertreter 1997 die Spur der ehemals sowjetischen Biowaffen aufnahmen, stießen sie auf rege Aktivitäten iranischer „Wissenschaftler“. Offen gaben viele russische Spezialisten mit einschlägigem Wissen zu, die Einladung iranischer „Wissenschaftler“ nach Teheran angenommen zu haben – zu „informellen Gesprächen“, wie es hieß. Einer von ihnen ließ gegenüber den Amerikanern die Katze aus dem Sack: Offiziell und vordergründig redeten die Iraner über pharmazeutische Produkte, „ihr wirkliches Interesse aber lag bei Dual-Use-Technologie, die zur Herstellung von biologischen Waffen verwendet werden konnte.“2 Im Übrigen, so der russische Wissenschaftler weiter, hätten ihm die Iraner mehrere Tausend Dollar bei Aufnahme einer entsprechenden Lehrtätigkeit geboten. Das war umso verlockender, als die Einkommen der Spezialisten für biologische Waffen noch schneller und tiefer abgestürzt waren als die des militärisch-nuklearen Komplexes. Im Mai 2000 berichtete Nikolai Urakow, der Direktor eines einschlägigen Großlaboratoriums in Obolensk, sein Institut bekomme noch ein Prozent des Betrags, der zu Zeiten der Sowjetunion verfügbar war.3
Zwar bemühten sich die amerikanischen Regierungsvertreter in den Jahren nach 1997, parallel zu den Verfahren für den nuklearen Bereich eine finanzielle Lösung für die ehemaligen Mitarbeiter der sowjetischen Biolabors zu finden, der Erfolg war aber bescheiden. Das überrascht nicht, wenn man sich vor Augen führt, dass das streng geheime sowjetische Biowaffenprogramm, von dessen Existenz der Westen erst 1989 durch einen Überläufer erfuhr, 65 000 Menschen beschäftigte, davon 9000 hochkarätige Wissenschaftler. Schließlich wurde auch den amerikanischen Regierungsvertretern klar, dass der Braindrain aus dem ehemals sowjetischen Biowaffenprogramm überwiegend unkontrolliert vonstatten ging – in Richtung Iran, Nordkorea, China, Indien, Irak, Syrien, aber auch in Richtung Afghanistan, wo russische Biowaffenexperten sich Al-Kaida anboten. Wie sagte doch Dastan Eleukenow vom Büro des Monterey Institute of International Studies in Kasachstan: „Wenn es um Biowaffen geht, ist der Braindrain wichtiger als das Material.“4
Illustriert wird die Folge der Auflösung der Sowjetunion durch die Ausführungen in Ronen Bergmans mit Geheimdienstinformationen gespickten Buch „The Secret War with Iran“. Darin schildert er die Erfahrungen des ehemaligen israelischen Generals Yitzak Yaakow, der in seiner neuen Funktion als Unternehmer für Hochtechnologieprodukte 1993 die gescheiterte Supermacht besuchte.5 Er berichtete später, dass er einen Zulieferbetrieb besucht habe, in dem von ursprünglich 10 000 Wissenschaftlern nur noch 1000 übrig waren. Wo sich die restlichen 9000 Geheimnisträger aufhielten, wussten selbst die russischen Sicherheitsbehörden nicht. Sie verwiesen allerdings darauf, dass der Iran in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion aktiv sei und Atomwaffenspezialisten 1000 Dollar Monatsgehalt bei einer Übersiedlung in den Iran biete. 1994 meldete der Bundesnachrichtendienst, dass seit 1991 14 ehemals sowjetische Atomwaffenspezialisten auf privater Basis im Iran tätig waren. Doch das war wohl nur die Vorhut. Einer der vom Iran Angeworbenen – Professor Vadim Vorobei – berichtete später, die Iraner hätten in jenen Jahren mehr Nuklearwissenschaftler und Ingenieure angeworben, als sie tatsächlich beschäftigen konnten. Michael Dobbs schrieb hierzu in derWashington Post vom 13. Januar 2002, Mitte der neunziger Jahre hätten sich russische Ingenieure und Wissenschaftler in den Straßen Teherans buchstäblich umgerannt.6 Wie umfassend und mit welchen – nicht immer seriösen – Mitteln die Anwerbungsaktivitäten der Iraner betrieben wurden, haben Vladimir Orlov und Alexander Vinnikov in der Washington Quarterly vom Frühjahr 2005 eingehend ausgeführt.7
Organisierter Braindrain
Zwar waren die Iraner die aktivsten Anwerber russischer Spezialisten für den Bau nuklearer Waffen und geeigneter Trägermittel, den originellsten Versuch eines organisierten Braindrain unternahmen jedoch zweifellos die Nordkoreaner: Sie versuchten, ein komplettes Designbüro für nuklearfähige Cruise Missiles faktisch umzusiedeln. 1993 erhielten einige Spezialisten der Firma V. P. Makeyew, eines nahe Chelyabinsk gelegenen Entwicklungsbüros, das bisher ausschließlich für das sowjetische Militär gearbeitet hatte und nun ohne Aufträge war, eine Einladung nach Nordkorea. Über einen Mittelsmann wurden die Wissenschaftler unter dem Vorwand, Raketen für zivile Weltraumaktivitäten zu entwerfen, unter Vertrag genommen. Einer von ihnen, Yuri Bessarabov, schilderte später der Moscow News die Entscheidungssituation: Er habe inzwischen weniger verdient als ein einfacher Arbeiter in der lokalen Molkerei; die Nordkoreaner boten demgegenüber 1200 Dollar pro Monat. Schließlich entschieden sich 20 Wissenschaftler und ihre Familien, nach Nordkorea „auszuwandern“. Als sie ihre Heimat verlassen wollten, wurden sie im Dezember 1993 von den russischen Behörden am Moskauer Flughafen gestoppt und zum Bleiben gezwungen. Doch bei weniger großangelegten Versuchen, mit ehemals sowjetischen Spezialisten für den Bau nuklearfähiger Trägersysteme ins Geschäft zu kommen, waren die Nordkoreaner erfolgreicher. Ein amerikanischer Geheimdienstmitarbeiter stellte hierzu fest, die Nordkoreaner hätten in jenen Jahren für jede Funktion und jedes Teilstück einer Rakete einen jeweils kompetenten Spezialisten in Russland angeworben.8
Ein Grund für das Überangebot an nuklearer Expertise im Iran war, dass Wissenschaftler aus zwei weiteren Problemstaaten keine Zukunft mehr in ihren Heimatländern sahen und sich dem nuklearen Anfänger Iran andienten. Das war zum einen die nuklearwissenschaftliche Elite des Irak, die ihr Land nach dem amerikanischen Einmarsch von 1991 teilweise verließ; bekanntester Vertreter dieser Gruppe war Iraks begabtester Nuklearwissenschaftler Hussein Sharistani. Zum anderen begann nach der Beendigung des südafrikanischen Nuklearwaffenprogramms im Jahr 1993 – kaum mehr als zwei Jahre, nachdem 500 ehemals sowjetische Nuklearexperten ins Land gekommen waren – der Exodus nuklearer Söldner aus Südafrika. Thomas Reed und Danny Stillman, zwei altgediente Nuklearexperten vom Livermore National Laboratory beziehungsweise von Los Alamos, haben hierüber in ihrem 2009 erschienenen Buch „The Nuclear Express“ berichtet.9 Einige der ursprünglich 1000 Mann starken Mannschaft gingen in den Iran, einige ließen sich vom pakistanischen Atomschmuggler A. Q. Khan anwerben und einige halfen Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi bei seinem letztlich gescheiterten Versuch, sein Land nuklear aufzurüsten. Andere blieben im Land und reisten, nur mit befristeten Verträgen ausgestattet, zur Beratung vor Ort in Länder mit offenkundig nuklearen Ambitionen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die von Thérèse Delpech, Direktorin für Strategische Studien der französischen Atomenergiekommission, öffentlich gemachte Information der Saudis, dass südafrikanische Atomwissenschaftler in den Jahren 2004 und 2005 etwa 20 Mal in den Iran gereist sind.10 Das monatliche Salär für hoch qualifizierte nukleare Fremdarbeiter beträgt inzwischen 20 000 bis 25 000 Dollar.
Die Tatsache, dass südafrikanische Nuklearwissenschaftler nach wie vor gut im Geschäft sind, überrascht nicht – und vermittelt doch ein ungutes Gefühl. Denn noch immer, ja zunehmend wachsen die Zweifel, ob Südafrika sein gesamtes Potenzial an Nuklearwaffen und hochangereichertem Uran Anfang der neunziger Jahre tatsächlich vernichtet beziehungsweise abgereichert hat. Es gibt derzeit weltweit nur noch wenige einschlägige Experten – die entsprechenden Fachleute der IAEA eingeschlossen –, die die Erklärung des früheren südafrikanischen Premierministers Frederik Willem de Klerk zur militärischen Entnuklearisierung Südafrikas für bare Münze nehmen. Die nachweislich falsche Aussage de Klerks, Südafrika habe keinerlei fremde Hilfe beim Aufbau seines Atomwaffenpotenzials in Anspruch genommen, musste den Schluss nahelegen, dass er es auch anderweitig mit der Wahrheit nicht immer ganz genau nahm. Dass Israel in Südafrika nukleare Entwicklungshilfe geleistet hat, gehört inzwischen zum gesicherten Stand der Erkenntnis. Ein eher seltsamer „Beweis“ gelang hierbei zwei britischen Journalisten, die Mitte der neunziger Jahre in Südafrika recherchierten und sich vom ehemaligen Koch des südafrikanischen Nuklearwaffenzentrums berichten ließen, er habe regelmäßig koschere Kost zubereiten müssen.11
Die Geschäfte des Pakistaners A. Q. Khan
Welchen Stellenwert das Problem des südafrikanischen Atomwaffenprogramms derzeit hat, wird deutlich an der Aussage eines profunden Kenners der Weiterverbreitung von Atomwaffen, der vor einigen Monaten im Rahmen einer vertraulichen Konferenz die Frage nach den künftigen neuen Nuklearmächten ohne Zögern mit drei Ländernahmen beantwortete: Iran, Brasilien, Südafrika. Nach dem ersten erfolgreichen Nuklearwaffentest Pakistans 1998 sagte der „Vater“ des pakistanischen Programms, A. Q. Khan: „Es gab eine christliche Bombe, eine jüdische Bombe, eine buddhistische Bombe und eine hinduistische Bombe. Jetzt gibt es auch eine islamische Bombe.“ Doch dies ist aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht das Ende der Nukleargeschichte. Auch die „African bomb“, die manche auch als die „black bomb“ bezeichnen, ist möglich.
Mit der besonderen Situation der südafrikanischen Nuklearwissenschaftler sind die quantitativ spektakulären Wanderungsbewegungen der nuklearen Waffenspezialisten beschrieben. Hinzu kommt jedoch noch eine Variante, deren qualitative Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Gemeint sind die Transfers, die sich mit dem Namen und den Aktivitäten des Pakistaners A. Q. Khan verbinden. Dieser hatte auf der Basis von Unterlagen, die er als Mitarbeiter der deutsch-holländischen Firma URENCO illegal an sich genommen hatte, die pakistanische Nuklearwaffe entwickelt.
In den frühen achtziger Jahren entschied Khan, der inzwischen über ein weltweit operierendes Netz von Zulieferern für den nuklearen Bombenbau verfügte, sein Wissen privat zu vermarkten. Primäre Zielrichtung war der Nahe Osten. Im Januar 1984 ging ein erstes Angebot an Libyen, doch Gaddafis Experten fühlten sich außerstande, das Material aus Pakistan zu bewerten – geschweige denn, es materiell umzusetzen. Um dieses Defizit zu beseitigen, warb Gaddafi nach Informationen der IAEA einen deutschen Wissenschaftler an, der im Umfeld der URENCO gearbeitet hatte und als Experte für den Bau und Betrieb von Zentrifugen zur Anreicherung von Uran galt. Als Khan fünf Jahre später sein Angebot wiederholte, war Libyen bereit. 1991 kam es zum Vertragsabschluss über die Lieferung von P-1-Zentrifugen.
Ähnliche Angebote waren 1987 an den Iran und 1990 an den Irak gegangen. Das Geschäft mit Libyen, das die Lieferung von 10 000 Zentrifugen vorsah, scheiterte 2002; der Vertrag mit dem Iran über die Lieferung von Konstruktionszeichnungen für P-1-Zentrifugen sowie einigen funktionsfähigen Zentrifugen und einer unbekannten Menge beschaffungskritischer Materialien für den Bau von Zentrifugen wurde erfüllt (später kaufte der Iran von Khan 500 P-1-Zentrifugen und einen vollständigen Satz der Konstruktionsunterlagen für die leistungsstärkere P-2).
Transfer von Wissenschaftlern
Mit dem Irak kam Khan nicht ins Geschäft. Wenn dennoch dem Versuch einer Vertragsanbahnung zwischen Khan und Saddam Hussein besondere Bedeutung zukommt, dann deshalb, weil das Original des pakistanischen Angebots von den Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde 1995 im Irak sichergestellt werden konnte. Die Lektüre dieses Dokuments ist atemberaubend, stellt es doch in Aussicht, den Irak binnen drei Jahren zum Preis von 150 Millionen Dollar zur Nuklearmacht hochzurüsten. Dazu wollte Khans Organisation alle erforderlichen Materialien liefern. Doch nicht nur dies. Der letzte Absatz des Angebots lautet: „Falls erforderlich können zwei bis drei Wissenschaftler veranlasst werden, ihre gegenwärtige Beschäftigung aufzugeben und in den Dienst des Vertragspartners zu treten.“ Der Transfer von Wissenschaftlern war daher Teil von Khans Konzept.
Natürlich löste der Fund dieses sensationellen Papiers durch den Leiter des italienischen Action Teams im Irak, Maurizio Zifferero, zunächst ungläubiges Staunen aus. Hinzu kamen heftige Proteste der Pakistani, verbunden mit der Behauptung, das Papier sei eine plumpe Fälschung. Doch Zifferero und seine Leute ließen sich nicht beirren, wie David Albright in seinem jüngst erschienenen Buch „Peddling Peril“ beschrieb.12 Es gelang ihnen in langwieriger Kleinarbeit, Aktenvermerke der Verantwortlichen des irakischen Nuklearprogramms sicherzustellen, die sich expressis verbis auf das Angebot Khans bezogen. Damit war dessen Authentizität unstreitig. Was allerdings die pakistanische Diplomatie nicht daran hindert, weiterhin das Gegenteil zu behaupten. Noch 2008 wies Nawaz Sharif, der zu der Zeit von Ziffereros Recherche Pakistans Premierminister war, jeden Verdacht zurück, dass es in den neunziger Jahren pakistanische Proliferationsaktivitäten gegeben habe. Dabei wussten die USA schon früh über die dubiosen nuklearen Aktivitäten der Pakistani Bescheid. Anfang 2004 wurde bekannt, dass der Generalstabschef der pakistanischen Armee, General Mirza Aslam Beg, 1990 dem damaligen Staatssekretär im amerikanischen Verteidigungsministerium Henry Rowen gedroht hatte, Pakistan werde dem Wunsch des Iran nachkommen, ihn bei seiner nuklearen Aufrüstung zu unterstützen, wenn die USA seinem Land nicht großzügige Hilfe gewähren würden. Rowens schriftlicher Bericht hierzu verschwand in irgendeiner Ablage und es sollte noch einmal zehn Jahre dauern, bis Washington die Proliferationsaktivitäten Pakistans als ernsthaftes Problem erkannte.
Ob von Khans Angebot, bei Bedarf einschlägige Wissenschaftler zu delegieren, Gebrauch gemacht wurde, ist schwer zu beantworten. Nur im Fall Libyens sind offensichtlich südafrikanische Wissenschaftler im Spiel gewesen – einige direkt angeworben, andere als Leihgaben des Systems Khan. Bezüglich des Iran ist die Lage unübersichtlich. Dort waren – und sind – so viele Nuklearsöldner in Diensten, dass es schwer auszumachen ist, wer delegiert ist oder auf eigene Rechnung arbeitet. Der Irak, der Khans Angebot abgelehnt hatte, hatte sich inzwischen anderweitig einschlägige Expertise besorgt. Drei deutsche Wissenschaftler, getarnt als „Experten für Solarenergie“, unterwiesen ab Ende der achtziger Jahre die irakischen Ingenieure im Umgang mit ltrazentrifugen. Der Sachverhalt überrascht nicht. Dass die deutsche Industrie beim Aufbau des irakischen Nuklearprogramms eine herausragende, wenngleich unrühmliche Rolle gespielt hat, ist inzwischen vielfältig und ausführlich dokumentiert. Darüber hinaus spricht alles dafür, dass auch Khans Verkauf von P-1- und P-2-Zentrifugen nach Nordkorea nicht ohne fachmännische Unterstützung beim Aufbau und Betrieb der Zentrifugen vonstatten ging. Die Aussage des ehemaligen pakistanischen Präsidenten Pervez Musharraf, es sei nur nordkoreanisches Fachpersonal in Pakistan ausgebildet worden, ist ebenso wenig glaubhaft wie seine Aussage, Khan habe nur etwa 20 Zentrifugen nach Nordkorea geschafft. Vor wenigen Monaten ist nun der vom Verfasser seit langem vermutete Transfer von pakistanischen Experten für den Aufbau und Betrieb von Zentrifugen nach Nordkorea von der CIA bestätigt worden.
Bisher ging es, wenn von Pakistan die Rede war, nur um die illegalen privatwirtschaftlichen Aktivitäten eines einfachen pakistanischen Bürgers. So jedenfalls würden es die jeweiligen pakistanischen Regierungen gerne sehen. Doch davon kann keine Rede sein. Die Beziehungen Khans zur nuklearen Elite seines Landes waren allzeit eng. Dass er dennoch ungestört über viele Jahre die Geheimnisse der pakistanischen Nuklearforschung privat vermarkten konnte, hat wesentlich damit zu tun, dass die pakistanischen Regierungen die Kontrolle über ihr gesamtes nukleares Fachpersonal offenbar längst verloren hatten. Khans Geschäfte waren eine Folge dieser Entwicklung, die unbestreitbare Zusammenarbeit pakistanischer Nuklearwissenschaftler mit Al-Kaida eine andere.
Im Dienste des Terrorismus
Kurz vor dem 11. September 2001 erhielt die amerikanische Regierung Informationen, dass in Pakistan eine Gruppe von pensionierten Nuklearwissenschaftlern, hohen Offizieren, Ingenieuren und Technikern entstanden war, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, Al-Kaida bei der Herstellung von nuklearen, biologischen und chemischen Waffen zu unterstützen. Gründer und Chef der Gruppe war Sultan Bashirrudan Mahmood, der ehemalige Direktor der pakistanischen Atomenergiebehörde. 1987 hatte er ein Buch mit dem Titel „Doomsday and Life after Death: The Ultimate Fate of the Universe as Seen by the Holy Quran“ verfasst. Die Botschaft des Buches: Die Welt werde schon bald in einer nuklearen Katastrophe ihr Ende finden und auf diese Weise die Prophezeiungen des Koran erfüllen.
Mahmood und Chaudiri Andul Majeed, ein anderer prominenter pakistanischer Nuklearwissenschaftler, trafen sich im August 2001 mit Osama Bin Laden, um über die Möglichkeit zu diskutieren, wie Al-Kaida in den Besitz von Nuklearwaffen kommen könnte. Auch wenn inzwischen wesentliche Teile dieses Gesprächs über Dritte an die Öffentlichkeit gelangten, bleibt offen, welches Ergebnis und welche Folgen es letztlich hatte. Nachdenklich muss eine Passage des Dialogs zwischen Mahmood und Osama Bin Laden machen, den der ehemalige amerikanische Geheimdienstchef George Tenet in seinen Memoiren veröffentlicht hat.13Danach Mahmood: „Der schwierigste Teil des Prozesses ist, über genügend spaltbares Material zu verfügen.“ Darauf Osama Bin Laden: „Und wenn wir dieses Material schon haben?“ Mahmood war hierüber sehr überrascht, wie er bei einer späteren Vernehmung zugab.
Doch pakistanische Wissenschaftler waren nicht die einzigen, die mit Al-Kaida über nukleare Fragen verhandelten. Nachdem die USA, hochgradig sensibilisiert durch die Ereignisse des 11. September, sich eingehend mit den Aktivitäten von Al-Kaida beschäftigten, kamen sie zu der Erkenntnis, dass auch ehemals sowjetische Wissenschaftler mit der Terrororganisation kollaborierten. Auch hierüber berichtet George Tenet in seinen Memoiren. Zwar wiesen russische Offizielle diese Vorwürfe zurück, doch es entsprach dem gängigen Ritual, bis zum endgültigen Beweis alles für Russland Nachteilige abzustreiten.
Wenn es schließlich noch eines Beweises bedurft hätte, dass Pakistan seine nuklearen Geheimnisträger nicht mehr unter Kontrolle hat, dann ergibt sich dies aus neuesten Erkenntnissen über das Engagement pakistanischer Nuklearwaffenspezialisten in Myanmar (Birma), über die Jeffrey Richelson in seinem jüngst erschienenen Buch „Defusing Armageddon“ berichtet.14 Als zwei namentlich bekannte hochqualifizierte pakistanische Nuklearwissenschaftler auf Druck der USA von den pakistanischen Behörden über ihre Verbindungen zu Al-Kaida befragt werden sollten, waren sie „unbekannt verzogen“. Recherchen ergaben, dass sie an einem nuklearen Projekt in Myanmar arbeiteten. Das überrascht nicht – nicht mehr. Seit einigen Monaten verdichten sich die Informationen, dass Nordkorea – mit Hilfe pakistanischer Wissenschaftler – die Militärdiktatur in Myanmar beim Aufbau einer nuklearen Infrastruktur unterstützt. Das Modell ist offenbar die Zusammenarbeit Nordkoreas mit Syrien, die ja mit einem israelischen Luftangriff auf einen von Nordkorea gebauten Reaktor im Herbst 2007 ein Ende fand.
Auch indische Spezialisten sind an der hochprofitablen nuklearen Wissensvermarktung beteiligt. Chaudhary Surendar und Y.S.R. Prasad, beide ehemalige Vorsitzende der staatlichen indischen Atomenergiekommission, finden sich auf der offiziellen Sanktionsliste der USA. Vorwurf: „Vermittlung geheimer nuklearer Erkenntnisse an Teheran“.
Das Interesse am Phänomen der „nuklearen Söldner“ erschöpft sich nicht in seiner Darstellung. Ziel ist vielmehr die Vermittlung der Erkenntnis, dass fast alle nuklearen Waffenprogramme mit fremder Expertise zustande gekommen sind. Der übliche Verweis auf tatsächlich vorhandene nationale technische Unzulänglichkeiten der nuklear ambitionierten Länder ist daher belanglos. Wenn ein führender deutscher Wissenschaftsjournalist vor einigen Jahren dem Iran die Fähigkeit absprach, einen Implosionsgefechtskopf zu bauen, dann war dies wahrscheinlich richtig. Dennoch war es in der Sache irrelevant, weil einschlägige Fremdarbeiter, die der Iran nachweislich beschäftigt, dies sehr wohl können. Damit erweisen sich auch die vielfach angestellten Vergleiche von Entwicklungszeiten als wenig aussagefähig. Wenn A. Q. Khan glaubhaft anbieten konnte, einen Staat in drei Jahren zur Atommacht hochzurüsten, dann sind alle Vergleichszahlen über die Entwicklung in anderen Nuklearstaaten obsolet. Schließlich wusste Khan, der selbst Atomwaffen entwickelt und in zehn Jahren hierfür 300 Millionen Dollar ausgegeben hatte, wovon er sprach.
1 David E. Hoffman: The Dead Hand. The Untold Story of the Cold War Arms Race and its Dangerous Legacy, New York 2009, S. 402.
2 Zitiert nach Hoffman (Anm. 1), S. 470.
3 Vgl. ebd., S. 473.
4 Zitiert nach Sharon Begley: Unmasking Bioterror, Newsweek 8.10.2001, http://www.newsweek. com/2001/10/07/unmasking-bioterror.html.
5 Ronen Bergman: The Secret War with Iran, New York 2008, S. 318.
6 Michael Dobbs: Collapse of Soviet Union Proved Boon to Iranian Missile Program, Washington Post, 13.1.2002.
7 Vladimir A. Orlov und Alexander Vinnikov: The Great Guessing Game. Russia and the Iranian Nuclear Issue, The Washington Quarterly, Frühjahr 2005, S. 49–66.
8 Vgl. Hoffman (Anm. 1), S. 408.
9 Thomas Reed und Danny Stillman: The Nuclear Express, Minneapolis 2009, S. 183.
10 Thérèse Delpech: Iran and the Bomb, New York 2006, S. 83.
11 Peter Hounam und Steve McQuillan: The Mini-Nuke Conspiracy, London 1995, S. 142.
12 David Albright: Peddling Peril, New York 2010, S. 87.
13 George Tenet: At the Center of the Storm, New York 2007, S. 268.
14 Jeffrey T. Richelson: Defusing Armageddon, New York 2009, S. 136.
Dr. HANS RÜHLE, Ministerialdirektor a.D. Von 1982 bis 1988 war er Leiter des Planungsstabs im Bundesverteidigungsministerium.