Nicht mit dem Schwert allein
Erfolge und Probleme der neuen Stabilisierungspolitik im Irak
Deutschland beteiligt sich wie einige andere Länder an den Stabilisierungsmaßnahmen im Irak. Zusammen mit der Regierung Abadi will man dem IS den politischen Nährboden entziehen – und dazu beitragen, den Migrationsdruck an Europas Grenzen zu vermindern. Bewährt sich diese Politik? Welche neuen Erkenntnisse hat man gewonnen?
Wie sollten die Vereinten Nationen und die großen Ordnungsmächte auf den Vormarsch des so genannten Islamischen Staates (IS) reagieren, der im Sommer 2014 den Irak überrollte? Präsident Barack Obama hatte den Rückzug der USA aus der staatenbildenden Verantwortung in Afghanistan und Irak zu einem zentralen Anliegen seiner Präsidentschaft gemacht. Der UN-Sicherheitsrat war im Gefolge der Libyen-Krise wenig handlungswillig. Wollte man arabische Staaten in einen breiten, nicht ausschließlich militärischen Ansatz einbeziehen, war auch die NATO kein geeigneter Handlungsrahmen.
So bildete sich unter amerikanischer Führung eine lockere Koalition von Ländern, darunter zwölf Staaten der Arabischen Liga, heraus, die sich an der Bekämpfung des IS im Irak beteiligen wollen. Im Vorfeld der Londoner Außenministerkonferenz vom 22. Januar 2015 bringen die USA die Post-Konflikt-Stabilisierung erstmals als eigenständigen Arbeitsbereich ins Gespräch. Deutschland zögert nicht, das Thema aufzugreifen; anders als zunächst die USA sieht es hier unmittelbaren Handlungsbedarf. Die deutschen Überlegungen treffen auf Zustimmung. Am 18. März findet die erste Sitzung der Arbeitsgruppe Stabilisierung unter deutschem Ko-Vorsitz – zusammen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten – im Auswärtigen Amt statt.
Für die deutsche Entscheidung, sich beim Thema Stabilisierung international zu engagieren, waren mehrere Faktoren maßgebend. Im Rahmen des Review-Prozesses 2014 hatte sich im Auswärtigen Amt die Überzeugung herausgebildet, dass Außenpolitik in Zeiten mannigfacher Krisen eines ausgebauten Instrumentariums für Krisenmanagement bedürfe. Sichtbares Ergebnis war – angelehnt an britische, amerikanische und niederländische Beispiele – die Bündelung aller Instrumente und Expertise für die Krisenbearbeitung in einer eigenen Abteilung. Die Irak-Krise entwickelte sich schnell zum ersten großen Test für die neu entstehenden Krisenmanagementstrukturen.
Nach monatelangen innerirakischen Machtkämpfen wurde Haider al-Abadi im September 2014 neuer Premierminister. Seine Kritik an der grassierenden Korruption, seine Offenheit für eine effektivere Berücksichtigung sunnitischer Anliegen und eine schonungslose Analyse der Gründe für das Totalversagen der irakischen Armee beim Angriff des IS auf Mossul schufen wichtige Anknüpfungspunkte für ein abgestimmtes Vorgehen von internationaler Koalition und irakischer Regierung.
Gemeinsam wollte man den IS nicht nur militärisch besiegen, sondern ihm jegliche Grundlagen entziehen. Das konnte nur gelingen, indem der Staat sich gerade gegenüber der vertriebenen, vorwiegend sunnitischen Bevölkerung als gerecht und leistungsfähig erweist. Es ging darum, den in die vom IS befreiten Gebiete zurückkehrenden Binnenflüchtlingen so schnell wie möglich wieder eine Lebensperspektive im Irak zu eröffnen. Auf diesem Grundverständnis ruht die Stabilisierungspolitik. Die ersten konkreten Schritte dahin sind Sicherheit, Wasser, Strom, Unterkunft, medizinische und schulische Versorgung.
Effektive Stabilisierung braucht leistungsfähige Umsetzungsstrukturen vor Ort. Auf irakische Mitträgerschaft in der Praxis, auf Ownership, kommt es entscheidend an: Nur wachsende Loyalität zwischen zurückkehrenden Binnenflüchtlingen und staatlicher Macht kann das Rücksickern des IS oder die Entstehung neuer Terrorgruppen dauerhaft verhindern und somit den militärischen Sieg politisch festigen.
Im Herbst 2016 dauert die Krise im Irak an, doch der Staat hat überlebt und der Herrschaftsbereich des IS konnte entscheidend zurückgedrängt werden. Mit Unterstützung der Anti-IS-Koalition verfolgt die Abadi-Regierung neben dem militärischen Kampf aktiv Ansätze zur so wichtigen politischen Stabilisierung des Landes.
Task Force als politischer Rahmen
Wie kann irakische Ownership in der Stabilisierungspolitik verankert werden? Die Gründung der Bagdader Task Force für Stabilisierung im Mai 2015 erwies sich als der entscheidende Schritt. Daran beteiligt waren in erster Linie der damalige Stabschef des Premierministers, Mahdi al-Allaq, und Deutschland als Vertreter der Koalition.
In der Task Force kommen drei zentrale Akteure zusammen: der Premierminister, vertreten durch seinen Stabschef bzw. Kabinettssekretär; die Gouverneure, in deren Provinzen der Kampf gegen den IS tatsächlich ausgefochten wird, d.h. Anbar, Diyala, Salah ad-Din und Ninewa;1 sowie die internationalen Akteure, also UNAMI und die Staaten der Koalition sowie die Weltbank und das Internationale Rote Kreuz als Organisationen mit Beobachterstatus. Auf die enge Einbindung der Gouverneure, die in ihren jeweiligen Provinzen eine Schlüsselfunktion bei der Planung und Umsetzung von praktischen Stabilisierungsmaßnahmen haben, kommt es besonders an. Der Vorsitz liegt gemeinsam beim Vertreter des Premierministers und dem Vertreter Deutschlands.
Die Task Force bildet den unabdingbaren politischen Verständigungsrahmen für alle Beteiligten. Sie hat Vertrauen geschaffen und sich zum politischen Motor der stabilisierungspolitischen Kooperation entwickelt, indem sie sich auf die Zusammenarbeit zwischen den Hauptstädten der Anti-IS-Koalition stützt. Deren wichtigstes durchführendes Organ war von Anfang an das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP).
Zurück in die Heimat
Eine weitere positive Nachricht hat sich bisher kaum verbreitet: Über 900 000 Binnenflüchtlinge sind mittlerweile wieder in ihre Heimat zurückgekehrt; ihre steigende Zahl ist ein Gradmesser für gelingende Stabilisierungspolitik.
Tikrit ist hierbei ein politisch wichtiger erster Erfolg. Die Heimatstadt Saddam Husseins in der Provinz Salah ad-Din wurde im Frühjahr 2015 vom IS befreit. Über 100 000 Binnenflüchtlinge kehrten bislang nach Tikrit zurück, das sind rund 90 Prozent der ursprünglichen Bevölkerung der Stadt. Entscheidend waren die Verlegung sunnitischer Sicherheitskräfte in das Stadtzentrum, um Sicherheit vor Ort zu gewährleisten, und das beherzte Zupacken der UNDP unter Leitung der stellvertretenden Sondergesandten des UN-Generalsekretärs im Irak, Lise Grande.
Mit der Befreiung von Sindschar und Baidschi, der Rückeroberung der Provinzhauptstadt von Anbar, Ramadi, sowie dem Fall von Falludscha steht die Stabilisierungspolitik im Irak vor noch größeren Aufgaben. Das hat natürlich manche Probleme mit sich gebracht. Festzuhalten bleibt aber auch hier, dass es mittlerweile in Anbar, der größten Flächenprovinz, gelungen ist, die Rückkehr von Binnenflüchtlingen in größerer Zahl einzuleiten.
Kurz- und mittelfristige Hilfe
Die ursprünglichen UNDP-Stabilisierungsprojekte sind auf schnelle, sichtbare Wirkung und eine kurze Dauer von ca. drei Monaten angelegt; dafür stehen etwa 100 Millionen Dollar zur Verfügung. Zwischen kurzfristiger Stabilisierung und langfristigem, teurem Wiederaufbau haben sich mittlerweile mittelfristig ausgelegte Projekte (drei bis vier Jahre) mit stabilisierender Wirkung herausgebildet. Dabei geht es vor allem um den Wiederaufbau öffentlicher Infrastruktur, zum Beispiel von Schulen und Krankenhäusern, und die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel bot dem irakischen Premierminister Abadi bei seinem Berlin-Besuch im Februar 2016 einen günstigen Kredit über 500 Millionen Euro für genau diese Zwecke an. Sowohl Weltbank als auch UNDP engagieren sich nun ebenfalls in diesem mittelfristigen Bereich – ein Hinweis auf die bedarfsorientierte Anpassungsfähigkeit von Stabilisierungspolitik. Unbeantwortet bleibt allerdings die Frage, wie der langfristige Wiederaufbau finanziert werden soll.
Probleme bei der Stabilisierung
Zu Verzögerungen bei der Einleitung von Stabilisierungsmaßnahmen kommt es, wenn eine Stadt stark zerstört oder durch Sprengfallen verseucht ist. In Ramadi zeigte sich diese Problematik im Frühsommer 2016 in aller Schärfe: Der UN Mine Action Service, unterstützt von zwei privaten Firmen, leistete über Monate den Großteil der Arbeiten. Über 100 Iraker wurden getötet, als sie in ihre verminten Häuser in Ramadi zurückkehren wollten. Rivalisierende Organisationsstrukturen auf irakischer Seite waren ausschlaggebend für diese traurige Bilanz. Zugleich zeigt sich sehr deutlich der übermächtige Wille der Bevölkerung, selbst unter schwierigen Bedingungen in ihre Heimat zurückzukehren.
Ein weiteres Problem ist die zwiespältige Rolle der Volksmobilisierungskräfte (PMF) im Irak. Angesichts der schwachen regulären Sicherheitsstrukturen sind sie im Kampf gegen den IS unverzichtbar; andererseits führt die Durchdringung der überwiegend schiitischen PMF mit sektiererischen Milizen immer wieder zu ernsten Menschenrechtsverletzungen, vor allem gegenüber der sunnitischen Zivilbevölkerung.
Die Einnahme der Stadt Falludscha liefert hierfür ein Beispiel. Unmittelbar vor Beginn der Offensive hatte Premierminister Abadi seinen Kommandeuren eingeschärft, der Schutz der Zivilisten genieße oberste Priorität. Dem entsprach eine Einsatzplanung, welche die beteiligten PMF-Kräfte lediglich im Umfeld der Stadt vorsah. Nahe der Ortschaft Saqlahwiha bei Falludscha kam es im Verlauf der Operation am 1. Juli 2016 dennoch zu massiven Übergriffen auf die Zivilbevölkerung. Sie gingen von der Miliz Kataib Hisbollah aus und ihnen fielen mindestens 50, wahrscheinlich eine noch höhere Zahl von Zivilisten zum Opfer. Es sagt viel über die Schwäche der staatlichen Autorität aus, dass Mitglieder der von der Regierung eingesetzten Untersuchungskommission seither um ihr Leben fürchten müssen.
In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, wie wichtig die Zusammenarbeit von Polizeikräften ist. Eine leistungsfähige lokale Polizei kann den Binnenflüchtlingen Sicherheit oder zumindest einen gewissen Schutz gegen die Gewalt der Milizen bieten.
Schwache staatliche Autorität
Die Provinzgouverneure halten als Vorsitzende der so genannten Krisenzelle, in der Vertreter von Ministerien und der örtlichen Polizei zusammenkommen, viele Fäden in der Hand. Damit will die Zentralregierung den lokalen und regionalen Instanzen mehr politische Entscheidungsmacht zu übertragen. Doch in den Provinzen trifft diese eigentlich überzeugende Logik auf intransparente Machtstrukturen und weit verbreitete Korruption. Bisher mussten sich die vier an der Stabilisierungsarbeit beteiligten Gouverneure von Anbar, Diyala, Ninewa und Salah ad-Din gegen massive, auch gewalttätige Angriffe wehren.
Alle Versuche seitens staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Instanzen, Versöhnung „von oben“ zu organisieren, sind bislang gescheitert. Rachejustiz infolge der Rückeroberung besetzter Gebiete bleibt eine ernste Gefahr, die alle stabilisierungspolitischen Ansätze zunichte zu machen droht.
Die im Grenzbereich der Provinz Diyala und der kurdischen Provinz Suleymania gelegene Stadt Dschalula blieb noch lange nach der Befreiung des Gebiets vom IS durch die kurdischen Peschmerga eine Art Niemandsland. Die Peschmerga verhinderten die Rückkehr der 100 000 geflohenen Einwohner. Zu stark war das Misstrauen gegenüber dem arabischen Bevölkerungsteil der Stadt, der aus kurdischer Sicht starke Sympathien für den IS gezeigt hatte. Hinzu kamen alte Ressentiments aus der Zeit der gewaltsamen Arabisierung des Grenzgebiets unter Saddam Hussein. Erst hochrangige, geduldige Gespräche unter Beteiligung der kurdischen Seite, der Sunniten und der schiitischen Kräfte brachten schließlich die Einigung auf ein einvernehmliches Überprüfungsverfahren, das den Weg für eine Rückkehr der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung nach Dschalula öffnete.
Passive Nachbarstaaten
Die Frage, ob der Irak als einheitlicher Staat fortbestehen wird, fließt in die politische Wahrnehmung ein, auch wenn sie selbst nicht Gegenstand dieser Betrachtung ist. Meiner Ansicht nach ist deterministischer Defätismus ebenso unangemessen wie übertriebener Optimismus. Deshalb sind stabilisierungspolitische Erfolge von entscheidender Bedeutung für den weiteren Weg des Landes in dieser unsicheren Phase des Übergangs.
Auffällig ist die Zurückhaltung der arabischen Nachbarstaaten bei den Bemühungen um Stabilisierung im Irak, sowohl finanziell als auch bei der Umsetzung von Projekten. Die Staaten der Region scheinen vor allem mit sich selbst beschäftigt.
Immer noch ist die nordirakische Stadt Mossul die Hochburg des IS im Irak; ihre Rückeroberung ist das logische nächste Ziel der militärischen Kampagne. Aber schon heute steht die Frage im Raum: Was beziehungsweise wer kommt nach dem IS? Nur wenn die irakische Seite im Vorfeld eine belastbare politische Antwort erarbeitet, kann es gelingen, den militärischen Sieg in einen Erfolg für die Regierung und für die Zukunft des Irak als einheitlicher Staat umzumünzen.
Sowohl die erfolgreich durchgeführten Projekte in Tikrit, Al Dour oder Rabia und Sinuni als auch die gemeinsame Arbeit an den Problemen zum Beispiel in Anbar (Ramadi, Falludscha) haben auf irakischer wie internationaler Seite Vertrauen geschaffen und die Rückkehr vieler Binnenflüchtlinge ermöglicht. Engpässe bei der Sprengfallenbeseitigung konnten gezielt angegangen werden; politische Spannungen oder sensible Themen wie der Schutz von Zivilisten wurden mit zentralen Akteuren thematisiert; wiederholte finanzielle Engpässe konnten durch Appelle an Mitglieder der Anti-IS-Koalition behoben werden. Der institutionalisierte Prozess unter Einbeziehung von Regierung und Gouverneuren schuf Legitimität und politisches Momentum. Er ist bei allen Problemen eine weithin akzeptierte Berufungsgrundlage.
Stabilisierungspolitik ist ebenso wie humanitäre Hilfe auf die Sicherung menschlicher Existenz gerichtet; doch wer stabilisierend wirkt, nimmt auch Einfluss auf die Machtverhältnisse. Damit stellen sich folgende Fragen: Hilft die Politik, ein autoritäres Regime zu stabilisieren, gar Menschenrechtsverletzungen zu kaschieren? Oder, von besonderer Bedeutung im Irak, leistet die Rücksiedlung von Binnenflüchtlingen einer Bevölkerungsumverteilungspolitik Vorschub? Von lokalen Einzelfällen abgesehen ist dies nicht der Fall. Nehmen wir das Beispiel Ramadi: Während viele Wohnbezirke von IS-Sympathisanten noch intakt waren, wiesen vor allem die Häuser und Straßenzüge von Gegnern massive Zerstörungen auf. Nachdem UNDP dieses Muster erkannt hatte, konzentrierte es seine Maßnahmen auf die stärker zerstörten Gebiete, um auch die Gegner des IS gleichberechtigt an Stabilisierungserfolgen teilhaben zu lassen.
Nicht anstelle der Iraker handeln
Stabilisierung ist keine Alternative zu militärischer Hilfe. Sie mag, wie im Irak, mit dieser einhergehen. Die Räumung von Minen oder Sprengfallen bildet einen typischen, aber keinesfalls den einzigen Berührungspunkt. Es bedarf besonderer Vorkehrungen, um eine enge Verzahnung des Vorgehens über die zivil-militärische Trennlinie hinweg zu erreichen. Im Irak gelang der Brückenschlag durch die Beteiligung des stellvertretenden Kommandeurs der US-geführten Anti-IS-Operation als Beobachter an den Sitzungen der Stabilization Task Force.
Hilfe von außen kann eine Regierung nur so lange stärken, wie diese nicht selbst ihre Legitimität untergräbt. Die internationale Gemeinschaft achtet darauf, nicht anstelle der Iraker zu handeln. Das gilt durchgängig für die Stabilisierungspolitik. Es gilt umso mehr für Fragen von Transitional Justice und Versöhnung, die noch tiefer in die nationale Prärogative der Regierung eingreifen. Internationale Akteure im Irak akzeptieren die Begrenztheit ihres Einflusses als Kehrseite der gewollten Begrenzung ihrer Verantwortung – ein Dilemma jeder Stabilisierungspolitik. Das erscheint aus heutiger Sicht als kluge Selbstbeschränkung auf das Machbare; im Falle eines Scheiterns wird allerdings der Vorwurf nicht ausbleiben, man habe nicht entschlossen genug eingegriffen.
Deutschlands neue Rolle
Deutschland hat sich, getrieben von der Doppelkrise in Syrien und im Irak sowie unter dem politischen Druck der Migrationswelle 2015 und einer steigenden terroristischen Gefährdung Europas, zu einem Mitspieler auf dem Feld der internationalen Stabilisierungspolitik entwickelt. Der Ko-Vorsitz im Rahmen der Anti-IS-Koalition und das anhaltende Engagement bei der Stabilisierung befreiter Gebiete im Irak sind sichtbarer Ausdruck dieses neuen deutschen Rollenverständnisses. Sowohl Erwägungen nationalen Interesses als auch die Bereitschaft, auf die internationale Forderung nach Übernahme von mehr Verantwortung in der Welt konstruktiv einzugehen, werden Deutschland voraussichtlich bestimmen, sein stabilisierungspolitisches Engagement weiter auszubauen. Dafür gibt es gute Ansätze, aber auch Grundvoraussetzungen, die es im Blick zu behalten gilt.
Stabilisierungspolitik mit Augenmaß kennt ihre systemischen Grenzen und berücksichtigt die eigenen beschränkten Kapazitäten. Zugleich zeigt die irakische Erfahrung, dass Deutschland selbst mit minimalem Personal vor Ort erfolgreich agieren kann, sofern ein enger Verbund mit dem Gastland und den größeren Akteuren – im Irak vor allem UNAMI und USA – sowie breite internationale Unterstützung gegeben sind.
Mit der Herausbildung der Stabilisierungspolitik ging ihre Abgrenzung von verwandten Tätigkeitsfeldern einher. In der Praxis bleibt jedoch das enge Zusammenwirken aller relevanten Politikbereiche in der Krise das Entscheidende. Die Spanne reicht von zivil-militärischer Abstimmung über die Polizei- und Rechtsstaatszusammenarbeit bis zur humanitären Hilfe und der Entwicklungskooperation. Das Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Akteuren muss allerdings noch effektiver werden.
Die erfolgreiche Umsetzung vor Ort bleibt der entscheidende Erfolgsmaßstab; das gilt auch für den deutschen Stabilisierungskredit. Diejenigen, die stabilisierungspolitische Maßnahmen durchführen, müssen sich den gewandelten internationalen Herausforderungen anpassen. Hier hält der Irak eine klare Lektion bereit: Noch heute stützt sich die deutsche Stabilisierungspolitik vor Ort fast ausschließlich auf die Umsetzungskapazitäten der Vereinten Nationen.
Ekkehard Brose ist Beauftragter für zivile Krisenprävention und Stabilisierung im Auswärtigen Amt. Von 2014 bis 2016 war er Botschafter in Bagdad. Er gibt seine persönliche Meinung wieder.
- 1Die kurdischen Provinzen zählen nicht dazu, da der Kampf außerhalb ihrer Grenzen stattfindet. Sie werden allerdings durch erfolgreiche Rücksiedlung von Binnenflüchtlingen entlastet, von denen etwa ein Drittel in ihren Grenzen Aufnahme gefunden haben.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2016, S. 101-107