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01. Juli 2007

Neuanfang statt Nabelschau

Auftrag erfüllt: Deutschland hat der Eu den Weg aus dern Krise gewiesen

Eine Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft

„Die Regierungskonferenz wird gebeten, einen Vertrag (…) zur Änderung der bestehenden Verträge auszuarbeiten (…). Das Verfassungskonzept, das darin bestand, alle bestehenden Verträge aufzuheben und durch einen einheitlichen Text mit der Bezeichnung ‚Verfassung‘ zu ersetzen, wird aufgegeben.“1 Diese nüchternen Worte sind die Essenz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft: das endgültige Scheitern des ambitionierten Verfassungsprojekts verbunden mit einem am Ende recht entschlossenen Neuaufbruch der EU im bisherigen Rahmen. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat ihren Auftrag und ihr Versprechen eingelöst, der EU einen Fahrplan aus der Krise zu weisen. Damit kann das Europäische Projekt zunächst einmal ohne wesentlichen Gesichtsverlust weitergehen. Angesichts der Katastrophenszenarien des vergangenen Jahres ist das ein großer Erfolg. Was also haben der Verfassungskompromiss und der Rest der deutschen Präsidentschaft gebracht?

1. Die Blockade ist überwunden Das wichtigste Ergebnis der deutschen Präsidentschaft ist, dass jetzt eine echte Chance besteht, das vertrackte Verfassungsthema alsbald ad acta zu legen. Das sind gute Nachrichten, denn es bedeutet, dass die EU statt institutioneller Nabelschau endlich wieder mit ganzer Kraft das tun kann, wofür sie da ist: praktische Probleme lösen. Ein Zögern und ein Hinhalten mit Verweis auf die ungeklärte Lage an der Reformfront ist nun keine Option mehr für Blockierer. Der Weg zum „Europa der Ergebnisse“ (José Manuel Barroso) wird leichter. Und obwohl der Ausgang der Vertragsrevision noch unklar ist und der zu erwartende Vertrag nicht die letzte Reform der EU sein wird, ist damit doch ein psychologischer Wendepunkt erreicht. Die Krise der EU ist vorläufig beendet. Es herrscht Aufbruchstimmung. Das ist nicht wenig.

2. Ein „enges“ Mandat für die Regierungskonferenz Die deutsche Ratspräsidentschaft hat eines ihrer wichtigsten Ziele erreicht, nämlich das Mandat für die Regierungskonferenz zeitlich und inhaltlich eindeutig zu begrenzen. Die Regierungskonferenz soll noch „vor Ende Juli“ beginnen und „vor Ende des Jahres 2007“ abgeschlossen sein. Inhaltlich hat die Präsidentschaft ein offenes, vages Mandat verhindert, das einer Aufforderung zur kompletten und damit langwierigen Neuverhandlung gleichgekommen wäre und eine Ratifizierung im Jahre 2008 wohl unmöglich gemacht hätte. Stattdessen enthält das Mandat den angestrebten kleinen Katalog neu zu verhandelnder Themen und zusätzlich einige bereits sehr detailliert ausformulierte Vorgaben für den Vertragstext. So wird das psychologisch so wichtige Inkrafttreten des Vertrags vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2009 möglich.

3. Die doppelte Mehrheit bleibt Letztlich hat sich Polen, entgegen anders lautender Warschauer Rhetorik nach dem Gipfel, mit seiner Kernforderung nicht durchsetzen können. Die doppelte Mehrheit für Abstimmungen im Rat ist vereinbart, lediglich eine zeitliche Verzögerung bis 2014 bzw. 2017 wurde gewährt. Ein schaler Nachgeschmack allerdings bleibt. Der Kompromiss ist klar dem Willen der deutschen Präsidentschaft geschuldet, besser einen mangelhaften Deal zu haben als gar keinen. Überzeugend ist er nicht, vor allem nicht mit Blick auf die Aufweichung der Sperrminorititätsklausel, die ein Nachverhandeln von Mehrheitsentscheidungen erheblich erleichtert.

4. Die rotierende Präsidentschaft entfällt In Zukunft wird es einen auf zweieinhalb Jahre von den Mitgliedsstaaten gewählten Präsidenten des Rates, den viel zitierten „EU-Präsidenten“ geben. Die Abschaffung der rotierenden Ratspräsidentschaft hat zwar viele Vorteile, vor allem beim Vermeiden von Reibungsverlusten und in der kohärenten Außendarstellung der EU. Allerdings wird auch der oft unterschätzte positive Effekt der Rotation entfallen, der in der Mobilisierung der nationalen Exekutiven für das EU-Geschehen bestand. Die neue Präsidentschaft wird eine nicht vorhersehbare neue Dynamik in das Machtgefüge der Brüsseler Institutionen bringen. Vor allem eine Frage bleibt: Was macht der Präsident (oder die Präsidentin) eigentlich zwischen den Sitzungen des Europäischen Rates?

5. Kaum Fortschritt in der Außenpolitik Die Schaffung des EU-Außenministers unter dem neuen Namen „Hoher Beauftragter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik“ klingt nach großem Fortschritt. Es bleibt allerdings höchst zweifelhaft, ob dieses neue Amt mehr Kohärenz und Effizienz in die Außenpolitik der EU bringt. Schon im Verfassungsentwurf blieb hier eigentlich alles beim Alten: Die Nationalstaaten behalten sich alle Rechte vor. Im Mandat für die Regierungskonferenz wird dies nochmals unterstrichen. Der Hohe Beauftragte benötigt fürs eigene Handeln eine Einzelfallermächtigung durch die EU-27, und diese kann nur einstimmig erfolgen. Im besten Fall ist er also eher Vorbereiter und Vermittler. Außerdem bleibt die institutionelle Konstruktion unklar: Wie wird sich das Doppelamt als Ratsvorsitzender für GASP und als Außenkommissar praktisch auswirken? Wird die vorhersehbare Konkurrenz zum Präsidenten den Entscheidungsprozessen am Ende vielleicht sogar eher schaden als nutzen?

6. Zwei Geschwindigkeiten sind vorgezeichnet Eine wichtige Entscheidung mit hoher Symbolkraft und unbestimmter Auswirkung ist in der dritten Säule der EU gefallen. In der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen wird das Voranschreiten kleinerer Staatengruppen innerhalb der EU explizit festgeschrieben und der Übergang zur verstärkten Zusammenarbeit erheblich erleichtert. Damit ist das Europa der zwei Geschwindigkeiten in einem wichtigen Teilbereich des Unionsgefüges vorgezeichnet und könnte also auch anderswo Schule machen. Angesichts der stetig wachsenden Zahl der EU-Mitglieder ist diese Entwicklung ohnehin kaum aufzuhalten. Es ist daher besser, hier einen klar definierten Weg für das Unvermeidbare vorzuzeichnen als durch starres Festhalten am Einheitsweg unkontrollierten Wildwuchs oder gar ein Auseinanderbrechen der EU zu riskieren.

7. „Gelbe Karte“ der Parlamente Die Aufwertung der nationalen Parlamente in den Entscheidungsverfahren, die vor allem von den Niederlanden gefordert worden war, ist eine wichtige Neuerung. Mit einfacher Mehrheit können die nationalen Parlamente einen Gesetzentwurf der Kommission zur Prüfung zurückgeben. Rat und Parlament müssen dann im weiteren Verfahren prüfen, ob die Subsidiarität bei dem Vorhaben gewahrt ist. Diese Entscheidung wird eine bisher nicht gekannte Dynamik bei der Zusammenarbeit der nationalen Parlamente in EU-Verfahren hervorbringen und auch die viel behauptete Solidarität des Europäischen Parlaments mit seinen nationalen Geschwistern auf den Prüfstand stellen. Die Auswirkungen auf das Abstimmungsverfahren im Rat, wo Regierungen sitzen, die aus den nationalen Parlamenten hervorgegangen sind, sind ebenfalls nicht absehbar. In jedem Fall ist dies eine weitreichende Veränderung des Verfassungsgefüges und ein echter Beitrag zur Verminderung des demokratischen Defizits der EU.

8. … und was war sonst noch? Obwohl von Beginn an klar war, dass die deutsche Präsidentschaft vor allem an der Verfassungsfrage gemessen werden würde, hat es doch auch eine Reihe anderer Initiativen und Ergebnisse gegeben, die von – möglicherweise sogar höherer – Bedeutung sind. Die Bundeskanzlerin hat gleich zu Beginn der Präsidentschaft das transatlantische Verhältnis mit der wohlvorbereiteten Markt-initiative belebt und damit auch Vorarbeit für den G-8-Gipfel unter ihrem Vorsitz geleistet. Auf dem EU-Frühjahrsgipfel im März ist der deutschen Präsidentschaft der unerwartete Durchbruch in der Energie- und Klimapolitik der EU gelungen, auch dies mit erheblichen Auswirkungen auf die Dramaturgie von Heiligendamm. Einen weiteren Kompromiss hat die Kanzlerin bei der Formulierung der „Berliner Erklärung“ der EU zum Jubiläumsgipfel in Berlin erreicht. Hier konnte sie die zeitliche Komponente der Verfassungsfrage klären, was ihr den notwendigen Spielraum bei der Lösung der Inhaltsfrage gab. Und schließlich hat Deutschland durch die Einführung der Dreierpräsidentschaft einen wichtigen Präzedenzfall geschaffen und dem Rotationssystem einen Hauch von Stetigkeit verliehen. Das ist eine stattliche Bilanz, die über manche inhaltliche Unklarheit hinwegtrösten kann.

9. Fazit: Zukunftsfähigkeit der EU bleibt unklar Hat die EU unter deutscher Präsidentschaft an Zukunftsfähigkeit gewonnen? Diese Frage bleibt vorläufig offen, denn noch ist gar nichts endgültig entschieden. Aber auch bei positivem Verlauf der kommenden Regierungskonferenz und der Ratifizierungen hat die Präsidentschaft das größte Hindernis für eine effizientere EU, nämlich das klare Bekenntnis der EU-27 zur politischen Union, nicht erzeugen können. Auch für künftige Erweiterungen ist dies kein gutes Zeichen, da die berühmte „Aufnahmefähigkeit“ der EU kaum gesteigert scheint. Im Gegenteil: Die Positionen hierzu sind so klar – und so konträr – wie nie, der übergreifende vereinigende politische Wille fehlt. Aber vielleicht besteht gerade in dieser Klarheit der Fortschritt, denn sie macht den Blick frei für eine EU, die sich auf kraftvolles Handeln in wichtigen Teilbereichen einigen kann und dafür an anderer Stelle zurücktritt. Das wären dann zwar keine „Vereinigten Staaten von Europa“ (die auf sehr lang absehbare Zeit ohnehin nicht erreichbar sind). Es wäre aber vielleicht eine überzeugende und auch wieder begeisternde Variante von Barrosos „Europa der Ergebnisse“, das seinen Bürgern dort nützliche Lösungen anbieten kann, wo es den Einzelstaaten nicht mehr möglich ist.

JAN TECHAU, geb. 1972, leitet das Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen in der DGAP.

  • 1Anlage I der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 21./22. Juni 2007, zu finden in der Dokumentation dieser Ausgabe unter www.internationalepolitik.de.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7/8, Juli/August 2007, S. 134 - 137.

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