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01. Juli 2005

Nach der Sintflut

Die jüngsten Rückschläge sind eine heilsame Lektion

Nach der Ablehnung der Europäischen Verfassung in Frankreich und den Niederlanden sind nur zwei Optionen sinnvoll: den Prozess in der Hoffnung auf bessere Zeiten einzufrieren oder eine scheinbare „Mission impossible“ zu wagen. Eine Liberalisierung voranzutreiben, den Sinn einer Erweiterung zu erklären, den Mangel an Wachstum und das Demokratiedefizit der EU mutig anzusprechen. Denn das ist keine unerfüllbare Aufgabe, sondern eine Notwendigkeit.

Nach Wochen der Analyse und Auseinandersetzung mit den Motiven, die Frankreich zum Neinsagen verleiten könnten, hat Frankreich nun tatsächlich „Nein“ gesagt – aus mehreren Gründen. Auch die Niederländer haben mit „Nein“ gestimmt, aber aus teilweise unterschiedlichem Antrieb. Doch es zeichnet sich Fortschritt in unserer Debatte ab. Die Schockwirkung dieser doppelten Absage an den europäischen Verfassungsvertrag müssen wir nun auf verschiedenen Ebenen untersuchen – hinsichtlich des Ratifikationsprozesses einerseits und hinsichtlich des allgemeinen Integrationsprozesses in den kommenden Monaten und Jahren andererseits.

Wie ich vor einigen Monaten schrieb, braucht die neue Verfassung keinen wiedergeborenen Madison als Fürsprecher, um den Bürgern den Inhalt des Dokuments zu erklären. Der beste, vielleicht einzige Anwalt der Europäischen Verfassung ist Europa selbst – durch das, was es unternimmt oder unterlässt, und dadurch, wie dies von seinen Bürgern wahrgenommen wird. Zumindest in Frankreich und den Niederlanden hat dieser Anwalt seinen Prozess verloren.

Die einzig berechtigte Kritik, die gegen die Verfassung vorgebracht wurde, richtet sich gegen die Gesamtlänge des Werkes und gegen die Unverständlichkeit und Weitschweifigkeit der meisten Artikel in Teil III. Wiederholt, aber ohne Erfolg haben viele von uns versucht, unsere Regierungen von dem Vorteil zweier getrennter Ratifikationsvorgänge zu überzeugen (einen für die Teile I und II, deren 114 Artikel die einzigen sind, die zu Recht als „Verfassung“ bezeichnet werden können, und einen zweiten für Teil III, der im Grunde etwas gänzlich anderes darstellt, nämlich die Verschmelzung der drei bereits bestehenden Verträge zu einem Text). Wie vorherzusehen war, hat die Veröffentlichung dieses ausladenden Werkes die Dinge nicht vereinfacht, wie es die Regierungen erhofft hatten. Verständlicherweise wurde der Text von den Europäern als unlesbar kritisiert.

Ansonsten wurden Einwände gegen Europa als solches erhoben, nicht gegen die Verfassung. Ein Europa, das seine Bürger nicht hinreichend vor dem unkontrollierten Wettbewerb des globalisierten Marktes schützt. Ein Europa, das seinen Binnenmarkt liberalisiert, ohne sich um diejenigen zu kümmern, die dadurch ihre Arbeit verlieren. Ein wachstumsloses Europa, dessen Wachstumsbejahung ein bloßes Lippenbekenntnis ist, und das dadurch mehr kostet als bietet (wie für die Niederländer). Ein Europa, das seine Türen für Fremde öffnet, die sich in das alltägliche Leben seiner Bürger drängen. Und nicht zuletzt ein Europa, das neue Mitgliedstaaten aufnimmt, ohne seine Bürger nach ihrer Zustimmung zu fragen.

Aus all diesen Rückschlägen für Europa können Lehren gezogen werden. Gewiss könnten wir behaupten, die Abstimmungen wären anders verlaufen, wenn sie in einer Zeit kräftigen Wachstums und niedriger Arbeitslosigkeit stattgefunden hätten. Gleichermaßen wäre es vorstellbar, dass in einem demokratischeren Europa (das wir noch nicht erlebt haben) das Demokratiedefizit nicht zu den vergleichsweise heftigen Reaktionen geführt hätte, die dann paradoxerweise ausgerechnet jenen Vertrag trafen, der selbst so demokratisch wie kein anderer in der Geschichte der europäischen Gemeinschaft ersonnen und entschieden wurde. Ich werde auf diese Einschätzung noch zurückkommen. Könnten wir indes nicht einwenden, die Verfassung sei nur das unbeabsichtigte Opfer der Abstimmung geworden, und am Ende des Ratifizierungsprozesses, der ununterbrochen weitergehen sollte, könnte sie gerettet sein?

Verfassung einfrieren – oder in Teilen übernehmen?

Ich glaube nicht daran und werde erläutern warum. Die Fortsetzung der Ratifizierung ist überhaupt nichts Außergewöhnliches. Auf Grundlage der Erklärung Nr. 30, die dem Verfassungsvertrag beigefügt ist, ist genau das zu erwarten: „Die Angelegenheit wird dem Europäischen Rat zugeleitet, wenn vier Fünftel der Mitgliedstaaten zwei Jahre nach Unterzeichnung des Vertrags die Ratifizierung abgeschlossen haben und ein oder mehrere Mitglieder dabei auf Schwierigkeiten gestoßen sind.“ Klar und deutlich impliziert die Erklärung eine Fortführung des Prozesses unabhängig von negativen Abstimmungsergebnissen. Ohne Zweifel schließt sie eine Unterbrechung des Vorgangs aus, sollte es zu einer Ablehnung kommen. Mindestens sechs „Neins“ sind erforderlich, um eine Unterbrechung der Ratifizierung herbeizuführen, denn in diesem Fall wäre eine Annahme mit vier Fünfteln unerreichbar. Sollten ferner einige Mitgliedstaaten nach den Referenden in Frankreich und den Niederlanden die Fortführung des Prozesses als sinnentleert ansehen, wäre ein einstimmiger Beschluss zur Aufgabe der Verfassung notwendig, denn einstimmig wurde sie auch beschlossen.

Einstimmigkeit ist die Voraussetzung dafür, um diese Erklärung außer Kraft zu setzen. Anders sieht es aus, was die individuelle Entscheidung eines Mitgliedstaats betrifft, seinen eigenen Ratifizierungsprozess auszusetzen. Dieser einzelne Mitgliedstaat würde zu denen gerechnet, die nicht ratifiziert haben. In dem Fall, dass vier oder mehr Mitglieder ihre Ratifikationen einstellen, würde die Vierfünftelmehrheit verfehlt werden, und die Verfassung wäre unweigerlich gescheitert.

Nehmen wir jedoch einmal an, die erforderlichen vier Fünftel würden im November 2006 erreicht. Was könnte der Europäische Rat dann unternehmen? Könnte er Frankreich und die Niederlande (und möglicherweise andere) dazu auffordern, noch einmal über denselben Text abzustimmen? Wäre Jacques Chirac, nach wie vor Präsident der Französischen Republik, in der Lage, eine solche Aufforderung zu akzeptieren, obgleich er während seiner Amtszeit an das Referendum gebunden ist (ungeachtet der eigentlichen Gründe für das negative Ergebnis dieser Volksabstimmung)? Auch ein Ausstieg aus dem Vertrag wie im Fall Dänemarks und Irlands bei früheren Abstimmungen ist nicht möglich. Einem Mitgliedstaat ist lediglich der Ausstieg aus einem begrenzten Politikfeld gestattet, nicht jedoch aus der allumfassenden institutionellen Architektur der EU. Chirac könnte allerdings im Gegenzug eine Neuverhandlung dieser Architektur vorschlagen. In Anlehnung an seinen potenziellen Rivalen Laurent Fabius könnte Chirac auch den Vorschlag der direkten Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung für ein föderaleres und sozialeres Europa einbringen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass derartige Vorschläge auf den nötigen Konsens stoßen würden. Eine Blockade wäre das einzig vorhersehbare Ergebnis.

Daher sind nur zwei Optionen sinnvoll, die zu angemessener Zeit berücksichtigt werden sollten: entweder das Einfrieren der Verfassung in der Hoffnung auf bessere Zeiten (rein hypothetisch im Falle Frankreichs: nach der Wahl eines neuen Präsidenten, der mit einer Ja-Kampagne in den Wahlkampf gezogen ist) oder, was realistischer wäre, eine Übernahme von Teilen der Verfassung in die bestehenden Verträge; diese müssten jedoch auf Inhalte beschränkt sein, die eindeutig „technischer“ Natur sind und die dazu dienen, die Effizienz und Transparenz der gemeinsamen Institutionen zu verbessern. Dazu zählen der „Doppelhut“ des EU-Außenministers und ständigen Vorsitzes des Rates der Außenminister; eventuell auch die doppelten Mehrheiten bei Entscheidungen des Rates sowie die Vereinfachung von EU-Rechtsakten, gewiss auch die neuen Protokolle über Subsidiarität und die Rolle nationaler Parlamente (nicht zuletzt weil diese Protokolle außerhalb des Verfahrens einer Vertragsänderung angenommen werden können).

Chance für ein besseres Europa

Allerdings gibt es eine entscheidende Vorbedingung, die in beiden Fällen eingehalten werden muss: Zwar sollte ein abrupter Abbruch des Ratifizierungsprozesses verhindert werden, aber zugleich muss das öffentliche Leben in Europa in den folgenden Monaten in angemessener Weise Lehren aus den beiden negativen Referenden ziehen, die so deutlich vor allem gegen Europa selbst und nicht gegen die Verfassung gerichtet waren. Darum werde ich hier noch auf die allgemeinen Implikationen der französischen und niederländischen Referenden eingehen.

Zuerst einmal muss das Leben weitergehen. Angelegenheiten, die ganz oben auf der Tagesordnung stehen, müssen bearbeitet und entschieden werden. Sollten die nachteiligen politischen Auswirkungen der beiden Referenden zur Lähmung der europäischen Entscheidungsprozesse führen, und somit zu einer neuen Phase von Eurosklerose, so würde die Glaubwürdigkeit unserer gemeinsamen Institutionen weiter vermindert, Euroskeptizismus griffe um sich und das Ziel konstitutioneller Verbesserungen wäre unerreichbar. Tatsache ist, dass es für europäische Regierungen nicht genügt, nur zu versichern: „Wir sind noch immer da!“

Stattdessen müssen nun kontroverse Themen angepackt werden, die gleiche Unzufriedenheiten hervorrufen könnten wie in Frankreich und den Niederlanden: die finanziellen Aussichten und damit verbunden eine Neuverteilung der Mittel unter gebührender Berücksichtigung der Bedürfnisse der Mitgliedstaaten; eine Wachstumsstrategie und die dafür notwendige Rolle von Liberalisierungen; die Fortführung der Erweiterung, zunächst um den Balkan und dann die Türkei.

Dies alles sieht nach einer typischen „Mission impossible“ aus. Die Gefahr ist in der Tat sehr groß, dass unsere politischen Entscheidungsträger es als unmöglich ansehen, weil sie den „Volkswillen“ bedächtig respektieren, so wie er in den beiden Volksentscheiden zum Ausdruck gekommen ist. Doch gibt es einen Ausweg. Sie müssen lediglich diesen „Volkswillen“ nicht aus einer Position der Feigheit, sondern des Mutes berücksichtigen. Was will ich damit sagen? Ich verweise auf die fremdenfeindliche Stimmung, von der viele Arbeitslose und Niedriglohnarbeiter in Frankreich erfasst sind, und die, in Teilen zumindest, das politische Establishment eher ausgenutzt als mutig debattiert hat. Ich verweise auf den Widerstand gegen Liberalisierungen, der überwunden werden kann, indem man die Liberalisierungen entweder blockiert – oder indem man die Wählerschaft auf die damit verbundenen Vorteile aufmerksam macht und gleichzeitig Sozialmaßnahmen einführt, die den Risiken entgegenwirken.

Zuletzt verweise ich auf die Notwendigkeit, den Sinn einer fortgesetzten Erweiterung rechtzeitig zu erklären: Wir verwenden Geld und personelle Ressourcen auf den Balkan. Jeder weiß, dass wir damit nicht aufhören können, da Stabilität in dieser Region Teil unserer Sicherheit ist. Nutzen wir die bevorstehenden Monate dazu, europaweit zu erklären, was wir dort eigentlich tun. Erklären wir die Vorteile, die sich aus einer Öffnung der EU für den Balkan ergeben. Ist eine solche Debatte nicht genau das, was die Wähler von Europa verlangen, bevor Entscheidungen getroffen werden, die alle Bürger in die Pflicht nehmen? Ist ein solcher Prozess nicht notwendig, damit nicht den europäischen Bürgern das gemeinsame Projekt verdorben wird und irrationale Angstzustände verstärkt werden – statt die ihnen zu Grunde liegenden Ursachen zu bekämpfen? Ich habe eingangs erwähnt, dass viele Europäer den Mangel an Wachstum und das Demokratiedefizit übel nehmen. Diese beiden Quellen der Unzufriedenheit müssen schnellstens angegangen werden, noch vor und unabhängig von jeder weiteren Entscheidung über Verfassungsfragen. Eine Auseinandersetzung mit ihnen bedeutet jedoch nicht, einfach den Ungeheuern, die sich mittlerweile aus der Unzufriedenheit entwickelt haben, passiv nachzugeben.

Abschließend bleibt festzuhalten: Europa und das Projekt, das seit langem dahinter steht, haben selbst nach den jüngsten Rückschlägen keinen Anlass, in sich zusammenzufallen. Doch weder kann Brüssel zur gewohnten Tagesordnung übergehen, noch ist die Entscheidung der Wähler ausschließlich zu verdammen. Sie schließt sogar eine heilsame Lektion ein, die erst dann vollständig begriffen und in die Tat umgesetzt worden ist, wenn energischere Maßnahmen für mehr Wachstum ergriffen werden, wenn alle vorhandenen Kanäle genutzt werden, um mit den Bürgern in Kontakt zu treten, ihnen das Projekt zu erklären und mit ihnen über die Ziele Europas zu diskutieren. Die Verfassung war als eine Vorbedingung gedacht für genau diese Entwicklung. Nun müssen wir akzeptieren, dass vielmehr ein besseres Europa eine Vorbedingung für die Verfassung ist, oder zumindest für Teile dieser Verfassung, um es realistischer auszudrücken. Das ist keine unerfüllbare Aufgabe. Es ist einfach eine Notwendigkeit.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2005, 13 - 16

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