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01. Jan. 2012

Nach Abbottabad

Warum wir Pakistan alle Aufmerksamkeit schenken sollten

Das Aufspüren und die gezielte Tötung von Al-Kaida-Chef Osama Bin Laden in Pakistan haben die Beziehungen des Landes zu den Vereinigten Staaten auf einen neuen Tiefpunkt gebracht. Dabei spielt Pakistan bei allen Zukunftsfragen der internationalen Politik eine zentrale Rolle. Der Westen muss mit dem Land im intensiven Gespräch bleiben.

40 Minuten dauerte der Einsatz amerikanischer Navy Seals in der Nacht zum 2. Mai des vergangenen Jahres. Dann hatten die amerikanischen Sondereinsatzkräfte Osama Bin Laden in dessen Versteck im pakistanischen Abbottabad getötet. Seit 1998 hatten amerikanische Geheimdienste versucht, den Chef der Terror-Organisation Al-Kaida dingfest zu machen. Im Sommer 2010 verdichteten sich die Hinweise, dass er sich in Abottabad aufhielt, einer Garnisonsstadt, die nur 30 Meilen nördlich der Hauptstadt Islamabad am berühmten Karakoam-Highway, der alten Seidenstraße vom Hindukusch nach China liegt.

Abottabad beheimatet eine der wichtigsten Militärakademien des Landes, sie ist keine 40 Kilometer vom Armeehauptquartier in Rawalpindi entfernt, und dort fanden ironischerweise auch die ersten chinesisch-pakistanischen Anti-Terror-Übungen statt, bei der 200 chinesische Soldaten zusammen mit einer pakistanischen Kommandoeinheit trainierten. Würde man nach einem Äquivalent für das Versteck Bin Ladens in den USA suchen, so hätte der meistgesuchte Mann der Welt direkt vor den Toren der Akademie der US-Marine in Annapolis, Maryland, also gerade einmal eine Stunde Fahrt vom Weißen Haus und dem Pentagon entfernt, Quartier beziehen müssen.

Auf das von hohen Mauern umgebene Haus, dessen Fenster verbarrikadiert waren und dessen Bewohner verdächtigerweise ihren Müll nicht einfach wegwarfen, sondern sorgfältig verbrannten, war man durch Osama Bin Ladens Kurier Abu Ahmed al-Kuwaiti gekommen, einen pakistanischen Paschtunen, der in Kuwait geboren und aufgewachsen war, fließend Arabisch und Paschtu sprach und sich deshalb bestens zwischen den Welten bewegen konnte. Kuwaiti erwies sich als äußerst effi­zienter Bote, wie die Dokumente ergaben, die die Navy Seals in Abbottabad vorfanden: Bin Laden war es möglich, mit seinen Frauen und Kindern in Kontakt zu stehen, die nicht bei ihm lebten, mit seinem Stellvertreter Ayman al-Zawahiri zu korrespondieren und sein Netzwerk weiter zu kommandieren.

Al-Kaida mochte sich wohl alle Mühe gegeben haben, ihren Anführer zu verstecken. Ohne ein Netzwerk hinter Kuwaiti hätte er aber nicht so lange im Verborgenen bleiben können. Offensichtlich stand Kuwaiti mit der Terrorgruppe Harakat ul-Mudschaheddin in Kontakt, die in den achtziger Jahren vom pakistanischen Geheimdienst ISI gegründet worden war, um gegen Indien eingesetzt zu werden – und die dem ISI seither immer loyal ergeben gewesen ist. Das größte Rätsel also bleibt: Was wussten die pakistanische Armee und der Geheimdienst über den Aufenthaltsort Bin Ladens? US-Präsident Barack Obama entschied jedenfalls, dass den Pakistanern nicht ausreichend zu trauen sei. Er unterließ es, die Regierung in Islamabad über die weiteren Aufklärungsaktivitäten der amerikanischen Geheimdienste und die Einsatzvorbereitungen eines Spezialkommandos zu informieren.

Das war eine bemerkenswerte Entscheidung. Denn seit 2001 hatten pakistanische Führer – von General und Präsident Pervez Musharraf über den jetzigen Präsidenten Ali Asif Zardari bis hin zum wahren Machthaber im Staate Pakistan, Generalstabschef Ashfak Kayani – immer wieder versprochen, den USA im Kampf gegen Al-Kaida behilflich zu sein. In der Stunde der Wahrheit aber beschloss der amerikanische Präsident, dass er den Pakistanern den Aufenthalt des Al-Kaida-Führers (oder die Tatsache, dass die USA ihn nun kannten) nicht verraten konnte. Obamas Entscheidung hätte den wahren Zustand der amerikanisch-pakistanischen Beziehungen nicht besser verdeutlichen können.

In Pakistan wiederum glaubte nach der Kommandoaktion so gut wie niemand, dass Präsident Zardari irgendeine Ahnung hatte, wo sich Bin Laden aufhielt. Was die Aktivitäten des ISI betrifft, so ist Zardari weder genau informiert noch hat er Einflussmöglichkeiten. Offiziell wusste auch der ISI von nichts (was viele Pakistaner durchaus bezweifeln). Vielleicht stimmt das sogar. Vielleicht war der ISI einfach inkompetent oder hatte wichtige Hinweise übersehen, obgleich der Chef der afghanischen Geheimdienste, Amrullah Saleh, behauptet, er habe Musharraf schon 2006 auf Abbottabad aufmerksam ­gemacht.

Mit hundertprozentiger Sicherheit werden wir dieses Rätsel wohl nicht lösen. Der pakistanische Journalist Sayed Salim Schahzad, der intensiv zu den Verbindungen zwischen ISI und dschihadistischen Gruppierungen recherchiert hatte, wurde ermordet, kurz nachdem er mit Nachforschungen zu Bin Ladens Versteck in Abbottabad begonnen hatte.

Seit jenem Mai-Abend haben sich die ohnehin schon schwierigen Beziehungen zwischen Pakistan und den USA noch weiter verschlechtert. Und es sieht so aus, als würden sie noch schlechter werden. Sollte die CIA Zawahiri oder andere wichtige Terroristen der Al-Kaida ebenfalls in Pakistan aufspüren, dann hätten wir sehr wahrscheinlich mit einer weiteren Kommandoaktion zu rechnen. Sollte es zu einer Art Wiederholung der Terrorattacke in Mumbai kommen, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass die indische Regierung den ISI dafür verantwortlich machen wird. In einem solchen Fall wäre ein Krieg nicht auszuschließen. Sollte es weitere größere Terrorattacken in den USA geben, deren Urheber nach Pakistan zurückzuverfolgen wären, dann stünde die amerikanische Regierung unter Druck, mit einer massiven Vergeltung zu reagieren.

Wir brauchen also eine neue Politik für Pakistan, eine Politik, die anerkennt, dass unsere strategischen Interessen nicht miteinander in Einklang stehen, sondern einander widersprechen. Immer wieder gewährt Pakistan den afghanischen Aufständischen einen Rückzugsraum. Just, als man sich im Weißen Haus traf, um eine Revision der amerikanischen Afghanistan-Strategie in Angriff zu nehmen, traf sich die Führung der Taliban unter dem Schutz der Pakistaner in Quetta, der Hauptstadt der Provinz Belutschistan. Während des Jahres 2009 durfte Al-Kaida ungehindert von den Pakistanern operieren, und deren Alliierte, die Lashkar-e-Taiba, sind verantwortlich für das Attentat in Mumbai. Barack Obama mag sich wohl keinen großen Illusionen hingegeben haben. Dennoch hat er versucht, seine Pakistan-Politik neu auszurichten. Die US-Regierung erhöhte die Finanzhilfen – aber auch die Anzahl von Drohnenangriffen, mit denen hochrangige Kämpfer der Al-Kaida ausgeschaltet werden.

Politik voller Mysterien

Pakistan ist in vielerlei Hinsicht einzigartig. Mit etwa 180 Millionen Einwohnern liegt es unter den bevölkerungsreichsten Ländern der Welt schon jetzt an sechster Stelle. Es ist das zweitgrößte muslimische Land und wird bis zum Jahr 2050, wenn nicht sogar früher, das größte sein. Es ist der erste Staat, der nach 1945 entstand, und bislang der einzige, der ganz ausdrücklich als Heimat für die Muslime Südasiens geschaffen wurde.

Islamabad verfügt auch über das am schnellsten wachsende Atomarsenal der Welt – es wird wohl schon bald das fünftgrößte Arsenal der Welt haben, Pakistan hätte dann Großbritannien überholt. Geht man von der Anzahl neuer Reaktoren aus und der Geschwindigkeit, mit der sie gebaut werden, dann dürfte es auch Frankreich bald überrunden und nur noch hinter China, Russland und den Vereinigten Staaten liegen.

Die Proliferationstätigkeit des Landes ist berühmt und berüchtigt. Pakistan erhielt Nukleartechnologie anderer Staaten und gab sie an dritte Länder weiter. Mit Al-Kaida, Lashkar-e-Taiba, Jaish-e-Mohammed, den afghanischen Taliban, den pakistanischen Taliban und Dutzenden anderer Gruppen mit wechselnden Namen beherbergt das Land mehr terroristische Organisationen als alle anderen Länder der Welt.
Nukleare Proliferation, Atomkrieg, Terrorismus, die Zukunft des globalen Dschihad und, vor allem, die Zukunft der Demokratie in der islamischen Welt: Auf jedem Gebiet, das für die USA – und nicht nur die USA – von existenzieller Bedeutung ist, spielt das Pakistan des 21. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle.

Die pakistanische Politik ist voller Mysterien: Morde, die nie aufgeklärt werden; Präsidenten, die plötzlich verschwinden; Politiker, die rechtskräftig verurteilt werden, in der Versenkung verschwinden und auf einmal wieder auftauchen; Politiker, die scheinbar für immer von der politischen Bühne gefegt werden wie Nawaz Sharif und dann ein unverhofftes Comeback schaffen, oder von denen man umgekehrt glaubte, sie besäßen ein Dauerabonnement auf die Macht, bis es plötzlich gekündigt wurde. Allen solchen Rätselhaftigkeiten zum Trotz gibt es zwei wesentliche Elemente, die die pakistanische Politik bestimmen: ein ewiges Ringen zwischen Generälen und Politikern, existiert doch seit den fünfziger Jahren eine äußerst ungesunde Beziehung zwischen dem zivilen und dem militärischen Sektor. Und der Kampf zwischen modernen, reformerischen, säkularen Kräften und Islamisten aller Schattierungen, von moderateren bis hin zu radikalen.

Vier Mal kamen seit Pakistans Gründung Generäle an die Macht, die mehr oder weniger alle auch die Islamisten unterstützten und den Einflussbereich der Sicherheitsdienste immer weiter ausdehnten – und die mit erstaunlicher Beständigkeit von sämtlichen amerikanischen Regierungen gleich welcher Couleur gehätschelt und unterstützt wurden.

Was aber an Pakistan am meisten erstaunt und beeindruckt, in diesem Dschungel militärischer und geheimdienstlicher Interessenlagen jedoch nicht immer sichtbar wird, ist die geradezu unerschütterliche Konsequenz, mit der viele Pakistaner immer wieder in Richtung Demokratie drängen. In Tunesien oder Ägypten konnten Diktatoren 60 Jahre lang recht ungestört von einer demokratischen Opposition regieren. In Pakistan wurden Militärdiktatoren immer wieder aus dem Amt gedrängt. Umso unglücklicher ist es, dass die Nichtmilitärs die auf sie gesetzten Hoffnungen nie wirklich haben erfüllen können. Aber man täte Pakistan Unrecht, wenn man die demokratische Beharrlichkeit und die Sehnsucht weiter Teile der pakistanischen Gesellschaft nach einem verlässlichen Rechtsstaat nicht zur Kenntnis nähme.

Strategie der Eindämmung

Auch wenn die Militärs noch immer die wahre Macht innehaben, sollten wir weiter im intensiven Gespräch mit Pakistan bleiben. Kurskorrekturen sind aber notwendig. Das Militär pflegt ja weiterhin seine „indische Obses­sion“, Sicherheitsdienste tolerieren weiter die Aktivitäten von Terroristen in ihrem Land und versuchen, den Taliban in Afghanistan zum Sieg zu verhelfen, und Pakistan arbeitet weiter intensiv an seinem rasant wachsenden Nukleararsenal. Zivilisten, die von den Pakistanern gewählt werden, versucht das Militär an den Rand zu drängen und gezielt einzuschüchtern. Die Generäle glauben, ihr Land sei unverwundbar, weil sie die wichtigste Nachschublinie der NATO von Karatschi nach Kabul kon­trollieren. Außerdem, so meinen sie, schrecke der Besitz von Atomwaffen ja alle äußeren Feinde ab. Die USA könnten Pakistan eben nicht wie den Irak oder Libyen behandeln, erklärte Generalstabschef Ashfak Kayani ganz offen. Denn schließlich besitze man die Bombe.

Die Militärs sind der festen Überzeugung, dass die Zeit eher für die Taliban arbeitet und der NATO nichts weiter übrigbleiben wird, als ihre Mission in Afghanistan aufzugeben – und je früher sie die Region verlässt, desto besser für Pakistan. Sie möchten die Amerikaner und Europäer glauben machen, dass dieser Krieg ohnehin hoffungslos und keineswegs den Preis wert ist, den der Westen schon seit zehn Jahren zahlt. Sie ermutigen die Taliban zu spektakulären Attentaten wie das auf die amerikanische Botschaft in Kabul vom September 2011, um der Einschätzung einer generellen Hoffnungslosigkeit des westlichen Einsatzes in Afghanistan Nachdruck zu verleihen. Die USA haben versucht, Pakistan zum Teil der Lösung zu machen. Jetzt muss Washington einen Weg finden, dem Gegenwind aus Islamabad zum Trotz Durchhaltevermögen zu zeigen.

So lange die Armee noch das Schicksal Pakistans bestimmt, sollte es das Ziel der USA sein, deren Ambitionen in Schach zu halten – bis es in Pakistan eine echte „Herrschaft der Zivilisten“ gibt, die eine politische Neuausrichtung ermöglicht. Eine Strategie der Eindämmung dürfte die Spannung zwischen den beiden Staaten noch erhöhen. Sie sollte aber auf einer „gezielten Unfreundlichkeit“ und nicht auf einer Konfrontation mit der pakistanischen Gesellschaft beruhen. Wir müssen ein neues Element, nämlich ein System der Rechenschaftspflicht, einführen. Sollten wir erfahren, dass ein pakistanischer Geheimdienstler in terroristische Aktivitäten verstrickt ist – sei es in Afghanistan oder Indien –, dann sollten wir die Angelegenheit „personalisieren“. Wir sollten diese Person auf unsere von den Vereinten Nationen gebilligte „Wanted Lists“ setzen und zur Strecke bringen, wenn unmittelbare Gefahr droht. Ganze Organisationen oder Institutionen in Pakistan mit Sanktionen zu belegen, hat sich als nicht sehr wirksam herausgestellt. Wirksam war, sich auf die Verantwortlichen zu konzentrieren. Der Atomwissenschaftler A. Q. Khan ist dafür das beste Beispiel. Dessen internationales Proliferationsimperium konnten wir nur zerschlagen, weil wir ihn und nicht irgendwelche dunklen Hintermänner ins Visier nahmen.

In Afghanistan sollten wir uns nicht der vergeblichen Hoffnung auf eine baldige Lösung hingeben. Nachdem die Taliban im Herbst 2011 Burhanuddin Rabbani ermordet haben, den Chefunterhändler der Kabuler Regierung mit den Taliban, kann man die Hoffnungen auf ein Friedensabkommen in nächster Zukunft ad acta legen. Sollte Pakistan sich dazu durchringen, tatsächlich bei einer Lösung zu helfen und die Taliban an den Verhandlungstisch zu bringen, so sollten wir eine solche Unterstützung auch willkommen heißen. Besonders wahrscheinlich ist ein solches Szenario nicht. Der Geheimdienst ISI kann und wird jegliche Friedensbemühungen mit den Taliban torpedieren, die er nicht für akzeptabel hält.

Anstatt uns auf eine mögliche Hilfe des pakistanischen Geheimdiensts zu verlassen, sollten wir uns lieber auf den Aufbau einer afghanischen Armee konzentrieren. Sie muss in der Lage sein, im Verbund mit einer langfristig angelegten Unterstützung durch die NATO und einem minimalen Kontingent amerikanischer Kampftruppen die Aufständischen unter Kontrolle zu halten.
Indien spielt dabei eine zentrale Rolle. Es war eine sehr kluge Entscheidung Barack Obamas, viel Zeit und politisches Kapital in die Beziehungen zu Neu-Delhi zu investieren. Ein strategischer Dialog über Pakistan zwischen den USA und Indien ist essenziell.

Die gute Nachricht ist: Indien und Pakistan versuchen, ihre Wirtschaftsbeziehungen zu intensivieren und die infrastrukturellen Verbindungen wieder aufzubauen, die bei der Teilung 1947 gekappt wurden. Das sollten wir unterstützen. Wir sollten auch die Zusammenarbeit der Geheimdienste gegen eine terroristische Bedrohung aus Pakistan verstärken. Indien kann eine wichtige Rolle beim Aufbau Afghanistans spielen, und das sollten wir ebenso fördern wie den Versuch, das Kaschmir-Problem einer Lösung näher zu bringen.

Man kann es nicht oft genug betonen: Für jeden Bereich der internationalen Politik, der für die USA und viele andere Staaten von ausschlaggebender Bedeutung ist, spielt Pakistan eine zentrale Rolle. Wir sollten diesem Land alle Aufmerksamkeit schenken.

BRUCE RIEDEL ist Senior Fellow am Saban Center for Middle East Policy der Brookings Institution in Washington, DC.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/ Februar 2012, S. 38-43

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