IP Wirtschaft

01. Nov. 2019

„Mit Freihandelsfolklore kommen wir nicht weiter“

Aufkaufen, überwachen, ausspionieren: Nach den Regeln des Westens spielt Peking selten. Was tun?

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Bild: Porträt des China-Experten Prof. Dr. Sebastian Heilmann
Prof. Dr. Sebastian Heilmann ist einer der international bekanntesten China-experten aus Europa. Heilmann hat den Lehrstuhl für Politik 
und Wirtschaft Chinas an der Universität Trier inne. 
Von 2013 bis August 2018 war er als Gründungsdirektor des in Berlin ansässigen Mercator Institute for China Studies (MERICS) tätig.
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IP: Herr Heilmann, mit ihrer Innovationsoffensive „Made in China 2025“ fördert Chinas Regierung Unternehmen in zehn strategisch bedeutsamen Sektoren. Die Amerikaner betrachten das mit Skepsis, in Europa dagegen halten viele das Programm für eine Riesenchance. Sollten wir uns größere Sorgen machen?

Sebastian Heilmann: Das sollten wir. Wir haben es hier mit einem verzerrten Wettbewerb zu tun. „Made in China 2025“ zielt auf Schwerpunkttechnologien, in denen China die bisherigen Marktführer ersetzen will. Das aber nicht im offenen Wettbewerb, sondern mit einer ganzen Batterie nicht wettbewerbskonformer Instrumente.



Zum Beispiel?

Durch Übernahmen, die oft mit Geld finanziert werden, das dem Käufer nicht gehört – und dessen Herkunft unklar ist. Oder durch Technologietransfers über verdeckte Kanäle. Das unangenehmste Beispiel ist Cyber- und Industriespionage. Aber auch harmlos erscheinender Forschungsaustausch ist problematisch, wenn man versucht, ganze Wissenschaftlerteams aus China in deutschen Großforschungsbetrieben zu verankern.



Was kann Europa tun? Sie haben eine „wehrhafte Außenwirtschaftspolitik“ gefordert.

Begegnen kann man einer solchen Strategie nur, wenn man versteht, dass das Gegenüber anders tickt. China ist eine Ökonomie, die stark auf Staatseingriffen beruht – da kommen wir mit Freihandelsfolklore nicht weiter. Wir müssen uns für den Schutz unserer Technologien und Industrien viel mehr anstrengen. Wir brauchen fortlaufend angepasste Prüfinstrumente in der Handels- und Investitionspolitik, besonders bei sicherheitsrelevanten Infrastrukturen. Für Europa geht es darum, wirtschaftliche Souveränität zu verteidigen oder wiederzugewinnen, wie das Frankreichs Präsident Macron treffend genannt hat – indem wir die Führungsrolle in industriellen und IT-Technologien nicht ohne Gegenwehr den Amerikanern und Chinesen überlassen. Die Europäer geraten in der Handels- und Technologiepolitik zurzeit ins Kreuzfeuer der chinesisch-amerikanischen Rivalität.



Das heißt, von der Rolle als „lachender Dritter“ im Handelsstreit, auf die man gehofft hatte, bleibt nicht viel übrig?

Das deutsche Geschäftsmodell beruht auf offenen Märkten, auf Freihandel, auf globalen Lieferketten. Und die Voraussetzungen dieses Modells werden zurzeit zerstört. Amerika attackiert die Welthandelsordnung, China verzerrt die Wettbewerbsbedingungen durch staatliche Steuerung. Beides trifft den Nerv unseres Wirtschaftssystems.

 

Sie haben gesagt, dass die aus chinesischer Sicht „nützlichen“ Unternehmen nicht bedroht seien. Welche sind das?

China betreibt eine Art selektiven Protektionismus. Es gibt einerseits offen zugängliche Wirtschaftsbereiche, in denen chinesische Firmen bereits konkurrenzfähig oder sogar dominant sind. Ausländische Technologiehilfe nehmen die Chinesen immer dort in Anspruch, wo sie allein nicht schnell weiterkommen. Komplett geschlossen ist alles, was sicherheitsrelevant ist.

 

Umgekehrt sind die Sicherheitsbedenken ja nicht geringer, etwa im Fall Huawei. Mit Recht?

Unsere 5G-Telekommunikation ist zweifelsohne eine sicherheitsrelevante Infrastruktur. Aus meiner Sicht ist es völlig richtig, da sehr genau hinzuschauen. Ob man Huawei jetzt ganz heraushalten muss, steht auf einem anderen Blatt.

 

Die Amerikaner sind da noch deutlich vorsichtiger …

Richtig, die USA fahren momentan einen ausgesprochen strengen Kurs. Die Amerikaner zielen auf eine Ausbremsung der chinesischen Technologie, auf eine Ausgrenzung von chinesischen Anbietern. Die Rivalität ist groß, die Schwächung eines bedrohlichen Konkurrenten das Ziel.



Haben Sie den Eindruck, dass sich auch in Europa die Meinung langsam ändert? Gerade in Osteuropa hat man sich ja vor ein paar Jahren einiges von den angekündigten Investitionen Chinas erhofft und war am Ende ziemlich ernüchtert.

In Deutschland war der Wendepunkt die Übernahme der Roboterfirma Kuka durch den chinesischen Konzern Midea 2016/2017. Angela Merkel war gerade noch bei Kuka zu Besuch auf der Hannover Messe, und dann kam die Übernahme. Wichtig aus osteuropäischer Sicht ist, dass sich viele der chinesischen Versprechungen nicht bewahrheitet haben. Dementsprechend würde ich die Erwartungen für die kommenden Jahre nicht zu hoch schrauben. Außerdem sieht es so aus, als ob es bei der Neuen Seidenstraße derzeit finanziell klemmt.

 

Inwiefern?

Die Warnungen kommen von prominenter Seite, etwa aus der von China begründeten Asian Infrastructure Investment Bank. Dort warnt man vor „weißen Elefanten“: riesigen Infrastrukturprojekten, die nichts abwerfen, nicht refinanzierbar sind und ständige Umschuldungen erfordern. Die chinesische Seite wird das Geld für Seidenstraßen-Projekte künftig nicht mehr mit der Gießkanne ausschütten. Finanzierungen werden viel strenger geprüft werden. Und diese neue Striktheit wird auch Projekte in Osteuropa einbeziehen.

 

Was können die Europäer von den Chinesen lernen, wenn es um Investitionen in anderen Ländern geht?

Grundsätzlich denken Europäer viel zu kleinteilig. Die Welt wird gerade wirtschaftlich neu verdrahtet; die Digitalisierung fordert völlig neue Infra- und Marktstrukturen. Viele Europäer betrachten die digitale Transformation eher in Einzelelementen: hier eine neue Technologie, da ein neues Geschäftsmodell, ein neuer Börsengang, ein neues Förderprogramm. Für Chinas Regierung aber leitet die Digitalisierung eine neue Phase der Geschichte ein: Auf die vom Westen seit dem 19. Jahrhundert dominierte Industriegesellschaft folgt nun im 21. Jahrhundert die digitale Zivilisation. Und auf dieser neuen Stufe der Geschichte kann und muss China sich an die Spitze der Entwicklung setzen, um weltweit Standards zu setzen. Auch deshalb engagiert sich China in so vielen Überseemärkten, die aus westlicher Sicht nicht sehr lukrativ erscheinen: von Zentral- und Südasien über Afrika bis Lateinamerika. China verzichtet auf politische Konditionalisierung, macht also bei Großprojekten keine Vorgaben, wie die Regierung vor Ort zu funktionieren hat. Und das ist für jede Regierung attraktiv.

 

Was hindert Europa daran, eigene Angebote zu machen?

Das Hauptproblem ist, dass man aus Europa keine Großprojekte als Antwort auf die Seidenstraße wagt. Den Bau landesweiter Infrastrukturen haben wir in der Entwicklungshilfe seit den 1960er Jahren sukzessive aufgegeben. Großprojekte gingen oft mit Korruption, sozialen Verwerfungen und Umweltzerstörung einher. Aber Infrastruktur ist zugleich die Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung. China hat da keine Bedenken. Zugleich haben wir keine wirkungsvolle Industrie- und Technologiestrategie für unseren Kontinent. Dabei würden wir eine solche Strategie gerade in der Digitalwirtschaft dringend brauchen. Es ist legitim zu fragen, ob wir das Feld wirklich Microsoft oder Huawei überlassen wollen. Gerade was 5G angeht, haben wir ausgezeichnete Unternehmen in Europa: Nokia, Ericsson. Wenn wir eine europäische Industriepolitik hätten, dann stünde es außer Frage, dass man diese Firmen und das Ökosystem von Zulieferern fördern würde.



Hat das denn nicht auch etwas mit PR zu tun? Die Chinesen präsentieren sich sehr geschickt als Partner für Entwicklung.

Völlig richtig. Einige Kollegen haben recht gründlich zusammengerechnet, was die EU insgesamt in Ungarn und Tschechien investiert, und im Vergleich dazu die Versprechungen von chinesischer Seite aufgelistet. Die EU hatte mindestens 20 Mal mehr tatsächlich investiert, als China nur versprochen hatte. Die Union muss auf den Tisch legen, was sie alles geleistet hat. Auch in Afrika. Und diese Zahlen muss die EU mit Leuchtturmprojekten, die sichtbar gut laufen, unterfüttern.

 

Soll man China einfach mal leerlaufen lassen und dann in die Bresche springen?

Zumindest hoffen viele zurzeit auf so eine Entwicklung: dass China quasi strauchelt und ausgebremst wird. Das aber wäre eine sehr passive Haltung. Ich finde, wir sollten das selbst in die Hand nehmen. Europa bleibt auch nach einem Brexit ein riesiger Wirtschaftsraum; allein Frankreich und Deutschland könnten zusammen mit den Nordeuropäern eine sehr kraftvolle Innovationsoffensive in Gang setzen.

 

Würden Sie dafür plädieren, dass die EU in Sachen Wettbewerbsrecht flexibler wird? Sollte sie European Champions zulassen? Durch eine Fusion von Siemens in Deutschland mit Alstom in Frankreich wäre ja ein solcher zustande gekommen.

Bezogen auf Grundprinzipien des Wettbewerbsrechts halte ich eine solche Flexibilität weder für richtig noch ideal. Aber politisch halte ich sie gegenwärtig für absolut notwendig. Wir haben es schlicht mit Konkurrenten zu tun, die ein ganz anderes Spiel spielen. Gerade beim Eisenbahnbau – am Anfang waren da noch die ganzen europäischen Patente mit drin, in der Technik, im Design. Innerhalb der vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre ist die neue Generation von Hochgeschwindigkeitszügen aus China dann komplett chinesisch geworden. Das ist noch etwas, was wir von China lernen können: Das Hochgeschwindigkeitsnetz dort ist fantastisch und hat stark dazu beigetragen, den Flugverkehr zu reduzieren und neue urbane Zentren und Märkte quasi aus dem Nichts zu erschaffen.

 

Und die Züge fahren pünktlich?

Die fahren unglaublich pünktlich. China hat ein Hochgeschwindigkeitsnetz gebaut, das vom sonstigen Bahnverkehr fast komplett getrennt ist. Es gibt also keine lahmen Güter- oder Regionalzüge, die im Wege stehen oder liegen bleiben. Das kostet viel Geld, aber es lohnt sich. Europa nochmal mit einem ganzen Netz aus Hochgeschwindigkeitszügen zu überziehen, von Portugal bis Riga und Istanbul – solche Großprojekte brauchen wir. Die technischen Möglichkeiten dafür haben wir, aber unsere adminis­trativen Verfahren stehen dem oft entgegen. Diese unglaubliche Trägheit in Europa ist beängstigend. Die Leute sind satt, und die Politik sieht zu wenig Handlungsdruck.

 

Braucht es einen Weckruf?

Der Handlungsdruck für die Realisierung großer Verkehrsprojekte, die als umwelt- und klimapolitisch erstrebenswert angesehen werden, wird mit Sicherheit steigen. Auch werden wir neue Wachstumsprojekte dringend benötigen, sobald der Strukturwandel in traditionellen Industrien – etwa im Automobilsektor – dazu führt, dass viele Zulieferer für Verbrennungsmotoren in die Knie gehen. In einem Land wie Frankreich ist der Handlungsdruck schon seit Jahren hoch. Auch mit Blick auf die Herausforderung durch „Made in China 2025“ ist es zweckmäßig, in der Industrie- und Innovationspolitik zumindest die deutsch-französische Zusammenarbeit zu stärken.



Wie soll das konkret aussehen?

Industriepolitik im 21. Jahrhundert heißt, dass wir ein System von Wagniskapitalfonds haben, die zum Teil aus staatlichen, zum Teil aber auch aus privaten Quellen gespeist werden. Diese Fonds sollen bestimmte neue Technologien und Branchen anschieben und miteinander konkurrieren. Es geht hier also nicht um bürokratische Geldverteilung, sondern um gezielte Förderpolitik mit marktkonformen Mitteln. China will in der Chip-Industrie in den kommenden Jahren von den USA und allen anderen Ausländern unabhängig werden. Die chinesische Regierung hat mehrere „Guidance Funds“ gegründet, um innovative Unternehmen in der Halbleiter­industrie zu fördern. Es wird erwartet, dass vier von fünf geförderten Unternehmen scheitern, China aber mit langem Atem definitiv internationale Technologieführer hervorbringen wird.

 

So etwas wäre in Deutschland kaum vorstellbar …

Natürlich, so kann kein deutscher Fiskalpolitiker arbeiten. Das wäre verfassungswidrig. Man würde Steuergelder „verzocken“, hieße es dann. Der chinesische Ansatz ist verschwenderisch, aber mit Blick auf die beabsichtigte technologische Unabhängigkeit zweckmäßig und wirkungsvoll. Wir müssen in Europa solche Ansätze nicht einfach ideologisch abtun, sondern ernsthaft prüfen, was wir in angepasster Weise daraus lernen können. Es gibt Einiges von China zu lernen, auch wenn wir es nicht immer 1:1 umsetzen können. Die Sonderwirtschaftszonen etwa, in denen sich Pilotprojekte testen lassen: Mit unserem Rechtssystem wären sie auf dem heutigen Stand schwer zu vereinbaren; es würde sich aber für Europa lohnen, viel mehr Experimentierklauseln in das europäische Recht einzubauen.

 

Wie können die Europäer denn mit den Chinesen kooperieren, um von der Seidenstraßen-Initiative zu profitieren?

Die Vision, einen großen eurasischen Wirtschaftsraum zu schaffen, der die Länder und Gesellschaften entlang der Seidenstraße mobilisiert und in den Wirtschaftsaustausch einbindet – dieser Plan ist im europäischen Interesse. Eine solche Initiative könnte einen Wachstums- und Modernisierungsschub auslösen, von dem auch Deutschland profitieren würde. Bis jetzt gehen aber 80 bis 90 Prozent der Seidenstraßen-Aufträge an chinesische Unternehmen. Das muss sich ändern, wenn China wirklich Kooperation will. Was Offenheit bei Ausschreibungen und öffentlichen Beschaffungen angeht, muss die chinesische Seite erheblich nachbessern. Derartige Fragen sollten in dem seit Jahren verhandelten Investitions- und Handelsabkommen zwischen der EU und China geregelt werden.

 

Das Abkommen soll beim EU-China-Gipfel im kommenden Jahr unter Dach und Fach gebracht werden. Haben Sie den Eindruck, dass es da Fortschritte gibt?

Ich fürchte, dass die Tendenz in eine andere Richtung geht. Die Amerikaner werden weiter versuchen, China auszugrenzen – also globale Lieferketten zu zerlegen und von China nach Vietnam oder Taiwan zu verlagern. Washington wird den Druck auf die Europäer erhöhen, Chinas wirtschaftlich-technologischen Aufstieg einzudämmen. Und die Chinesen sind zurzeit nicht in der Lage, aus einer Position der Stärke heraus ihren Markt zu liberalisieren und europäischen Firmen freien Marktzugang zu gewähren. Wenn es eng wird, dann wird die Führung in Peking im Zweifel ihren Kontrollanspruch weiter ausbauen. Am Ende werden wohl auf allen Seiten politische Stabilitäts- und Abgrenzungsinteressen Vorrang vor wirtschaftlicher Öffnung haben. Diese Entwicklung steht einer Politik der fortschreitenden Öffnung zwischen China und Europa entgehen.

 

Was würde das für die Welt bedeuten?

Damit würde sich der Trend zur De-Globalisierung verschärfen. Wenn China sich nicht weiter öffnet, fällt eine maßgebliche Wachstumsoption für ausländische Unternehmen weg. Einige große deutsche Automobil- oder Chemieunternehmen sind ausgesprochen stark vom chinesischen Markt abhängig; in der Automobilindustrie sogar noch viel stärker als von den USA. Für uns Europäer wäre eine engere Zusammenarbeit mit China definitiv wünschenswert, solange sich beide Seiten an Grundregeln des fairen Austauschs halten. Aber diese chinesische Option steht natürlich im Schatten des amerikanischen Einflusses. Denn was passiert, wenn Amerika die Europäer zwingt, die Seite zu wählen?

 

Das ist ja absehbar …

Definitiv. Und das beschränkt sich nicht auf die Regierung Trump. Auf demokratischer Seite sind die Positionen zum Teil sogar härter, weil nicht nur Wirtschaftsinteressen, sondern auch Menschen- und Bürgerrechte gegenüber China durchgesetzt werden sollen.

 

Das Wertethema beschäftigt ja auch die Europäer immer wieder. Derzeit beim Thema Hongkong. Wie sollte sich Europa da positionieren?

Hongkong ist ein historisch und politisch außergewöhnlicher Fall. Großbritannien hat einen internationalen Vertrag mit China, der bis 2047 ein geschütztes Regime in Hongkong vorsieht. Auf diesen Vertrag muss Europa pochen, vor allem die Briten. Unzweifelhaft ist Hongkong chinesisches Territorium, und es gibt Sonderregeln für das Land, die auch das Demonstrations­recht betreffen. Wenn die Unruhen in Hongkong kritische Infrastrukturen wie den internationalen Flughafen gefährden, wird sich die Frage stellen, ob ein Eingreifen aus chinesischer Sicht nicht sogar nach internationalen Gepflogenheiten gerechtfertigt wäre. Doch bisher scheut die Regierung in Peking offenbar das Risiko einer internationalen Krise. Und damit sich die Preiskalkulation für die chinesische politische Führung nicht ändert, sollten alle demokratischen Regierungen beständig signalisieren, wie wichtig eine friedliche Beilegung der Hongkongkrise für die Außenbeziehungen Chinas ist. Im Grunde muss China stets vor Augen haben: Wenn wir in Hongkong die Panzer einfahren lassen, dann wird der politische und wirtschaftliche Austausch mit dem Westen nicht in der bisherigen Form fortgeführt werden können.

 

Wäre es möglich, dass es mit dem chinesischen Jahrhundert dann doch nicht ganz so einfach werden könnte, wie sich das viele vorgestellt haben?

Das wird absolut kein Selbstläufer. Was China zweifellos geschafft hat, das ist der Sprung in die Digitalwirtschaft. China ist in der vernetzten Mobilität ganz vorne dabei und wird hier aller Wahrscheinlichkeit nach ein globaler Leitmarkt werden. Und da geht es um ganz neue Formen der Stadt- und Verkehrsplanung für „smarte“ Megacities. Je mehr Ballungsräume mit über 20 Millionen Einwohnern es weltweit gibt, die oft nicht mehr regierbar erscheinen, desto wichtiger werden urbane Lösungen in chinesischen Dimensionen werden: Wie schaffen Regierungen im 21. Jahrhundert die Versorgung einer so großen Zahl von Menschen in einem Ballungsraum, vom Wasser über den Verkehr bis zum Gesundheitswesen? Wie können riesige urbane Zentren friedlich, ­produktiv, ­einigermaßen umweltverträglich und verbrechensfrei gestaltet werden?

 

… und überwacht?

Für Europäer ist das chinesische Ausmaß der Überwachung völlig inakzeptabel. Aber für viele Entwicklungsländer ist öffentliche Sicherheit die Voraussetzung dafür, dass Leute überhaupt investieren. Wenn die Sicherheitslage sich verbessert, dann kommen die Investoren, die Touristen, dann steigen die Immobilienpreise. Wer geht schon freiwillig nach Mexiko-Stadt oder Lagos, wenn man dort als Geschäftsmann schwer bewaffnete Bodyguards braucht? China bietet aus Sicht vieler Regierungen in Entwicklungs- und Schwellenländern überaus attraktive Mittel zur Herstellung öffentlicher Sicherheit an. Die Käufer von chinesischen Sicherheitstechnologien finden sich nicht nur in Ruanda, Ecuador oder Thailand. Wir Europäer unterschätzen sträflich, was für eine gigantische und bedenkenlose Nachfrage nach Überwachungstechnologie vielerorts besteht.

 

Was kann einen denn optimistisch stimmen, dass das wertebasierte europäische Modell eine Zukunft hat, wenn es vor allem Marktfaktoren sind, die entscheiden?

Eine Zukunft wird das europäische Modell nur haben, wenn es nach außen attraktiv ist. Es ist ja durchaus denkbar, dass ein Land wie China strauchelt, langsamer wächst, Schwächen zeigt. Doch um interessante Gegenangebote zu machen, brauchen wir Soft Power. Anziehungskraft und Modellfunktion gewinnt man nur, wenn man Lösungen für aktuelle und künftige Großprobleme anbieten kann. Und da sind wir Europäer momentan gehemmt. Wir fesseln uns die Füße und wundern uns dann, dass wir nicht laufen können. Das ist sehr bedauerlich, denn das Potenzial ist ja da.



Zum Beispiel?

Aus chinesischer Sicht ist die Datenschutzgrundverordnung ein Wettbewerbsnachteil für Europas Digitalunternehmen. Aber weil es in dieser Hinsicht bislang weltweit so wenig gibt, ist die Verordnung eine Art Referenzmodell. Gleichzeitig wachsen die Zweifel, ob die Digitalwirtschaft wirklich so ungezügelt weitermachen darf, was die Datenauswertung angeht. Selbst in den USA wird das intensiv diskutiert. Es kann sein, dass die Europäer sich mit fünf, zehn Jahren Verzögerung als die großen weisen Frauen und Männer erweisen, weil die digitale Transformation bis dahin vielleicht ganz üble, deutlich sichtbare Nachteile generiert hat – bis hin zum Zusammenbruch von digitalen Netzen und Geschäftsmodellen.

 

Das könnte dann ja ein europäischer Gegenentwurf sein …

Wenn wir die Reste von politischer Freiheit und individuellen Entscheidungschancen schützen wollen, müssen wir dagegenhalten. Es geht dann auch um die Verteidigung unser Grundannahmen über individuelle Freiheit, über individuelle Wahlmöglichkeiten. Das ist eine europäische Stärke. Ansonsten kriegen wir am Ende das, worauf es in China hinausläuft: eine politisch und kommerziell gesteuerte und manipulierte Herdenveranstaltung. Dieser Gegenentwurf geht davon aus, dass das menschliche Verhalten sich unter den Bedingungen der Digitalisierung so stark verändert, dass die individuellen Wahlmöglichkeiten, von denen wir im Westen ausgehen, nur noch eine Fiktion sind. Das wäre das Erschreckendste: Wenn sich am Ende das Modell von Gesellschaft und Wirtschaft als Herdenveranstaltung durchsetzt.

 

Ist dieses Szenario denn so unrealistisch?

Zumindest ist das aus meiner Sicht der eigentliche große Konflikt unserer Zeit. Wenn wir das verteidigen wollen, was wir in den vergangenen Jahrhunderten erkämpft haben – individuelle Freiheiten, Wahlmöglichkeiten –, dann steht dem die Digitalwirtschaft in mancherlei Hinsicht entgegen. Die Datenschutzgrundverordnung ist natürlich ein Ausdruck dieses Systemkampfs. Chinas Social Credit System ist der Gegenentwurf. Dort lautet die Prämisse, dass man die Menschen steuern, kontrollieren, formen und prägen muss, damit sie friedlich leben und produktiv sein können und damit der Staat ihnen Sicherheit gewähren kann. Ich bin überzeugt, dass die individuellen Freiheiten weiterhin weltweit eine große Anziehungskraft haben. Es ist nur die Frage, wie weit die individuellen Wahlmöglichkeiten im Zeitalter von personalisierter Werbung und Bedürfnissteuerung noch reichen.

 

Das Herdenverhalten nimmt also auch bei uns zu …

Wenn 300 000 Leute dasselbe Selfie vor demselben Motiv auf dieselbe soziale Plattform stellen und dies als individuell wichtiges Erlebnis darstellen, dann stimmt irgendetwas nicht. Die Frage bleibt, ob sich die europäische Sichtweise von individueller Freiheit und Wahlmöglichkeit dauerhaft wird aufrechterhalten lassen. Wir erleben zurzeit eine Pandemie des Herdenverhaltens, die von interaktiven digitalen und visuellen Medien ermöglicht und verstärkt wird. Die chinesische Regierung macht sich diesen Trend nüchtern und entschlossen zunutze. Aber im Kern geht es um ein technologisches und soziales Phänomen, das sich in kulturell sehr unterschiedlichen Gesellschaften in überraschend ähnlichen Formen manifestiert. Ich hoffe darauf, dass immer mehr Europäer begreifen, wie viel auf dem Spiel steht, wenn wir dem Trend zum Herdenverhalten weiter nachgeben.

Die Fragen stellte die IP-Redaktion.

Bibliografische Angaben

IP Wirtschaft 3, November 2019 - Februar 2020, S.26-33

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