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01. Juli 2006

Menschliches Update

Auch die Evolution des Homo Sapiens schreitet voran; nur wohin, ist nicht recht klar

Es ist bald 150 Jahre her, dass Charles Darwin sein bahnbrechendes Werk veröffentlichte: „On the Origin of Species by Means of Natural Selection“. Das Buch hat die Welt verändert, vor allem unsere Sicht auf uns selbst. Kein Wunder, dass die Londoner Erstauflage binnen 24 Stunden ausverkauft war. Es schuf eine ganz neue Deutung des Lebens. Die Anhänger der Schöpfungsgeschichte, dieses göttlichen Sechs-Tage-Rennens, sind darüber bis heute hell empört.

Doch Darwin wusste: Sein Werk, in zwei Jahrzehnten Arbeit entstanden, war nur eine erste grobe Skizze. Schon im Vorwort unterstrich er „unsere profunde Unwissenheit“ über die Wechselbeziehungen alles Lebens um uns herum. Die Feststellung gilt bis heute. Wir wissen tausend Details, das große Ganze aber erfassen wir keineswegs. Obwohl die Evolutionsbiologie seine Theorie fleißig verfeinert, etliche Irrtümer ausgeräumt hat; obwohl Mönch Mendel uns die Gene lieferte, die uns den permanenten Wandel viel besser erklären.

Derzeit kommen ständig neue Nachrichten von der Evolutionsfront. Vor allem das Produkt Mensch betreffend. Die aktuellen Fragen:

1. Wie stark sind Unterschiede zwischen Menschen und Völkern evolutionär bedingt?

2. Entwickelt der Mensch sich evolutionär weiter, entstehen aufgrund natürlicher Selektionsprozesse noch immer neue, genetisch upgegradete Homo-Versionen? Eine Art „Mensch Version 8.2.“ oder „Mensch 2007“ – das neueste Update, jetzt noch hübscher, geistreicher und zivilisierter?

Es wäre bequem, wenn sich seit 50 000 bis 100 000 Jahren im menschlichen Genpool nichts Signifikantes mehr getan hätte. Denn dann wären wir alle einfach ziemlich gleich. Wissenschaftlich verbrämtem Rassismus wäre der Boden entzogen. Der Sozialdarwinismus, die dumme Übertragung von Evolutionsregeln à la „Survival of the fittest“ auf die menschliche Gesellschaft, war dem Herrenmenschenzuchtdenken des deutschen Faschismus ja höchst dienlich. „Bevor Hitler kam, haben viele Leute in Großbritannien, Frankreich und den USA so gedacht“, sagte mir einmal der britische Evolutionstheoretiker Richard Dawkins. „Er hat den völligen Schrecken dieser Ideen offenbart.“

Festzuhalten ist zunächst: Wir können aufatmen. Tatsächlich sind die Menschengene global verblüffend ähnlich. Und wir ergo alle Brüder. Forscher, die heute nach kleinen Unterschieden suchen, beteuern stets, ihnen ginge es keineswegs darum, ein Besser oder Schlechter zu etablieren. Die menschliche Genetik bleibt gleichwohl ein politisches Minenfeld. „Aber es ist ein Minenfeld“, diagnostizierte kürzlich das Wissenschaftsmagazin New Scientist, „das nicht länger ignoriert werden kann.“

Emsig tauchen Wissenschaftler in die Gen-Geschichte der Menschheit ein. Erkenntnispartikel häufen sich: Dass wir den Nagetieren näher sind als den Hunden, dass stärkere Kaumuskeln einem größeren Gehirn Platz machten und schon Höhlenmänner Blondinen bevorzugten. Die Unterschiede zu unseren Affen-Vorfahren – und damit die Wandlungen der letzten sieben Millionen Jahre – lassen sich seit Veröffentlichung des Schimpansen-Genoms hübsch nachvollziehen. Wobei wir übrigens mit den Schimpansen anscheinend noch eine gute Weile intim verkehrt haben. Die große Frage aber, ob evolutionärer Druck und genetischer Wandel die Entwicklung der Menschen bis heute beeinflussen, bleibt kontrovers.

So will eine Forschergruppe um Jonathan Pritchard, Bevölkerungsgenetiker an der Universität Chicago, bei Untersuchungen von Ostasiaten, Afrikanern und Europäern 700 Regionen des Genoms ausgemacht haben, die durch natürliche Selektion in „jüngerer Zeit“ verändert wurden – was soviel heißt wie: vor einigen tausend Jahren. Viele der Veränderungen beträfen den Geschmackssinn oder die Verdauung und fielen möglicherweise mit der Umstellung auf frühe Formen der Landwirtschaft zusammen. Selektion sei ein wichtiger Faktor unserer Entwicklung, folgert Pritchard, „und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass dies aufgehört hat“.

Sein Kollege Bruce Lahn berichtete kürzlich, man habe zwei für die Hirnentwicklung wichtige Gene entdeckt, eines etwa 37 000 Jahre, das andere rund 6000 Jahre alt. Das eine komme bei 90 Prozent der Menschen vor, das andere bei 25 Prozent. Beide seien vor allem in Europa und dem Nahen Osten verbreitet, eines auch in Amerika, und sie hätten wohl etwas mit der Größe des Hirns zu tun. Doch Genaueres wisse man nicht. Umso wilder lässt sich spekulieren. Die natürliche Auswahl könnte etwa schnelleres Denken bevorzugt haben, spekuliert Forscher Lahn, der historische „Trend“ menschlichen Hirnwachstums setze sich wohl fort. Aber theoretisch „könnte auch Dummheit vorteilhaft sein“.

Der Selektionsdruck auf den Menschen, glauben gar einige Wissenschaftler, sei eher noch gewachsen – aufgrund sich rapide ändernder Lebensbedingungen. Im Journal of Biosocial Science erschien ein Beitrag, der behauptet, die Intelligenz aschkenasischer Juden sei durch natürliche Selektion gestiegen – weil ihnen zwischen anno 800 und 1700 handwerkliche Tätigkeiten verboten waren und sie sich daher Finanzgeschäften zuwenden mussten. Die Erfolgreichsten hätten den meisten Nachwuchs gehabt. Und so weiter. Geoffrey Miller, Autor von „The Mating Mind“, wiederum meint, das Evolutionstempo beschleunige sich, weil der Genpool dank Migration und „cross-ethnischer“ Beziehungen ganz neu durchmischt werde. In 1000 Jahren, so Millers Prognose, werden die Menschen „viel schöner, intelligenter, symmetrischer, gesünder und emotional stabiler sein“.

Unfug, kontern die Kritiker. Mit „lückenhaften Daten“, warnt etwa Francis Collins, der berühmte US-Genforscher vom National Human Genome Research Institute, werde hier „völlig unbewiesenes und potenziell gefährliches Terrain“ betreten. Viele fragen sich wie der britische Genetiker Steve Jones, wo in modernen Zivilisationen noch natürlicher Selektionsdruck entstehen soll. Die Überlebenschancen aller sind drastisch höher. Längst sind es auch nicht mehr wohlhabende Erfolgsmenschen, die den meisten Nachwuchs haben. „Es gibt heutzutage keine Belohnung dafür, dass einer ein größeres Gehirn als andere entwickelt“, sagt der Evolutionsbiologe Ernst Mayr.

Der Druck, vermuten Visionäre, werde künftig eher von künstlichen Upgrades des Menschen ausgehen, von neuen Drogen, die Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Planungs- und Entscheidungsfähigkeit fördern, von industriell mutierten Genen, Maschine-Mensch-Prothesen und anderen „Nano-bio-info-cogno“-Techniken, deren Leistungsfähigkeit ähnlich exponentiell steigen wird wie heute die der Computerchips. Da zählt dann nicht mehr Darwin, da zählen nur noch Dollars.

TOM SCHIMMECK, geb. 1959, schreibt als freier Journalist über Politik und Wissenschaft für Zeitungen, Magazine und fürs Radio.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2006, S. 122-123

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