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26. Aug. 2016

Meilenstein, kein Endpunkt

Das Weißbuch als strategische Weichenstellung für deutsche Sicherheitspolitik

Münchner Konsens 2014 – Führung aus der Mitte 2015 – Weißbuch 2016: Die deutsche Sicherheitspolitik hat in nur drei Jahren ihre Bereitschaft zu verantwortlichem Gestalten erklärt, ihr Führungsverständnis formuliert und beides als Ausgangspunkt für ein neues Weißbuch genutzt. Doch die Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen.

Die bisherige Berichterstattung zum neuen sicherheitspolitischen Weißbuch der Bundesregierung bietet ein facettenreiches Bild. In einigen ­Beiträgen werden die Inhalte des sicherheitspolitischen Grundlagendokuments breit skizziert; andere rücken einzelne Aspekte ins Zentrum.

Besonders attraktiv sind in diesen Fällen naturgemäß solche Punkte, bei denen tatsächliche oder vermeintliche inhaltliche Differenzen zwischen den Ressorts zutage treten: Künftige Rolle des Bundessicherheitsrats, Einsatz der Bundeswehr im Innern, Bedeutung von Ad-hoc-Koalitionen und schließlich die Frage, ob die EU-Verteidigungsminister künftig in einer eigenen Ratsformation tagen sollten – das waren die Stichworte, anhand derer so mancher Kommentator von handfesten Differenzen zu berichten wusste.

Natürlich war nicht immer alles eitel Sonnenschein, gab es abweichende Auffassungen zwischen den beteiligten Häusern. Dass die politisch bestens vernetzte Hauptstadtpresse blitzschnell über die unterschiedlichen Positionen verschiedener Ministerien im Bilde war, vermag nicht zu überraschen. Und es verwundert auch nicht, dass sich der vermeintliche „Koalitionszoff“ medial besser vermarkten ließ als Meldungen über die vertrauensvolle und kollegiale Zusammenarbeit zwischen den Ressorts. Aber ist das wirklich alles? Ist ein Dissens in Detailfragen das Wichtigste, was über das neue Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr zu berichten ist?
 

Das große Ganze im Blick

Wir meinen, das ist es nicht. Oder genauer: Das sollte es nicht sein. Wird der Blick nur auf wenige Teile gerichtet, kann sich kein Blick für das große Ganze einstellen. Denn darum geht es im Kern: Soll das neue Weißbuch einen wirklichen Beitrag als „Leitfaden für die sicherheitspolitischen Entscheidungen und Handlungen unseres Landes“ entfalten, dann muss es in seiner Gesamtheit erfasst werden, dann müssen die kausalen Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Kapiteln berücksichtigt und die zahl- und weitreichenden Vorschläge für die Weiterentwicklung deutscher Sicherheitspolitik umgesetzt werden: Das Weißbuch ist mehr als die Summe seiner Teile.

Richtet sich der Blick in der nun anstehenden Implementierungsphase nur auf einzelne Aspekte, dann wird das oberste sicherheitspolitische Grundlagendokument Deutschlands schnell wieder in den Regalen verstauben. Denkbar wäre dann allenfalls noch, dass es als Selbstbedienungsladen für Partikularinteressen herhalten muss, gemäß der Logik: „Aber es steht doch im Weißbuch.“
 

Führen aus der Mitte

Was aber ist kennzeichnend für das neue Weißbuch? In welchen Punkten unterscheidet es sich von seinen Vorgängern? Welche Aspekte wurden weiterentwickelt? Und welche Bedeutung kommt dem Weißbuch in der aktuellen Debatte um eine neue deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zu?

Beginnen wir mit der letzten Frage. Das Weißbuch kann nicht ohne den so genannten „Münchner Konsens“ und das Prinzip des „Führens aus der Mitte“ verstanden werden: 2014 haben Bundespräsident, Außenminister und Verteidigungsministerin bei der 50. Münchner Sicherheitskonferenz übereinstimmend die deutsche Bereitschaft zur Übernahme internationaler Verantwortung erklärt.

Dieser Münchner Konsens mit seinem gewandelten Selbst- und Rollenverständnis ist in der Tat eine „entscheidende Markscheide“ (Gunther Hellmann). Ein Jahr später verkündete Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen an selber Stelle, dass Deutschland bereit sei, gemeinsam mit Partnern zu führen und dabei das Beste an Ressourcen und Fähigkeiten in Bündnisse und Partnerschaften einzubringen. 2016 nun das Weißbuch, das Handlungsanspruch und Gestaltungswillen deutscher Sicherheitspolitik strategisch begründet und den daraus erwachsenden Weiterentwicklungsbedarf für die deutsche Sicherheitspolitik und die Bundeswehr als eines ihrer Instrumente ausbuchstabiert.

Das Weißbuch ist damit weder Anfangs- noch Endpunkt, es ist eine Wegmarke, vielleicht ein Meilenstein auf dem Weg, Deutschlands gewachsene internationale Verantwortung samt daraus erwachsender Pflichten strategisch zu reflektieren und sein Instrumentarium weiterzuentwickeln.

Damit dies gelingt, kommt der nun anstehenden Implementierungsphase zentrale Bedeutung zu. Auch mit Blick auf das Weißbuch ist „conception only half the battle“, wie Hal Brands in seiner vergleichenden Untersuchung zur amerikanischen Strategieentwicklung nach 1945 prägnant formuliert hat.

Denn das Weißbuch ist, da hat Volker Perthes recht, kein Planungsdokument. Sondern ein Dokument, das den deutschen Gestaltungsanspruch artikuliert, ihn begründet und dazu nutzt, aus handlungsleitenden Interessen und Prioritäten Gestaltungsbedarf abzuleiten. Diesen mit Leben zu füllen, das ist in der Tat nun Planungssache. Ob sich die beabsichtigte Wirkung des Weißbuchs einstellen wird, hängt damit wie bei vielen weiteren Strategien auch maßgeblich davon ab, wie nachdrücklich die Prioritäten verfolgt und die Maßnahmen in den verschiedenen nationalen und internationalen Gestaltungsfeldern umgesetzt werden.
 

Konsens als Chance

Kehren wir nochmals zu den Punkten zurück, in denen Auffassungsunterschiede zwischen den beteiligten Ministerien herrschten. Wir ändern dabei allerdings die Perspektive: Das Weißbuch umfasst, je nach Detailgrad der Betrachtung, zwischen 100 und 200 einzelne Themen. Wenn dabei vier Aspekte der Klärung in der Bundesregierung bedürfen, dann zeigt dies keine tiefen Risse, sondern verdeutlicht eher, wie solide das Fundament ist.

Genau dies war eines der bestimmenden Merkmale des gesamten Weißbuchprozesses: Die Übereinstimmung in den zentralen Fragen der deutschen Sicherheitspolitik war wohl kaum jemals größer. Es ist dieser Konsens in den großen Linien und nicht der Dissens in Detailfragen, der für die Zusammenarbeit zwischen den Ressorts in den vergangenen anderthalb Jahren kennzeichnend war. Gerade dieser Fundamentalkonsens ist eine große Chance für die Post-Weißbuch-Zeit, stellt er doch eine denkbar günstige Ausgangsposition dar, um nachhaltig und vernetzt zu gestalten – national und international, im Verteidigungsministerium und in der Bundeswehr, aber eben auch in allen anderen Ministerien und Behörden.

Fortsetzung und Verstetigung der sicherheitspolitischen Debatte haben in diesem Zusammenhang erhebliche Bedeutung. Die Einbindung sicherheitspolitischer Experten und interessierter Öffentlichkeit ist dabei nicht etwa Teil einer „Erziehungskampagne“ (Gunther Hellmann), sondern entspringt der Erkenntnis um die Begrenztheit eigener Einsicht.

So umfangreich die Kommunika­tion rund um das neue Weißbuch auch war – mehr als 6500 Teilnehmer in unterschiedlichen Formaten –, so vermessen wäre es davon auszugehen, auf diese Weise die Mehrheitsmeinung in unserem Lande in die eine oder andere Richtung bewegen zu können. Es musste vielmehr darum gehen, die Eintrittsschwelle in den sicherheitspolitischen Diskurs zu senken, um durch die Diskussion Perspektiven zu ändern, neue Impulse und Anregungen zuzulassen. In einer Zeit, in der sich die internationale Ordnung tiefgreifend verändert und Deutschland gleichzeitig bereit ist, sich zur Aufrechterhaltung des internationalen Gefüges verantwortlich zu engagieren, sind unverbrauchte Ideen notwendiger denn je.
 

Orientierung in unruhigen Zeiten

Das Weißbuch erscheint in einer Zeit, in der sich die Superlative für die Beschreibung der Verwerfungen im internationalen System täglich überbieten, die Charakterisierungen für das Geschehen unserer Zeit immer schriller werden. So stand ein Beitrag im Spiegel jüngst unter der Überschrift „Apocalypse Now“, nur um im Anschluss zu fragen, ob 2016 das schlimmste Jahr des 21. Jahrhunderts und die Welt gleichsam verrückt geworden sei.

Die Diskussion um Sinn und Unsinn, über Nutzen und Erfolgsaussichten strategischen Handelns wird in Wissenschaft und Politik nicht erst seit diesem bisher so ereignisreichen Jahr geführt, sondern seit geraumer Zeit. Bereits 2010 stellte Stephen D. Krasner in dieser Zeitschrift fest, dass „die Zersplitterung und die Ungewissheiten des internationalen Umfelds es derzeit unmöglich [machen], eine erfolgreiche Grand Strategy zu erarbeiten“.

Dynamik und Komplexität der internationalen Sicherheitspolitik sind in den vergangenen Jahren zweifellos noch weiter gestiegen. Auch wenn das Weißbuch kein Ausdruck einer klassischen Grand Strategy ist – hätte man Gründe finden wollen, von der Erstellung eines neuen sicherheitspolitischen Grundlagendokuments Abstand zu nehmen, man hätte nicht lange suchen müssen.

Vor das „Paradox wachsender Kalkulationsnotwendigkeit bei abnehmender Kalkulationsmöglichkeit“ (Joachim Raschke / Ralf Tils) gestellt, hat sich die Bundesregierung bewusst dafür entschieden, am „Anspruch strategischer Politik“ festzuhalten. Mehr und nicht weniger Strategie ist damit die Antwort auf die wachsende Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und Ungewissheit in unserem Umfeld.
 

Prioritäten setzen, flexibel bleiben

Ohne Strategie werden Gestaltungsmöglichkeiten preisgegeben, nicht Handlungsspielräume gewonnen. Gleichzeitig muss der strategische Ansatz die Charakteristika der aktuellen und künftigen Sicherheitslage – Komplexität, Dynamik, Volatilität – reflektieren. So lassen sich zwei der zentralen Prämissen bei der Erarbeitung des neuen Weißbuchs zusammenfassen.

Eine der zentralen Funktionen von Strategien ist es, Komplexität zu reduzieren, um begründete Entscheidungen zu ermöglichen, eine Wahl zu treffen. Durch Unsicherheit, gepaart mit mangelnder Vorhersehbarkeit wächst allerdings gleichzeitig der Bedarf für Flexibilität. Es ist der innovative Markenkern des neuen Weißbuchs, dass der erforderliche Grad an Flexibilität nicht durch Akklamation verkündet, sondern strategisch hergeleitet wird.

Den Anfang macht dabei ganz bewusst nicht wie so häufig die Analyse des sicherheitspolitischen Umfelds, sondern die Selbstverortung Deutschlands als Akteur der internationalen Sicherheitspolitik. Das Selbstverständnis als verantwortlicher Staat, der präventiv mit allen zur Verfügung stehenden Instrumenten international gestalten will, um seine Interessen zu schützen und dabei um das Maß seiner Möglichkeiten ebenso weiß wie um seine Verwundbarkeiten – das ist das strategische Narrativ, aus dem alles Weitere folgt.

Getreu dem Motto „Erst wenn wir sagen können, wer wir sind, können wir Aussagen darüber treffen, welche Entwicklungen sicherheitsrelevant sind und unser Engagement erfordern“, folgt die Analyse der sicherheitspolitischen Herausforderungen, nachdem das Selbstverständnis mit einem klaren Bekenntnis zu Werten und Interessen formuliert wurde. Auch dieses Vorgehen trägt zur Komplexitätsreduktion bei und ermöglicht die Formulierung strategischer Prioritäten als Handlungsschwerpunkte in den kommenden Jahren – egal, wie und wohin sich das Umfeld entwickelt.

Diese Gleichrangigkeit der strategischen Prioritäten kann man kritisch sehen. Denn auf den ersten Blick weicht man auf diese Weise der erforderlichen Entscheidung für eine Rangfolge aus. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass es sich im Fall der im Weißbuch aufgeführten strategischen Prioritäten um weitreichende, aber an Zahl wie Inhalt immer noch begrenzte Bereiche handelt. Es bleibt jedoch immer noch eine Auswahl untereinander gleichrangiger Aspekte.

Jede andere Entscheidung – für weniger Prioritäten oder eine Abstufung zwischen ihnen – wäre angesichts des globalen Horizonts deutscher Sicherheitspolitik und der Unübersichtlichkeit des Sicherheitsumfelds kein pragmatischer Umgang mit den herrschenden Gegebenheiten. Und strategisches Denken und Handeln ist mit den Worten von Colin S. Gray immer noch vor allem „a practical business“.

Das Flexibilitätsgebot schlägt sich folgerichtig auch in der gesamtstaatlichen Anlage des ganzen ersten Teiles, vor allem aber in den nationalen und internationalen Gestaltungsfeldern nieder. Auch das ist neu an diesem Weißbuch und entspricht nebenbei einem modernen Strategieverständnis: Der Gestaltungsanspruch wird konsequent in der gesamten Themenbreite und mit gesamtstaatlichem Blick entwickelt.

Im Sinne einer sicherheitspolitischen „Kupplung“ bieten die Gestaltungsbereiche allen Ressorts die Möglichkeit, mit eigenen Strategien deutsche Sicherheitspolitik auszubuchstabieren. Damit ist der erste Teil weit mehr als nur der Umschlag eines Bedienungshandbuchs für das Instrument Bundeswehr. Das Alte darf hier nicht als Prisma für das Neue verwendet werden: Beim Weißbuch 2016 handelt es sich um ein Bekenntnis zum gesamtstaatlichen Ansatz, wie es kaum klarer hätte ausfallen können. Der Beschluss im Kabinett – nicht die bloße Kenntnisnahme – unterstreicht dies deutlich.

Wer in diesem Zusammenhang nur die „übliche wolkige diplomatische Politik-Prosa“ (Christian Thiels) sieht, der schaut mit einem anderen Blick auf Sinn und Zweck politisch-strategischer Grundlagendokumente. Weder die Details akuten Krisenmanagements noch organisatorische Kästchenkunde sind ihre Domäne. Die großen Linien zu zeichnen und Ideen zu entwickeln, wie die eigenen Interessen verwirklicht werden können – darum geht es. Plausible Strategien tragen auf diese Weise dazu bei, Entscheidungen zu treffen und ­umzusetzen, sie nehmen diese nicht vorweg. Meilensteine eben, keine Endpunkte.

Brigadegeneral Carsten Breuer war bis August 2016 Projektbeauftragter für das Weißbuch 2016 in der Abteilung Politik im Bundesministerium der Verteidigung.

Christoph Schwarz war bis August 2016 Referent in der Projektgruppe Weißbuch 2016 im Bundesministerium der Verteidigung.

Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung der Autoren wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/ Oktober 2016, S. 86-87

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