Marktwirtschaftliche Regulierungsdiktatur
Chinas Finanzsektor zwischen Liberalisierung und staatlicher Kontrolle
Die jüngsten Reformen des chinesischen Finanzmarkts werfen ein neues Licht auf den Wandel des chinesischen Staates und die Absichten der Parteiführung. Die Reformen haben unter anderem das Ziel, Chinas Staatsbanken an die Börse zu bringen. Eine Privatisierung der Wertpapiermärkte ist im strengen Sinne jedoch nicht erfolgt. Entwickelt sich die Volksrepublik China zu einer speziellen Form der Regulierungsdiktatur?
Seit drei Jahrzehnten erlebt die Volksrepublik China einen atemberaubenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Aufschwung. Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) hat auf der Grundlage ihrer leninistischen Organisationsprinzipien China in einen Wachstumsmotor der Weltwirtschaft und Konkurrenten der globalen Supermacht USA verwandelt. Abgesehen von der gewaltsamen Niederschlagung des kurzen demokratischen Frühlings von 1989 meisterte die chinesische Führung diese bemerkenswerte Transformation erstaunlich gut. Die Besonderheiten und Probleme dieser atemberaubenden wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung zeigen sich besonders deutlich in den jüngsten Veränderungen in Chinas Finanzsektor. Sie wecken erhebliche Zweifel an der Stabilität und der Nachhaltigkeit dieser asiatischen Erfolgsgeschichte.
Finanzmärkte fungieren als eine Art „Zentralnervensystem“ (Sebastian Heilmann) moderner Volkswirtschaften. Lange Zeit schreckte die chinesische Führung vor tiefen Einschnitten in diesem sensiblen und ideologisch hochbrisanten Bereich zurück. Nach Beginn der Reformpolitik 1978 wurde der Finanzsektor vor allem dazu benutzt, die gesellschaftlichen Verlierer der neuen Politik zu entschädigen. Den Preis dieser Strategie zahlte die chinesische Führung in Form erheblicher Schieflagen bei Banken und Versicherungen. Der Aufbau einer Finanzmarktpolitik, die sich maßgeblich an internationalen Standards orientiert, wurde erst als Reaktion auf die Asien-Krise 1997/98 in Angriff genommen. Die chinesische Führung erkannte die Bedeutung der Finanzmarktstabilität und die Wichtigkeit eines effizienten Finanzsektors für die Bewahrung ihrer ökonomischen Wachstumsraten. Eine Serie von Reformmaßnahmen verändert seitdem das Gesicht des Finanzsystems und verschärft kurz- bis mittelfristig die latente Instabilität der chinesischen Transformation: Scheitert die Modernisierung des Bankenwesens und Wertpapierhandels, drohen massive Auswirkungen auf die Weltwirtschaft und die internationale Politik.
Chinas Bankensektor: marode Staatsbanken auf dem Weg zum internationalen Börsengang
Im Zentrum des chinesischen Finanzsystems stehen auch 25 Jahre nach Beginn der Wirtschaftsreformen die vier großen staatlichen Geschäftsbanken.1 Ihre Reform wird zu Recht von Analysten in den Kapitalen der politischen und wirtschaftlichen Macht mit Argusaugen verfolgt. Seit 1998 hat die chinesische Führung mehrere Anläufe unternommen, diese – ehedem als Kreditvergabeabteilung des chinesischen Finanzministeriums fungierenden – Geldhäuser zumindest auf der operationalen Ebene in unabhängige, starke und wettbewerbsfähige Marktteilnehmer zu verwandeln. Als wichtiger symbolischer Durchbruch gilt das „Credible Commitment“ der chinesischen Führung von 2001, den Bankensektor schrittweise für ausländische Investoren zu öffnen. Auch ohne einen flächendeckenden Markteintritt ausländischer Banken hat diese öffentliche Verpflichtung einen maßgeblichen Mentalitätswandel in Richtung marktwirtschaftlicher Verhaltensmuster befördert. Bilanzielle Altlasten aus der Zeit der politisch begründeten Kreditvergabe, so genannte „non-perfoming loans“, wurden an speziell hierfür gegründete Vermögensverwaltungsgesellschaften übertragen. Die Eigenkapitalunterlegung der Banken wurde mit massiven Zuschüssen – finanziert aus den stattlichen Devisenreserven der chinesischen Zentralbank – schrittweise angehoben.2 Nach Berechnungen des Economist pumpte die chinesische Führung seit 1998 gut 260 Milliarden Dollar in ihre maroden Geldhäuser.3
Das erklärte Ziel dieses umfassenden Fitnessprogramms ist es, die großen Staatsbanken international an die Börse zu bringen.4 Zu diesem Zwecke durfte in den letzten Monaten eine beträchtliche Anzahl globaler Finanzdienstleister – unter ihnen auch die Deutsche Bank AG – Anteile an chinesischen Banken übernehmen.5 Mit der China Construction Bank gab am 27. Oktober 2005 die erste der großen Staatsbanken ihr Debüt an der Hongkonger Börse. Dies war nicht nur die weltweit größte Erstemission des Jahres 2005, rechnerisch ist die CCB nun auch mehr wert als etwa die Deutsche Bank oder Barclay’s.
Das Engagement der chinesischen Führung bei der Bankenreform erscheint ehrlich und konsistent. Es ist zudem medienwirksam, da es auf eine weltweite Bestätigung des Reformkurses zielt und sich vorgeblich an internationalen Standards orientiert. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass z.B. das Engagement ausländischer Investoren stark reglementiert bleibt: Ein einzelner ausländischer Investor darf maximal 20 Prozent des Eigenkapitals einer chinesischen Bank besitzen, alle ausländischen Investoren zusammen nicht mehr als 25 Prozent. Damit erhalten die ausländischen Institute nur begrenzte Kontrollmöglichkeiten: Meist dürfen sie nur einen einzigen Sitz im Aufsichtsrat einer chinesischen Bank belegen. Unter dem Schutzmantel dieser Politik können die Geldhäuser Know-how und Technologie abschöpfen und sich als international orientierte Bank präsentieren – ohne die bestehenden Kontroll- und Machtstrukturen wesentlich verändern zu müssen. Auch die internationalen Börsengänge erscheinen vor allem als Instrument des Kapitalzuflusses und als PR-Maßnahme, da nur ein Bruchteil der Unternehmensanteile tatsächlich auf den Markt gebracht werden. Bei der CCB waren es gerade einmal ein Fünftel!
Chinas Wertpapiersektor: von der Finanzierung der Staatsunternehmen zum Motor der Unternehmensreform?
Die Eröffnung der Aktienbörsen in Shenzhen und Schanghai 1991 beschleunigte die Verwestlichung der chinesischen Volkswirtschaft: Die Kerninstitu- tionen des Kapitalismus hielten triumphalen Einzug in die nominell sozialistische Wirtschaft. Auch hier ging es primär darum, Staatsunternehmen, oftmals unabhängig von ihrer kommerziellen Tragfähigkeit, Zugang zu Kapital zu verschaffen. Die strenge Segmentierung des Aktienmarkts in Bereiche, die entweder nur Inländern oder nur Ausländern offen standen, und die starke Politisierung des Wertpapierhandels6 verwandelten die Handelsplätze schnell in ein Paradies für Zocker und korrupte Kader. Das grundsätzliche Prinzip des Staatseigentums an den Unternehmen wurde dabei bemerkenswerterweise nicht in Frage gestellt. Unternehmensübernahmen durch den Aufkauf von Aktien waren nicht möglich.7
Die politische Aufarbeitung der Finanzkrise in Südostasien 1997/98 brachte aber auch hier erhebliche Verbesserungen. Zum einen gelang es der Regierung um Zhu Rongji nach 1998, die ideologischen Widerstände innerhalb der Parteispitze gegen einen Ausbau der Wertpapiermärkte zu überwinden, zum anderen forcierte sie den Aufbau einer mächtigen Finanzmarktaufsicht, die der spekulativen Natur des Marktes ein Ende setzen sollte.8 Von mindestens ebenso großer Bedeutung war die Reform der nichthandelbaren Staatsaktien. Im Mai 2005 nahm die chinesische Regierung, nunmehr unter der Führung Wen Jiabaos, einen neuen Anlauf, der zwar ebenfalls mit erheblichen Kurseinbußen und den entsprechenden Protesten der Anleger und Intermediäre einherging, aber von Seiten der Wertpapierregulierer konsequent und zielstrebig durchgeführt wird. Er zielt augenscheinlich darauf, den chinesischen Aktienmarkt von einem seiner problematischsten „chinesischen Charakteristika“ – dem hohen Anteil von nichthandelbaren Aktien im Staatsbesitz – zu befreien.9
Doch auch hier sind Schein und Sein nicht deckungsgleich: Marktteilnehmer weisen in Gesprächen immer wieder darauf hin, dass es letztlich noch völlig offen sei, was tatsächlich mit den nunmehr handelbaren, aber immer noch von staatlicher Seite gehaltenen Aktien geschehen solle. Zu einer durchgehenden Privatisierung, also dem Verkauf dieser Anteile, hat sich die Regierung bislang nicht bekannt.10 Die Rolle des Wertpapiermarkts in der Unternehmensreform und insbesondere ein breiterer Zugang privater Unternehmen zum Wertpapiermarkt bleiben damit fraglich. Diese Unsicherheiten und Defizite in zentralen Reformbereichen werfen auch einen Schatten auf die Rolle der international so positiv aufgenommenen neuen Regulierungsbehörden.
Marktwirtschaftliche Regulierungsagenturen im postleninistischen Staat
Der Wandel des Banken- und Wertpapiermarktes ist eng verbunden mit dem Umbau der chinesischen Finanzmarktregulierung. Hier zeigt sich am deutlichsten, wie Wirtschaftsreformen staatliche Strukturen verändern. Erstaunlich ist nicht nur das hohe Tempo, mit dem sich die chinesische Politik seit der Regierungszeit Zhu Rongjis (1998–2003) auf das westliche Modell der Marktgestaltung durch (offiziell) unabhängige Regulierungsagenturen einließ, sondern auch die Reichweite der Veränderungen. Aus der chinesischen Zentralbank (People’s Bank of China, PBC) wurden schrittweise drei formal unabhängige Regulierungsorganisationen für den Finanzsektor herausgeschnitten und ausgebaut, die von ihrer Struktur und ihren Aufgaben her auf den Bedarf der neu entstehenden Marktsegmente für Banken, Wertpapierhandel und Versicherungen ausgerichtet sind.11 So sehr die neuen Agenturen – die China Securities Regulatory Commission, die China Banking Regulatory Commission und die China Insurance Regulatory Commission – dem Namen und dem Zuschnitt nach amerikanischen Vorbildern ähneln – sie sind klar der Politik und den Zielen der chinesischen Führung untergeordnet. Von einer institutionellen Unabhängigkeit entsprechend westlicher Vorbilder kann keine Rede sein.12 Auch die Zentralbank spielt entgegen ihrer formalen Beschränkung auf Fragen der Geldpolitik weiterhin eine entscheidende Rolle bei den Reformen des Finanzmarktes. Ihr Vorsitzender, Zhou Xiaochuan, gilt als die mächtigste Persönlichkeit des chinesischen Finanzmarktes. Auch hieran zeigt sich, dass informelle Arrangements machtvoll bleiben. Vor allem verdeutlicht aber die Tatsache, dass die Dauerhaftigkeit und Unabhängigkeit der neu geschaffenen Regulierungsagenturen unter dem Vorbehalt der Führung einer leninistischen Partei stehen, die ambivalente Natur dieser Organisationen. Deshalb sollte die teils zugesagte, teils eingeleitete Übernahme globaler Regulierungsinhalte wie der Baseler Eigenkapitalregelungen und der Prinzipien der IOSCO (International Organisation of Securities Regulators) nicht als klares Votum für marktwirtschaftliche Standards aufgefasst werden.
Chinas Finanzmarkt hat sich in den letzten Jahren erheblich gewandelt. Die Organisation der chinesischen Regulierung ähnelt stark westlichen Vorbildern. Global Players der Branche verstärken sukzessive ihre Präsenz auf diesem Zukunftsmarkt. Vordergründig signalisiert diese Entwicklung im Finanzsektor, einem zentralen Feld der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung, eine Anpassung an westliche Vorbilder. Doch bei genauerer Betrachtung zeigen sich eine Reihe wenig erbaulicher Besonderheiten, vor allem in dem brisanten Bereich des Abbaus staatlicher Kontrolle und bei der Unabhängigkeit der Unternehmen und Aufsichtsbehörden. Daher räumen auch die jüngsten Reformen keineswegs alle Zweifel an der künftigen Stabilität des chinesischen Finanzsektors und dem Reformmanagement der Staatsführung aus. Im Gegenteil: Gravierende Interessenkonflikte innerhalb und zwischen den Regulierern und Ministerien, zwischen in- und ausländischen Unternehmen, kleinen und großen Unternehmen und anderen Interessengruppen (wie Kleinanlegern und Konsumenten) bestehen weiterhin. Das Konzept „unabhängiger Regulierer“ zur Schaffung und Pflege „freier Märkte“, im Westen von manchen als Aufstieg des Regulierungsstaates und Gegenmodell einer neoliberalen Deregulierung gepriesen,13 hat im Reich der Mitte nur oberflächlich Fuß gefasst. Mit der Sinisierung moderner Instrumente politischer Marktentwicklung zeichnen sich in der Volksrepublik die Grundzüge einer „Regulierungsdiktatur“ ab, in der alle regulativen und Markt-Akteure nach wie vor dem direkten Zugriff der KPCh unterliegen.
Deshalb sind westliche Beobachter gut beraten, sich nicht von wohlklingenden Namen und Parolen täuschen zu lassen. Die tatsächlichen Entwicklungen im Finanzsektor sind viel zu komplex, um sie auf einen einfachen Nenner zu bringen. Der Finanzsektor zeugt bislang sehr wohl von den erstaunlichen Fähigkeiten der Staatsführung, zwischen Parteidiktatur und marktwirtschaftlichen Reformen zu balancieren. Doch die Substanz der bisherigen Neuerungen reicht nicht aus, um hinsichtlich der Errichtung eines unabhängigen und dauerhaften marktorientierten Regulierungsregimes und starker, unabhängiger kommerzieller Spieler – beides für die Finanzmarktstabilität von zentraler Bedeutung – einen Durchbruch zu feiern. Angesichts dieser Widersprüche dürfte der chinesische Finanzmarkt weiterhin unberechenbar bleiben.
1 Dies sind die Bank of China (BoC), China Construction Bank (CCB), die Industrial and Commercial Bank of China (ICBC) und die Agricultural Bank of China (ABC).
2 Diese Transaktionen wurden über die Schaffung einer neuen staatlichen Organisation, der Central Huijin Investments Ltd., abgewickelt, die jetzt Anteilseigener in diesen Banken ist. Zur wichtigen Rolle des Eigenkapitals vgl. Stephen Harner: Banking Reform: Earthquake!, China Economic Quarterly, Q3, 2004, S.42–48.
3 A great big banking gamble, The Economist, 29.10.2005, S. 77–79.
4 Dies gilt vorerst nicht für die Agricultural Bank of China, deren geschäftliche Lage noch zu schwierig ist.
5 Die Deutsche Bank hat Anteile der Huaxia Bank, einer kleineren chinesischen Geschäftsbank, gekauft. Für die drei großen Staatsbanken sind die ausländischen Investoren: Die Bank of America in der CCB, Singapurs Tamasek, die Asiatische Entwicklungsbank und Royal Bank of Scotland in der BOC, und American Express und die Allianz in der ICBC. Vgl. Caijing Magazine 31.10.2005, S. 60–79.
Internationale Politik 12, Dezember 2005, S. 46 - 51.