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31. Dez. 2003

Machtfaktor China

Die strategischen Ziele der Volksrepublik in Asien

China strebt bessere bilaterale Beziehungen mit allen Nachbarstaaten an und will aktiver an multilateralen
Sicherheits- und Wirtschaftsvereinbarungen teilnehmen. Aber viele Fragen sind noch
offen: Wie wird sich das Verhältnis zu den USA entwickeln, kann das Taiwan-Problem gelöst
werden, welche Rolle spielt Nordkorea, wird Japan Partner oder Konkurrent?

Trotz des Kampfes gegen den Terrorismus und der Entwicklung in Irak bleibt ein Thema auf der internationalen Tagesordnung nach wie vor sehr aktuell: der Aufstieg Chinas zur Weltmacht.

Auch wenn es pessimistische Einschätzungen gibt, die den kommenden Kollaps Chinas vorhersagen,1 sind die meisten Beobachter beeindruckt von Chinas wirtschaftlichen Erfolgen und sozialen Errungenschaften.2 Der Wechel in der Führungsriege 2002/2003 ging ohne Störungen vonstatten. Sowohl der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, Hu Jintao, als auch der neue Ministerpräsident, Wen Jiabao, haben bisher das Bild moderater, vertrauenswürdiger und kompetenter Führungspolitiker vermittelt. Nur wenige Beobachter rechnen für die absehbare Zukunft mit politischen Unruhen in der Volksrepublik. Zumindest in den kommenden Jahren wird es in der Außen- wie in der Innenpolitik Chinas eher Kontinuität als Veränderung geben.

Die internationale Debatte über den Aufstieg Chinas und die damit einhergehenden regionalen und globalen Auswirkungen hat bereits die Aufmerksamkeit der chinesischen Führung erregt. Lob über Chinas Erfolge wird natürlich von der Führung wie auch von den Bürgern gern gehört und bestärkt sie in ihrem Nationalstolz. Offizielle Reden, Berichte und die für die chinesische Bevölkerung gedachte Medienberichterstattung werden mit Beschreibungen von Erfolgsgeschichten überschwemmt, die die Verlässlichkeit der Kommunistischen Partei (KPCh) und die Richtigkeit ihrer Politik beweisen. Sie rufen das chinesische Volk auf, sich zusammenzutun und gemeinsam bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts die „große Wiederbelebung“ der Nation zu verwirklichen, nämlich eine Wohlstandsgesellschaft aufzubauen – ein Ziel, das der 16. Parteitag der KPCh im November 2002 vorgegeben hat.

Auf internationaler Ebene hingegen ist die chinesische Führung in Bezug auf die Propaganda vom Aufstieg oder von einer Wiederbelebung Chinas eher zurückhaltend. Die Chinesen sind sich bewusst, dass die Kluft zwischen China und den entwickelten Ländern, insbesondere den Vereinigten Staaten, immer noch riesig ist – trotz aller Fortschritte, die China im Hinblick auf nationalen Wohlstand, Lebensstandard, Bildung, Wissenschaft und Technologie erreicht hat. Es wird Jahrzehnte dauern, bis China es schaffen wird, mit der westlichen Welt gleichzuziehen; auf dem Weg dahin sind noch gewaltige Hindernisse zu überwinden.

Angesichts der weltweiten Aufmerksamkeit, die Chinas „Aufstieg“  erregt, verfolgt Peking eine Politik der Zurückhaltung. Die chinesische Führung ist sich der ambivalenten Gefühle in den Nachbarstaaten, in den USA und in Europa gegenüber dem Machtzuwachs Chinas durchaus bewusst. Die Chinesen lesen aufmerksam Kommentare über die „chinesische Gefahr“, den „kommenden Kollaps Chinas“ und andere in den internationalen Medien verbreitete Meinungen, haben aber bisher nicht überreagiert. Sie sind zu der Erkenntnis gelangt, dass Übertreibungen bei der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas, von Ausländern oder von Chinesen verkündet, möglicherweise zu Kürzungen der Entwicklungshilfe und zunehmendem Druck auf China, seine Währung neu zu bewerten sowie verstärkt seinen Außenhandelsüberschuss zu nutzen, führen könnten. In den nächsten Jahren wird Peking wahrscheinlich einige Anstrengungen dazu unternehmen, um sein internationales Ansehen zu verbessern, insbesondere in Asien.

Eine neue, auf dem 16. Parteitag bestätigte offizielle Doktrin hat die Gültigkeit einer gemäßigteren Sicht auf Chinas internationale Umgebung bekräftigt. In ihr wird festgestellt, dass China aus der „20 Jahre andauernden Periode strategischer Chancen“ (so der damalige Präsident Jiang Zemin am8. November 2002) Vorteile ziehen sollte, die die Grundlage für eine moderate und pragmatische internationale Strategie bieten, und die von dem Interesse der Parteiführung beeinflusst wird, sich auf innenpolitische Belange zu konzentrieren. Dieser betonte Optimismus beruht auf der Annahme, dass eine strategische Konfrontation zwischen China und den USA oder einer anderen Großmacht vermieden werden kann.

Was bei Chinas Überlegungen über den „Aufstieg Chinas“ fehlt, ist die Erkenntnis, dass eine institutionalisierte regionale oder globale Ordnung vorangebracht werden muss, in der China in Zusammenarbeit mit anderen Großmächten eine Hauptrolle übernimmt, und in der das Land sich zu mehr internationalem Engagement verpflichtet. In einem Bericht an die Trilaterale Kommission im Jahr 2001 heißt es dazu: „Chinas rascher Aufstieg findet in einer regionalen Ordnung statt, der es an fest etablierten, integrierten Institutionen wie die der Europäischen Union mangelt, die dazu beitragen, Vertrauen zu schaffen. Asien hat keine Sicherheitsgemeinschaft im transatlantischen Verständnis von Frieden, in der ein Rückgriff auf Gewalt praktisch unvorstellbar geworden ist.“3

In Chinas Haltung zur NATO können kleinere Veränderungen festgestellt werden, da die chinesische Presse die westliche Allianz nun weniger kritisch betrachtet und das Außenministerium sogar die Möglichkeit untersucht, eine Beziehung zur NATO aufzubauen. Hinzu kommt, dass die Chinesen Interesse gezeigt haben, an den G-8-Treffen teilzunehmen. Dennoch scheinen diese sporadischen Anzeichen nicht auf einen systematischen Ansatz hinauszulaufen, wie die Volksrepublik mit der bestehenden Weltordnung umgehen will, die es als von den USA dominiert betrachtet. Die offiziellen Grundsätze und Ziele chinesischer Außenpolitik bleiben abstrakt: Aufbau einer neuen internationalen politischen und wirtschaftlichen Ordnung, Förderung des Weltfriedens und der gemeinsamen Entwicklung, beschleunigte Multipolarisierung sowie Ablehnung von Hegemonie und Machtpolitik.

Nordkorea

Chinas größtes sicherheitspolitisches Problem in der Region ist die nordkoreanische Nuklearfrage. Das Land kann es sich nicht leisten, keinen Einfluss auf die Ereignisse auf der koreanischen Halbinsel, bei denen ihre vitalen Interessen auf dem Spiel stehen, zu nehmen. Eine schmerzliche historische Erfahrung war, dass der chinesisch-japanische Krieg um Korea im Jahr 1894/95 zur Abtretung von Taiwan an Japan führte und dass der Ausbruch des Korea-Krieges im Jahr 1950 den Chinesen die Fähigkeit nahm, sich Taiwan einzuverleiben, was zu der seither herrschenden Spaltung der Nation geführt hat.

Die derzeitigen Spannungen wegen der Nuklearfrage in Nordkorea haben in Peking für große Aufmerksamkeit gesorgt. Anders als bei früheren Gelegenheiten, als Probleme mit der Demokratischen Volksrepublik Korea in den chinesischen Medien mit großer Diskretion und Sensibilität behandelt wurden, wird die chinesische Öffentlichkeit seit Dezember 2002 mit sehr viel detaillierteren Informationen und Kommentaren versorgt. Einem offiziellen Bericht vom 10. Januar 2003 zufolge hat Präsident Jiang Zemin dem amerikanischen Präsidenten, George W. Bush, gesagt, China habe Nordkoreas Entscheidung, vom Nichtverbreitungsvertrag zurückzutreten, nicht unterstützt. Die Botschaft dieser Aussage war: In diesem bestimmten Fall bestehen zwischen Peking und Washington größere Übereinstimmungen als zwischen Peking und Pjöngjang.

Es ist schwierig, der politischen Elite Chinas eine einfache Erklärung für das koreanische Problem zu bieten. Es gibt mindestens zwei Prioritäten bei Pekings strategischen Zielen im Hinblick auf die koreanische Halbinsel: Erstens liegt ein nuklearwaffenfreies Korea zweifellos in Chinas größtem langfristigen Interesse. Kein anderes Land dürfte strategisch gesehen mehr über nukleare Bedrohungen besorgt sein als China, denn China teilt mittlerweile mit drei Ländern, die über nukleare Arsenale verfügen, eine Grenze – Russland, Indien und Pakistan –, zusätzlich zu den Vereinigten Staaten, die China in der Vergangenheit mit ihrer nuklearen Macht bedroht haben. Eine weitere Atommacht so nah am Zentrum des chinesischen Territoriums würde nicht nur zu einem dauerhaften Problem für Chinas nationale Sicherheit werden, sondern auch Gründe und Vorwände dafür liefern, dass andere regionale Akteure, insbesondere Japan oder sogar Taiwan, Nuklearwaffen entwickeln. Es gibt bereits Berichte über japanische Überlegungen in diese Richtung, die Chinas sensible Interessen berühren. Amerikanische Befürchtungen hinsichtlich einer möglichen Nuklearproliferation durch Nordkorea an Länder oder Terroristengruppen außerhalb der Region sind auch für China nachvollziehbar.

Das Ziel, Nordkorea davon abzuhalten, ein Nuklearpotenzial aufzubauen, ist für Peking ein ausreichender Anreiz zur Zusammenarbeit mit Washington und der internationalen Gemeinschaft, um nach einer tragfähigen Lösung dieses Problems zu suchen. Peking betrachtet dieses Thema nicht als ein bilaterales Problem zwischen den USA und Nordkorea, so als wäre China nur ein Zuschauer. Tatsächlich teilen China und die USA ein starkes und besonderes Interesse, die anderen nordostasiatischen Akteure vom Aufbau nuklearer Kapazitäten abzuhalten. Doch liegt Pekings Zögern, in der Nordkorea-Frage energischer vorzugehen, in den – wie man es dort sieht – Ungewissheiten der amerikanischen strategischen Pläne begründet.

Chinas Einfluss auf Nordkorea ist unbestritten, aber begrenzt. Der zumeist vorgeschlagene Weg, wie China seinen Einfluss geltend machen sollte, ist, dass China wie andere Länder wirtschaftliche Sanktionen verhängen sollte. Auch wenn man Fragen nach der Durchführbarkeit, der Legitimität und der Wünschbarkeit solch eines gemeinsamen Bemühens bei Seite lässt, ist die wahrscheinliche Wirkung von Wirtschaftssanktionen gegen Nordkorea zum jetzigen Zeitpunkt fraglich. Nur in wenigen historischen Fällen wurde unter Beweis gestellt – Kuba, Irak und die Volksrepublik Korea selbst in den fünfziger Jahren sind aber die besten Gegenbeispiele –, dass die wirtschaftliche Bestrafung eines Volkes das Verhalten seiner politischen Führung ändern konnte. Vielleicht könnte Chinas wirtschaftliches Instrumentarium unter bestimmten Umständen eingesetzt werden.

Die zweite, aber vielleicht ebenso wichtige Priorität bei Chinas Strategie ist die Bewahrung von Frieden und Stabilität auf der koreanischen Halbinsel, einschließlich der Stabilität im Norden. Während die Vereinigten Staaten auf jeden Fall eine friedliche Lösung bevorzugen, um der Nuklearfalle zu entkommen, liegen die chinesische und die amerikanische Einschätzung von Nordkoreas innerer Stabilität sehr weit auseinander. Chinesische Wissenschaftler glauben, dass sich ihre Vorhersagen über die Überlebensfähigkeit Nordkoreas in den neunziger Jahren bewahrheitet haben, imGegensatz zu der Voraussage eines unmittelbar bevorstehenden Kollapses, die viele ihrer amerikanischen Kollegen gemacht haben. Auch heute glauben die Chinesen noch daran, dass Nordkorea weiter bestehen wird. Die Chinesen haben, abgesehen von Südkorea, das größte Interesse an der Stabilität des Nordens, nicht wegen seiner ideologischen oder politischen Nähe, sondern wegen der geographischen, demographischen und wirtschaftlichen Realitäten in Chinas Nordosten.

Für Peking wäre ein nukleares Korea eine Katastrophe, aber ein militärischer Konflikt wäre es ebenfalls. Angesichts dieses Dilemmas ist Chinas Spielraum begrenzt, insbesondere wenn sowohl die USA als auch Nordkorea fest bei ihren jeweiligen Positionen bleiben. Da die Regierung von Präsident Bush mit dem Terrorismus und dem Mittleren Osten beschäftigt ist, ist es eher unwahrscheinlich, dass sie auf Nordkoreas Politik entschieden reagiert, und daher können die Nordkoreaner fortfahren, ihre nuklearen Einrichtungen zu reaktivieren und Militärmanöver durchzuführen. Die Dinge können auch noch schlimmer werden, bevor sie besser werden. Es ist höchste Zeit, dass Wege gefunden werden, um die gefährliche Eskalationsspirale aufzuhalten.

Eine dritte Priorität sollte beim Umgang mit dieser Situation beachtet werden: Nordkoreas wirtschaftliche Erholung sollte unterstützt werden. Pjöngjangs „Belagerungsmentalität“ wurde durch die schlechte Wirtschaftslage und die sich vergrößernde Kluft zwischen dem Lebensstandard in Nordkorea und seinen Nachbarn noch verstärkt. China liefert dem Norden jedes Jahr eine beträchtliche Menge an Energie und Lebensmitteln sowie Nothilfe. Auf Grund humanitärer und anderer Erwägungen muss sich die chinesische Regierung auch mit dem Thema der nordkoreanischen Flüchtlinge, die sich in China aufhalten, auseinander setzen.

Rüstung und Rüstungskontrolle

Es gibt eine Anzahl regionaler Rüstungskontrollthemen – wie Amerikas geplantes Raketenabwehrsystem, Japans Absicht, sich daran zu beteiligen, die Nuklearisierung des südasiatischen Kontinents und die zu erwartenden Konsequenzen eines mit Nuklearwaffen ausgerüsteten Nordkoreas – die in den die Verteidigung betreffenden Teil des strategischen Denkens in China einbezogen werden. Eine chinesische Antwort auf diese Entwicklungen ist natürlich, die Modernisierung seiner Streitkräfte fortzusetzen, wenn nicht gar zu beschleunigen. Gleichzeitig könnten verbesserte chinesische Verteidigungsfähigkeiten in einem „Sicherheitsdilemma“ Befürchtungen in der Region schüren. China muss seine regionalen Partner – insbesondere diejenigen, mit denen es territoriale Streitigkeiten hat – noch davon überzeugen, dass mehr militärische Macht auf Seiten Chinas keine Gefahr für sie bedeutet. Schlägt dieser Versuch fehl, könnte dies die regionalen Mächte dazu bringen, sich dem amerikanischen Orbit zu nähern. Der beste Weg, Befürchtungen und Missverständnisse abzubauen, ist erstens, Chinas strategisches Denken und seine Planungs- und Verteidigungsfähigkeiten transparenter zu machen, und zweitens, die regionalen Sicherheitsdialoge zu verstärken.

Ohne Frage sind Chinas strategische Planungs- und Rüstungskontrollmaßnahmen in Bezug auf Asien überwiegend auf die USA ausgerichtet. Einige chinesische Experten haben bereits den Vorschlag gemacht, die Vereinigten Staaten und China sollten einen strategischen Dialog aufnehmen, in dem sie darüber beraten, ob und bis zu welchem Grad die USA China erlauben sollten, durch die Aufstockung seines nuklearen Arsenals um weitere Raketen und Raketensprengköpfe eine verlässliche nukleare Abschreckung aufzubauen. Die Chinesen haben auch den Abzug einiger ihrer Raketen aus der Straße von Taiwan in Erwägung gezogen, als eine Geste, um die Spannungen mit Taiwan und den Vereinigten Staaten abzubauen. Im Gegenzug erhofft sich China von den USA ein gewisses Entgegenkommen, das die Befürchtungen Chinas in Bezug auf Amerikas militärische Kooperation mit Taiwan reduzieren würde. Dennoch gab es auf keine dieser beiden Vorschläge eine nennenswerte oder positive Reaktion von amerikanischer Seite. Wenn diese Fragen jedoch nicht ernsthaft angegangen werden, wäre dies schädlich für die regionale Sicherheit in Asien.

Die Taiwan-Frage

Die Taiwan-Frage kann auf verschiedenen Wegen in Chinas regionale Strategie eingebaut werden. Erstens ist unter vielen Chinesen die Meinung verbreitet, dass eine Wiederbelebung der chinesischen Nation nicht erfolgreich und real sein kann, wenn dem Festland die Wiedervereinigung mit Taiwan nicht gelingt. Chinas regionale Maßnahmen sollten daher diesem nationalen Ziel dienen. Zweitens haben taiwanesische Führungspolitiker keine Mühen gescheut, ihre physische Präsenz in den ostasiatischen Ländern zu verstärken, und ihre Reisen durch Japan und Südostasien könnten in China als ein diplomatisches Versagen der chinesischen Führung angesehen werden. Drittens ist Taiwans Teilnahme an regionalen Organisationen wie der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftskooperation (APEC) für die Chinesen immer unbequem. Hinzukommt, dass zwar viele Programme zur Modernisierung der chinesischen Streitkräfte darauf ausgelegt sind, Taiwan von abenteuerlichen Schritten in Richtung einer völkerrechtlich anerkannten Unabhängigkeit abzuhalten, dass sie jedoch auch unvorteilhaften regionalen Auswirkungen Auftrieb geben. Eine verhärtete Haltung Chinas gegenüber Taiwan würde Chinas Ansehen als einer wohlwollenden Macht, die harmonische Beziehungen mit ihren Nachbarn anstrebt, nicht dienlich sein.

Seit 2001 gibt es zwei subtile Veränderungen an Pekings Konzept der Taiwan-Frage. Erstens ist den Chinesen heute klarer, dass –trotz der deutlichen politischen Unterstützung Taiwans sowie seiner Demokratisierung durch die Vereinigten Staaten – Washingtons Politik gegenüber der Insel nicht darauf angelegt ist, eine De-jure-Unabhängigkeit Taiwans zu fördern oder zu befürworten. Die wiederholten Erklärungen der Regierung von Präsident Bush, dass sie eine Unabhängigkeit Taiwans nicht unterstützt, haben Peking die Sicherheit gegeben, dass die amerikanische Regierung die „rote Linie“ kennt. Die Folge wäre nämlich, dass eine provokative Maßnahme Taiwans, seinen rechtlichen Status zu ändern, eine größere Konfrontation zwischen Peking und Taipeh auslösen würde, der die Vereinigten Staaten in einen ernsthaften Militärkonflikt mit Festland-China hineinziehen könnte. Washington würde daher am liebsten den Status quo der Beziehungen zwischen China und Taiwan beibehalten, also „keine Wiedervereinigung, keine Abtrennung“. Diese neue Auslegung steht im Gegensatz zu der früher in China verbreiteten Wahrnehmung, die amerikanische Strategie im Hinblick auf Taiwan sei darauf ausgelegt, den taiwanesischen Teil von den anderen Teilen Chinas für immer zu trennen, um China in Schach zu halten.

Eine weitere Veränderung der Haltung Pekings beruht auf der Neueinschätzung, dass die Zeit für das Festland arbeitet, da die Wirtschaft dort schneller wächst als in Taiwan, und dass die strategische Machtbalance sich zunehmend zugunsten des Festlands verschiebt. Peking hofft, dass die immer enger werdende sozioökonomische Interdependenz zwischen den beiden Seiten letztlich den Weg für eine politische Integration bereitet. Das seit kurzem verbesserte Vertrauen Chinas ist ein gutes Zeichen für eine anpassungsfähigere und steuerbarere Beziehung zwischen dem Festland und Taiwan und auch für einen Abbau der internationalen Spannungen in Ostasien.

Japan – Konkurrent oder Partner?

Die Beziehungen zu Japan stehen im Mittelpunkt von Chinas regionaler Strategie und verdienen eine besondere Beachtung. Wenn neue Generationen der chinesischen Elite in das politische Zentrum vorrücken, die keine persönlichen Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg haben, wird hoffentlich die historisch belastete Politik gegenüber Japan langsam verschwinden. Trotzdem wird dieser Prozess mehr als ein paar Jahre dauern und sollte dadurch beschleunigt werden, dass die negativen Gefühle in Bezug auf China, die derzeit in Japan zunehmen, abgebaut werden. Die Wahrnehmung Japans in China tendiert dahin, kontrovers zu sein und fügt daher Chinas langfristiger Strategie gegenüber Japan ein weiteres Element der Unsicherheit hinzu. Zur gleichen Zeit gibt es jedoch auch ein enormes Reservoir sowohl an realistischem und vernünftigem Denken als auch an ebensolchen Interessen in beiden Gesellschaften, die produktivere und freundschaftlichere chinesisch-japanische Beziehungen begünstigen.

Zwei Dimensionen der jüngeren Entwicklungen in Ostasien bieten beiden Ländern die Chance, eher bessere Partner zu werden, als auf lange Zeit Konkurrenten zu bleiben. Die erste Dimension bezieht sich auf den kontinuierlichen Impuls durch die wirtschaftliche Kooperation innerhalb der ASEAN+3 (China, Japan und Südkorea). Die Erholung der japanischen Wirtschaft wird paradoxerweise dazu beitragen, eine solidere Grundlage sowohl für die strategische als auch die wirtschaftliche Kooperation zwischen den beiden asiatischen Giganten aufzubauen. Die zweite Dimension ist die Nuklearfrage in Nordkorea. China und Japan haben viele gemeinsame Interessen auf der koreanischen Halbinsel. Beide haben ein großes Interesse daran, die Nuklearisierung Nordkoreas zu verhindern sowie Frieden und Stabilität zu erhalten. Beide würden auch von einer wirtschaftlichen Öffnung Nordkoreas profitieren. Dennoch gibt es wenige Anzeichen dafür, dass diese Chancen ausreichend genutzt wurden. Sowohl Peking als auch Tokio scheinen anderen Fragen mehr Aufmerksamkeit zu widmen, ohne dabei genügend Energie in ihre bilaterale Zusammenarbeit zu stecken.

Chinas Beziehungen mit anderen asiatischen Mächten, die seine Rolle in Asien bestimmen, können mit folgenden Eigenschaften beschrieben werden:

1.verbesserte bilaterale Beziehungen mit allen Nachbarstaaten;

2.aktivere Teilnahme an multilateralen Sicherheits- und Wirtschaftsvereinbarungen und die vorsichtige Einleitung neuer Formen regionaler Wirtschaftskooperation;

3.die ernsthafte Berücksichtigung des Einflusses und der Interessen Amerikas in der Region in Zusammenhang mit Chinas eigenen strategischen Zielen.

Pekings Konzentration auf die innenpolitische Entwicklung, das chinesische Bewusstsein der internationalen Sensibilitäten in Bezug auf den als solchen wahrgenommenen und den wirklichen „Aufstieg“ Chinas sowie der erfolgreiche Pragmatismus bei Chinas internationaler Haltung in der Ära nach dem Kalten Krieg schließen eine über die Maßen bestimmende Haltung Chinas in Bezug auf die Asiatisch-Pazifische Region aus.

Dennoch bleiben einige Fragen im Hinblick auf die zukünftige Rolle Chinas in Asien offen. Erstens, auch wenn die Volksrepublik China zu einem vollständigen regionalen Akteur geworden ist, sind ihre Beziehungen zu den beiden anderen großen Akteuren – den USA und Japan – immer noch im Fluss, und die jüngste Verbesserung ist vielleicht noch nicht unumkehrbar. Zum Zweiten bleibt in Bezug auf die chinesisch-amerikanischen und auf die chinesisch-japanischen Beziehungen das Taiwan-Problem ungelöst, und wie Peking es lösen wird, wird auf die Einschätzung der Volksrepublik durch die anderen asiatischen Länder großen Einfluss haben. Zum Dritten stellt die Beschaffenheit des chinesischen Staatswesen im Vergleich zu den meisten seiner asiatischen Nachbarn immer noch eine Besonderheit dar, denn diese sind im Allgemeinen mit den marktorientierten Reformen in China zufrieden, haben aber Zweifel, was das letztliche Ziel Chinas sein wird. Schließlich ist es eine offene Frage, welche Art von Wertesystem China nun im eigenen Land und international aufrechterhält und welches in Zukunft, wenn seine Macht weiter wächst.

Anmerkungen

1  Vgl. u.a. Gordon G. Chang, The Coming Collapse of China, New York 2002.

2  Vgl. William H. Overholt, The Rise of China, New York 2002.

3  Vgl. Charles E. Morrison (Koordinator für Ostasien und das Internationale System), Report of a Special Study Group, The Trilateral Commission, 2001, S. 9.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2004, S. 59‑66

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