Libyen, Stunde Null
Chaos oder Stabilität? Ein Land auf der Kippe
Moderne Strukturen oder Zerfall? Parteiendemokratie oder Stammesherrschaft? Milizen oder nationale Armee? Islamisierung oder Säkularisierung? Der Neustart in Libyen ist nicht leicht; die Probleme sind vielschichtig und ineinander verschlungen. Doch es gibt Hoffnung, dass der Schritt in einen stabilen freiheitlichen Staat gelingen kann. Trotz allem.
In ihrem früheren Leben war Nagah Boudijaja Sekretärin: „Als dann vor einem Jahr die Revolution losging, habe ich mich den Rebellen angeschlossen“, erzählt die 45-Jährige aus Bengasi. Dass sie in ihrer Jugend in Gaddafis Luftwaffe zur Nahkämpferin ausgebildet wurde, kam ihr dabei zu Gute. Bis heute ist sie Mitglied einer Miliz. „Wir heben Nester von Gaddafi-Anhängern aus, und ich bin für die Festnahme der Frauen zuständig“, sagt die Frau im langen schwarzen Gewand. Sie trägt einen pinkfarbenen Schal über der Schulter. Solange es keine Regierung gebe, die sich um solche Angelegenheiten kümmern könnte, müssten die Bürger eben selber aktiv werden, sagt sie.
Boudijaja erinnert sich gerne an den Anfang des Aufstands, als in nur drei Tagen die Regierungstruppen aus Bengasi vertrieben wurden. Besonders gern erinnert sie sich an den Zusammenhalt: „Es waren schwere Zeiten, aber wir waren vereint. Das, was uns nun bevorsteht, ist auch nicht einfach, und dazu kommen Interessensunterschiede.“ Dennoch sei sie überzeugt, dass Libyen in einigen Jahren ein besseres Land sein werde: „Ich bin nicht nur optimistisch, ich bin sogar sehr optimistisch!“
Wo anfangen?
Der Neuanfang in Libyen ist nicht leicht; die Probleme sind vielschichtig und ineinander verschlungen. Wo also anfangen? Drängend ist die Frage der Sicherheit: Wie lassen sich Kämpfe zwischen Milizen beenden, wenn das Land vor Waffen strotzt? Wie soll man die Milizionäre überzeugen, sich in die nationale Armee einzugliedern, wenn es keine Regierung gibt, die sie kontrollieren kann? Also muss eine Regierung gewählt werden. Doch wie soll man angesichts der bestehenden Sicherheitslage Wahlen abhalten und vor allem: Wen soll man wählen? Parteien waren unter Gaddafi verboten und müssen erst gegründet werden. Die eigentliche Macht liegt bei den Stammesführern und den übergelaufenen Vertretern des alten Regimes. Ohne Wahlen gibt es keine Verfassung, und so bleibt die Frage ungeklärt, wie die Macht im Land verteilt werden soll. Drängend ist auch der Ruf nach Institutionen. Die Besonderheit von Gaddafis Regierung war, dass es wenig „Unterbau“ gab. Die Ministerien hatte er reduziert, und die wenigen Institutionen, die es gab, haben den Sturz der Regierung zum Teil nicht gut überstanden. Also muss das Land bei Null anfangen.
Das hat auch Vorteile, so sehen es zumindest die Aktivisten des demokratischen Aufbruchs aus dem Nachbarland Ägypten. Dort haben sie mit den alten Garden zu kämpfen, die in den Institutionen festsitzen und den Neuanfang behindern. Dieses Problem gibt es in Libyen auch, aber in weit geringerem Ausmaß. Allerdings melden sich die ins Ausland geflohenen Gaddafi-Anhänger immer wieder zu Wort, drohen mit Gewalt. Die Übergangsregierung fordert ihre Auslieferung. Doch was ist dann? Welcher Richter soll einen Prozess gegen sie führen? Nach welchem Recht?
Die Sintan-Milizen trauen der Regierung jedenfalls nicht zu, einen ordentlichen Prozess zu führen und deswegen wollen sie ihren Gefangenen, den Gaddafi-Sohn Saif al-Islam, nicht herausgeben. Dabei geht es aber nicht nur um Gerechtigkeit. Die Sintanis sehen in ihrem Gefangenen ebenso wie im Flughafen von Tripolis, den sie erobert haben und jetzt verwalten, ein Faustpfand, das sie bei Gelegenheit gegen etwas Besseres eintauschen wollen – zum Beispiel ein Stück Macht.
Klar ist, dass es in Libyen viele Fronten und Konfliktlinien gibt. Oft wird in den Medien von einer Auseinandersetzung zwischen den Revolutionsanhängern und den Getreuen der alten Regierung gesprochen. Tatsächlich haben sich diese beiden Gruppen in den vergangenen Monaten immer wieder Feuergefechte geliefert. Doch diese Einteilung taugt ebenso wenig wie die oft erwähnte Polarisierung zwischen Islamisierung und Säkularisierung, um zu verstehen, in welche Richtung Libyen sich entwickeln könnte. Eher schon scheint es angebracht, die Analyse auf die Pole „Institutionenbau, Ordnung, moderne Strukturen“ einerseits und „Chaos, Zerfall, Gewalt“ andererseits zu fokussieren.
Moderne Strukturen oder Zerfall
Föderalismus oder Zerfall: Es waren die Bewohner Bengasis, die vor einem guten Jahr die Revolution gegen Langzeitdiktator Muammar al-Gaddafi begannen. Sie zahlten einen hohen Preis: Wofür? Früher wie heute werden die Geschicke des Landes in Tripolis entschieden und Bengasi hat wenig zu melden. Damit das nicht so weitergeht, wurde kürzlich die autonome Provinz Barqa ausgerufen. Barqa ist ein anderer Name für Cyrenaika; die Region umfasst ganz Ostlibyen. In Zukunft will Ostlibyen seine inneren Angelegenheiten selbst regeln. Nur in der Außen- und Verteidigungspolitik soll Tripolis weiter den Ton angeben. Zum Vorsitzenden des Rates von Barqa wurde Ahmed al-Zubair al-Senussi gewählt. Der 79-jährige Großneffe des letzten libyschen Königs hat 31 Jahre im Gefängnis und anschließend ein Jahrzehnt unter Hausarrest verbracht. Als die Revolution begann, gehörte er zu den Gründern des Übergangsrats, entwickelte sich aber schnell zu dessen Kritiker.
Der Rat höre nicht auf die Menschen, sagte er in einem Interview. Zudem sei Transparenz gefragt. „Die Leute wollen wissen, wohin die Öleinnahmen fließen“, sagt Senussi. Die Ostprovinzen sind besonders ölreich, und die Ostlibyer wollen in Zukunft mehr Mitsprache, wofür dieses Geld ausgegeben wird. „Der Zentralismus ist ein Erbe der Gaddafi-Zeit, das schwer zu überwinden ist. Wir sind alle Kinder eines Landes und wollen uns nicht trennen lassen. Deswegen ist es wichtig, jetzt eine gerechte Regierung zu bilden“, so Senussi.
Die Gründer des Rates der autonomen Provinz streben nach eigenen Angaben keine Abspaltung an. Mustapha Abdel Dschalil, Chef des Übergangsrats, nahm die Autonomie-Erklärung nicht gut auf. Falls sich die Provinz ganz abspalten sollte, drohte er mit Krieg. Tatsächlich kann die Erklärung von Bengasi zum Bürgerkrieg führen; insbesondere weil es um die Verteilung der Öleinnahmen geht. Erhöht wird das Risiko dadurch, dass Milizen versuchen, ihre Macht auszudehnen. Auch die Anhänger des alten Regimes mischen mit, die – so heißt es – manche Stämme anstacheln, sich gegen die Zentralmacht aufzulehnen. Indem sie ein möglichst großes Chaos anrichten, wollen sie verhindern, dass ein funktionierendes Justizsystem entsteht und Nachforschungen nach ihren Auslandsvermögen angestellt werden.
Andererseits liegt in der Dezentralisierung tatsächlich eine Chance. Bisher gab es in Libyen kein direkt gewähltes Parlament. Dafür aber lokale Strukturen. In den Basis-Volkskongressen wurden manche lokale Belange unter Beteiligung der Bevölkerung entschieden. Zudem entstanden während der Revolution vielerorts Bürgerkomitees. Sie kümmerten sich um den Schutz der Stadtviertel und auch um die Versorgung der Bevölkerung. Manche dieser Komitees formten dann auch Milizen. Schnell wurden Lokalräte gebildet, die von Vertretern beider Gruppen sowie Stammesführern und angesehenen Bürgern besetzt wurden. In Misrata wurde bereits Ende Februar gewählt; in anderen Städten sind Wahlen geplant. Die Lokalräte sollen darüber legitimiert und gestärkt werden, und viele Libyer sehen im Aufbau der Strukturen von unten nach oben den richtigen Weg. Zumindest solange die Parteiengründung noch in den Anfängen steckt. Es gibt solche Überlegungen, doch sind sie noch ziemlich unkonkret.
Die Stämme bei der Stange halten
Mitte Februar in einem feinen Hotel in Tripolis: Die Demokratische Partei der Mitte wird feierlich gegründet. Sie ist ein Zusammenschluss von sieben kleinen Parteien. Aufbau eines demokratischen Systems, Wirtschaftsförderung und Gerechtigkeit lauten die wichtigsten Punkte aus dem Parteiprogramm: Allgemeinplätze. Die Partei ist nur eine von mehreren Dutzend, die in den vergangenen Monaten in Libyen gegründet wurden. Auch die Muslimbruderschaft hat sich mit der „Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei“ einen politischen Arm gegeben. Die Bruderschaft war seit ihrer Gründung 1949 stets im Untergrund tätig: „Wir haben den Armen in den Stadtteilen geholfen, wo wir konnten und natürlich wussten sie, dass wir Muslimbrüder sind“, erzählt Saad al-Ghazwi. Er stieß in den siebziger Jahren als Student zur Bruderschaft und hat wegen seiner Mitgliedschaft mehrfach im Gefängnis gesessen. Beim Neuaufbau geben freilich die aus dem Exil zurückgekehrten Brüder den Ton an.
Tatsächlich sind alle Parteien noch in der Findungsphase. Gewählt werden sollen zunächst eine Verfassungsversammlung und ein Parlament, das dann den Übergangsrat ablöst. Die ersten Wahlen sollten ursprünglich im Mai oder Juni stattfinden; ob der Termin gehalten werden kann, ist jedoch unklar. „Unser politisches System ist noch unreif und die Parteien sind noch nicht geeignet, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu repräsentieren“, erklärt Mussa al-Koni. Er war bis zur Revolution Botschafter Libyens in Mali. Heute sitzt er im Übergangsrat. Er schlägt deshalb vor, auf Stammesstrukturen zurückzugreifen. „Im Gegensatz zu den Parteien repräsentieren die Stämme tatsächlich weite Teile der Bevölkerung, und die Stammesführer haben Erfahrung in der Lösung von Problemen. Man sollte auf dieses Potenzial nicht verzichten“, sagt er.
Aber werden sich moderne politische Strukturen im Schatten einer Stammeskultur überhaupt entwickeln? Wie handlungsfähig ist eine Regierung, die ständig auf die Einzelinteressen der Stämme eingehen muss, um sie bei der Stange zu halten? Haben die Stammesführer wirklich das Wohl des ganzen Landes als höchste Priorität und ist ihnen nicht in letzter Konsequenz ihr eigener Stamm doch das Wichtigste?
Milizen oder nationale Armee
Am Stadtrand von Tripolis, auf dem Gelände eines Militärflughafens, residiert der Militärgouverneur von Tripolis: Scheich Abdel Hakim Ben Hadj. Seine Organisation stand früher auf einer US-Terrorliste. Während des Krieges gegen Gaddafi knüpfte er Kontakte zur NATO und wurde schließlich als Befreier von Tripolis gefeiert. Mehrfach hat er sich in den vergangenen Wochen dafür ausgesprochen, libysche Milizionäre nach Syrien zu schicken, um dort den Kampf gegen Baschar al-Assad zu unterstützen. Man munkelt, dass schon Einheiten unterwegs seien. Auch so lässt sich das Milizenproblem lösen: Kann man sie nicht entwaffnen, verschickt man sie.
„Nein, wir haben damit nichts zu tun“, widerspricht Moussa Omran, Mitarbeiter des Militärkommandeurs. Auch er hat mit den Rebellen gegen Gaddafi gekämpft, allerdings hat er sich den Bart abrasiert und die Kampfuniform gegen einen grauen Anzug getauscht: „Wir befinden uns in der Übergangsphase von der Revolution zum Staat. So Gott will, wird es gelingen“, sagt er und erklärt, welche Gruppierungen in Libyens Hauptstadt für Sicherheit sorgen. Da die neue Polizei und die Armee noch schwach sind, sind Milizen die wichtigsten Ordnungshüter. Zum Teil handelt es sich dabei um Stadtteilbrigaden. Entstanden im Kampf gegen Gaddafi, haben sich die meisten dem Militärkommandeur unterstellt. Eine wichtige Rolle spielen auch Milizen von außerhalb; ganz besonders präsent sind die Kämpfer aus Misrata und Sintan. Die lassen sich allerdings ungern Befehle geben.
„Trotz allem ist Tripolis ein vergleichsweise sicherer Ort. Bei uns passieren weniger Verbrechen als in den meisten anderen Städten der Welt“, sagt Omran. Zwischen den Milizen komme es zwar zu Scharmützeln, der große Knall sei jedoch bisher ausgeblieben. Als Erklärung bemüht er das Beispiel des Kalten Krieges. Gegenseitige Abschreckung verhindere den Bürgerkrieg. Die Eingliederung der Milizen in Polizei und Armee ist die dringendste Aufgabe der Übergangsregierung. In einem Interview mit der Tageszeitung Al Hayat nannte der Oberkommandierende der Streitkräfte Joussef Ahmad al-Mankoush die Aufnahme von 250 000 ehemaligen Rebellen als Ziel. „Ein Grund, weshalb die Rebellen zögern, ihre Waffen abzugeben, ist, dass sie den neuen Institutionen noch nicht trauen“, so Ahmed al-Zubair al-Senussi, der weise alte Herr aus Bengasi. Um das Vertrauen zu gewinnen, muss eine Form des Umgangs mit den ehemaligen Soldaten von Gaddafis Armee gefunden werden. Dazu werden funktionierende Gerichte benötigt, die überprüfen, wer Kriegsverbrechen begangen hat und wer unschuldig ist.
Gerechtigkeit oder Rache
Dies ist wohl das schwierigste Thema, vor dem Libyen steht. In den 42 Jahren der Diktatur und besonders im Krieg 2011 wurden in Libyen schwerste Verbrechen begangen. Systematisch wurden Frauen vergewaltigt und Menschen gefoltert. Oft genug steckten Gaddafis Soldaten Gefangene einfach in Container, um sie ersticken zu lassen. Besonders gelitten haben die Menschen in Misrata. Ausgerechnet von hier gibt es aber auch 2012 wieder erschreckende Meldungen. Im Januar stellten die „Ärzte ohne Grenzen“ ihre Arbeit im Militärgefängnis von Misrata aus Protest gegen die schwere Folter ein. Die meisten Gefangenen hier sind Soldaten der Armee Gaddafis, die von der Misrata-Miliz gefangengenommen wurden. „Für uns war es natürlich schlecht, dass sich die Ärzte zurückgezogen haben“, sagt Fathi Dars, der Direktor des Gefängnisses: „Doch ich persönlich begrüße die Entscheidung, denn nur durch internationalen Druck wird das Foltern aufhören“, sagt er. Nicht einmal als Gefängnisdirektor könne er verhindern, dass seine Gefangenen misshandelt würden, denn die Misshandlungen geschähen bei Verhören außerhalb des Gefängnisses.
Ibrahim Bat al-Maal, der zuständige Chef der Verhörzentrale, will von den Foltervorwürfen nichts hören: „Wir haben es hier mit schwersten Verbrechen zu tun, doch wir beachten die Menschenrechte“, sagt er. Hinter ihm an der Wand seines Büros hängt ein Bild seines Sohnes. Er wurde beim Kampf um Misrata getötet. Natürlich ist er voller Hass. Was fehlt, ist eine funktionierende Justiz, die sich der Fälle annimmt. „Dazu benötigen wir dringend ein Übergangsrecht. Dabei geht es um die gerechte Bestrafung, es geht jedoch auch darum, Mechanismen zu finden, Opfer und Täter zu versöhnen“, so Elhadi al-Gheriani. Er ist Berater des Übergangspremiers. Hierbei geht es nicht nur um die Verbrechen, sondern auch um Besitzfragen, Aufarbeitung der Diktatur. So kommt es immer wieder zu Kämpfen zwischen Dörfern. Oft geht es dabei um alte Rechnungen: „Hier setzen wir auf Akteure der Zivilgesellschaft und traditionelle Strukturen. In vielen Fällen konnten Kompromisse ausgehandelt werden“, so Gheriani.
Kleine, muntere Zivilgesellschaft
Im vergangenen Jahr wurde nicht nur gekämpft, es ist auch eine kleine, aber muntere Zivilgesellschaft entstanden. „Wir haben Frauenorganisationen, Menschenrechtsvereine und sogar einen Tierschutzbund. Das muss man sich mal vorstellen. Ein libyscher Tierschutzbund. Ist das nicht toll?“, sagt Fatma al-Ghandor. Sie ist Journalistin, Frauenrechtlerin, Uni-Dozentin und hat jahrelang fürs Radio gearbeitet. „Gerade im staatlichen Rundfunk sind die alten Kader noch stark. Sie verhalten sich zumeist unauffällig, aber die Netzwerke leben und mir haben sie das Leben schwer gemacht“, erzählt sie. So wurden ihre vorab aufgezeichneten Sendungen einfach gelöscht, bevor sie ausgestrahlt werden konnten. Die Reform der staatlichen Medien, einer wahren Festung des alten Regimes, ist schwierig. Dafür entstehen zahlreiche neue Medien. 120 Zeitungen wurden im vergangenen Jahr gegründet. „Viele Menschen haben das Bedürfnis, ihre Meinung zu sagen, und die Debatten tun Libyen gut“, erklärt Ahmed al-Situri. Er ist nicht nur Chefredakteur einer neuen Kulturzeitschrift, sondern auch Gründer des neuen Journalistenverbands.
Eine große Rolle spielt auch die Jugend des Landes. Sie hatte die Revolution losgetreten, drohte aber bei der Verteilung der Macht auf der Strecke zu bleiben. Mit Protesten und Politaktionen sowie einem Zeltlager in Tripolis, das sie im Dezember errichtet haben, bemühen sich die Jugendlichen um Einfluss. Sie wollen die alten Garden aus den Institutionen verdrängen und verlangen härteres Vorgehen gegen sie. Die Zivilgesellschaft ist etwas Neues in Libyen, sie steht noch am Anfang, hat aber Potenzial.
Islamisierung oder Säkularisierung
Absehbar ist, dass der Islam eine größere Rolle spielen wird als bisher. Für viele Libyer war der Sturz Gaddafis auch eine Befreiung in religiöser Hinsicht. Schließlich hatte er die Religion für seine Zwecke missbraucht, sich zu einem Religionsdeuter aufgeschwungen und etwa die islamische Zeitrechnung verändert. Zugleich ging er hart gegen die islamische Opposition vor. Viele Libyer wünschen sich einen gläubigen Präsidenten. Schon allein, weil ein gottesfürchtiger Politiker vor Korruption und Vetternwirtschaft zurückschrecken würde. Soweit der Konsens. Doch welche Lesart des Islam soll den Ton angeben? Wie werden Freiheit und Minderheitenrechte garantiert?
Auch in Glaubensfragen ist Libyen im Umbruch, schon rein äußerlich. So ist das Land im vergangenen Jahr sehr viel bärtiger geworden. Doch Bart ist nicht gleich Bart. Zum einen gibt es den Rebellenbart. Er gehört zum Outfit der Milizionäre. Der Kampf hat die Menschen religiöser gemacht. Dabei spielten die Opposition zu Gaddafi, die Kampfsituation und die Unterstützung aus dem islamischen Ausland eine Rolle. Es gibt allerdings auch immer mehr zivile Bartträger. Sie tragen nicht Khaki, sondern wadenlange Salafistengewänder. Oft handelt es sich um Libyer, die aus dem Exil am Golf zurückkehren, und um Bekehrer aus anderen arabischen Ländern. Libyen auf den rechten islamischen Weg zu bringen, gilt ihnen als Glaubenspflicht.
„Ich komme immer mehr zum Schluss, dass die Frage nach dem Islam ein echter Nebenschauplatz ist“, sagt Elhadi al-Gheriani, der Berater des Premierministers. Es sei klar, dass der Islam in Libyen eine große Rolle spiele und spielen werde. Auch wenn es um die Lösung von Problemen gehe, greife er auf seinen Glauben und auf islamische Instrumente etwa in der Vermittlung zwischen zerstrittenen Parteien zurück. „Wir leben den Islam sowieso, und die Frage, wie wir ihn in der Verfassung verankern, ist eine eher nebensächliche. Statt uns darüber zu streiten, sollten wir uns lieber um dringendere Fragen kümmern und die Probleme anpacken“, sagt er.
Libyen steht auf der Kippe: Neuanfang und Stabilität oder Zerfall und Chaos. Noch ist die Entscheidung nicht gefallen. Klar ist, dass der Weg zu einem demokratischen Staat mit funktionierenden Institutionen noch weit und überaus holprig ist. Klar ist aber auch, dass im vergangenen Jahr nicht nur gekämpft und zerstört wurde; es ist auch viel Neues entstanden. Was Hoffnung macht, dass der Schritt in eine friedliche Zukunft gelingen kann, sind der Mut und der Optimismus der Menschen.
JULIA GERLACH arbeitet als Korrespondentin in Kairo. 2011 erschien ihr zweites Buch „Wir wollen Freiheit – der Aufstand der arabischen Jugend“.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2012, S. 89-95